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Olli saß am Strand und warf neues Holz auf das Feuer. Er nahm noch einen tiefen Schluck aus der Flasche. Langsam beruhigten sich seine Nerven wieder. Der Tag war ein echter Albtraum gewesen. Stundenlang hatten sie ihn verhört. Zwischendurch hatte er das Gefühl gehabt, in einem amerikanischen Gangsterfilm die Hauptrolle zu spielen. Doch das alles war Wirklichkeit. Die Bullen hatten mit ihm Katz und Maus gespielt. Ihm waren mehr Fragen gestellt worden als jemals zuvor in seinem Leben. Sie hatten ihn gezwungen, sich an jede Kleinigkeit zu erinnern. Das Schlimmste war, dass sie auch alles über Fenja wissen wollten. Nach all den Jahren interessierte die Polizei plötzlich, wie ihr Verhältnis zueinander gewesen war. Zumindest hatten sie ihn erst mal laufen lassen müssen, aber die Kripo hatte jetzt seine Fingerabdrücke und sogar seine DNA. Sie wollten beweisen, dass er gelogen hatte. Dass er kurz vor Sarahs Tod noch mit ihr geschlafen hatte. Aber das hatte er nicht. Da war er sich sicher, auch wenn er ziemlich besoffen gewesen war an diesem Abend. Aber zu wem war Sarah dann in die Kiste gestiegen? Olli schloss die Augen. Warum stellte er sich so eine Frage? Er wusste es doch sowieso. Am Ende gewann immer Ben. Olli setzte die Jack-Daniels-Flasche noch mal an. Er sollte nach Hamburg gehen. Das Leben musste weitergehen. Niemand hätte ihm das glaubwürdiger vermitteln können als Tobias. Er war schließlich der Meister im Weitermachen. Ja, er würde seine Zelte hier abbrechen. Fenja war tot. Sie würde nie zurückkommen. Sie war schon lange Fischfutter. Sie würde nicht plötzlich vor seiner Tür stehen. Es war endlich vorbei. Olli warf gerade noch ein paar Äste auf das Feuer, als Sophie plötzlich vor ihm stand.
»Olli?«, fragte sie überrascht.
»Ja, Olli!«, antwortete er gereizt. »Hast du jemand anders erwartet?«
»Ich dachte, Ben würde hier Feuer machen.« Sophie lächelte ihn an und schlug die Arme um ihren Körper. »Na egal, ich freu mich dich zu sehen. Wie war Hamburg?«
»Bewölkt.«
Sophie starrte ihn verwirrt an. »Was ist denn mit dir los?«
»Mit mir? Gar nichts! Was soll denn schon groß los sein? Die Bullen haben mich ein bisschen fertiggemacht. Das ist alles!« Er funkelte sie böse an. »Aber das weißt du sicher längst. Du lebst doch mit diesem Supercop unter einem Dach. Du hast hier doch nur einen auf Kiterbraut gemacht, um uns zu beobachten und uns auszuhorchen.«
Sophie starrte ihn fassungslos an. Vielleicht hatte sie tatsächlich keine Ahnung, überlegte Olli. Sie sah schlimm aus mit diesem blutunterlaufenen Auge, und der weiße Verband leuchtete dramatisch im Flammenlicht. Sie musste ganz schön was abgekriegt haben. Aber was schlich sie auch nachts durch die Gegend? »Weiß Ben eigentlich, dass er einen Polizeispitzel vögelt?«, fragte er übertrieben höflich. »Na, ist ihm wahrscheinlich sowieso egal. Er vögelt doch alles.«
Sophies Miene verdunkelte sich. »Das reicht jetzt! Bist du nur besoffen oder dabei, den Verstand zu verlieren?«
Olli lachte dreckig. »Nicht böse werden. So ist das nun mal. Ben hat doch nicht mal Skrupel, meine Freundin zu bumsen. Oder Exfreundin. Ist ja auch egal. Sarah war nach Fenja die Erste, die ich geliebt habe. Und er wusste das.«
»Fenja?«
»Ja! Und er hat sie mir weggenommen!« Olli atmete tief durch. Er musste sich zusammenreißen. Seine Stimme klang wie die eines weinerlichen kleinen Jungen. »Dich wird er auch kaputt machen!«
»Und darüber warst du so sauer, dass du sie getötet hast?« Sophies Stimme zitterte. »Nach dem Motto, wenn ich sie nicht kriege, soll sie keiner haben?«
Olli sprang blitzschnell auf und packte ihren Arm. »Jetzt hör mal zu! An deiner Stelle würde ich mit der Schnüffelei aufhören! Nicht, dass dir auch noch was passiert.«
Sophie riss sich los. »Willst du mir etwa drohen?«
Olli legte den Kopf schief und lächelte. »Nein, nur ein bisschen Angst machen. Ach, wo ist denn eigentlich Pelle?«
Sophie starrte Olli an. Ihr kroch eine Grabeskälte durch den Körper. Olli stand da und lachte leise. Er musste wahnsinnig geworden sein. Ihr wurde übel. Sie musste weg. Sophie stolperte rückwärts. Reiß dich zusammen, befahl sie sich, und lauf! Olli machte einen Schritt auf sie zu. Adrenalin schoss durch jede Zelle ihres Körpers. Endlich gehorchten ihre Beine wieder und sie rannte. Sie konnte sein höhnisches Lachen noch immer hören. Sophie lief schneller. Ob Olli ihr folgte? Sie traute sich nicht, sich umzusehen. Die Naht der Platzwunde pochte. Sophie war sich sicher, dass sie reißen würde. Aber was konnte sie tun? Sie musste einfach weiterrennen, bis sie bei Ben war. Er würde sie beschützen. Sie wurde innerlich etwas ruhiger, doch sie lief weiter, so schnell es in ihrem angeschlagenen Zustand eben ging. Fenja! Alles drehte sich um das Mädchen, das vor 16 Jahren gestorben war. Olli hatte Fenja geliebt und sie war ertrunken. Anscheinend war er nie darüber hinweggekommen. Was hatte Olli damit gemeint, dass Ben sie ihm weggenommen hatte? Fenja ... Fenja ... Fenja? Hatte Ben sich auch damals an Ollis Freundin herangemacht? Nur noch ein paar Meter, dann war sie fast auf dem Parkplatz. Panik kroch in ihr hoch. Olli wusste von Sarah und Ben. Musste Sarah deshalb sterben? Weil Olli sich nach all den Jahren rächen wollte? Und sollte sie jetzt die Nächste sein, weil Ben in sie verliebt war? Das Ganze war ein persönlicher Rachefeldzug. Und Olli war noch nicht am Ende. Aber was war mit den anderen beiden Mädchen? Ben war ein sehr attraktiver Mann. Und Sophie wusste, dass er kein Kind von Traurigkeit war. Hatte Ben doch was mit Clara und dieser Sandra gehabt? Oder waren das nur Fantasien? Sophie versuchte, sich zu beruhigen. Sie musste Stefan anrufen und ihm die Situation erklären. Nein! Sie schluchzte laut auf. Ihr Handy lag bei Tina. Heiße Tränen liefen ihr über das Gesicht und ihre Lungen brannten. Sie musste sich konzentrieren, aber diese Kopfschmerzen machten sie verrückt. Olli war in St. Peter-Ording gewesen. Ein gutes Alibi. Aber schließlich war es von dort keine Weltreise nach Fehmarn. Was, wenn die ganze Geschichte mit dem Freund erfunden war. Sie musste unbedingt die Polizei verständigen. Sophie hatte noch nie so entsetzliche Angst gehabt. Das Bistro! Es brannte noch Licht. Sie konnte von dort telefonieren. Und dann würde sie Stefan alles sagen, schwor sie sich. Auch das von Ben und Sarah und dem Dna-Test. Mit letzter Kraft erreichte sie die Eingangstür.