31

Es ist fast zehn Uhr, als Ben ins Motelzimmer zurückkehrt. Du sitzt auf dem Balkon über dem Pool, das Abendessen, bestehend aus abgepackten Sandwiches und Chips, auf dem Tisch vor dir ausgebreitet. Die Flasche Cola hast du auf zwei Gläser aus dem Motel verteilt.

Ben betrachtet die beiden nebeneinanderstehenden Doppelbetten und grinst: »Gut, dass wir zwei Betten haben. Ich habe schon befürchtet, du würdest versuchen, mich auszunutzen.«

»Jetzt hast du mir meinen schönen Plan verdorben.« Du lachst ihn an. »Was hat der Typ an der Rezeption gesagt? Wusste er etwas?«

Ben setzt sich dir gegenüber und nimmt einen Schluck Cola.

»Er sagte, dass der Brautladen schon vor mindestens fünf Jahren dichtgemacht hat. Die Werbung, die wir gesehen haben, muss schon ziemlich alt sein.«

»Dann gibt es also keine Möglichkeit, das Haus zu finden«, stellst du fest. »Die Reklametafel gibt es nicht.«

»Nicht mehr …«

»Ich habe also wahrscheinlich einen jüngeren Bruder … Und vielleicht habe ich von diesem Kerl Alkohol gekauft. Wahrscheinlich haben sie mich hier gefunden, wer auch immer sie sein mögen. Und wie bringt uns das weiter?«

Du siehst Ben nicht an, sondern starrst auf den winzigen, nierenförmigen Pool. Die meisten Liegestühle sind zerbrochen, eine der Außenwände ist mit Isolierband geklebt worden. In den Gängen riecht es nach Zigarettenrauch, die Teppiche sind schmutzig. Irgendwie scheinen die Stadt und dieses Motel wenig zu bieten zu haben.

»Vielleicht kommen noch weitere Erinnerungen zurück. Vielleicht ist das nur eine Frage der Zeit.«

»Vielleicht …«, sagst du, doch es fällt dir schwer, nicht den Mut zu verlieren. Du hast das Haus so deutlich gesehen, es war so lebendig. Wie konntest du ihm so nahe sein und keine Möglichkeit haben, es zu finden? Durch wie viele Straßen seid ihr heute Abend gefahren und habt danach gesucht, in der Hoffnung, dass du irgendetwas wiedererkennst? Ist dein Bruder noch hier irgendwo und sucht nach dir oder wartet darauf, dass du zurückkommst?

»Du musstest hierherkommen«, stellt Ben fest. »Wenn du es nicht getan hättest, würdest du dich immer fragen, was es hätte bringen können.«

»Und das ist alles, was ich bekomme? Eine flüchtige Erinnerung, einen Spitznamen, von dem ich nicht weiß, wo er herkommt? Und wenn das alles ist, was ich je bekommen werde …?«

»Vielleicht ist das gar nicht so schlecht …«

»Wie meinst du das?«

Ben stützt das Kinn in die Hand. Er macht den Mund auf, doch dann schaut er dich nur an, als grübele er darüber nach, was er sagen soll.

»Ich weiß nicht recht«, beginnt er. »Es ist nur … Es gab schon Dinge, die ich gerne vergessen würde. Beschissene Dinge, bei denen es leichter wäre weiterzumachen, wenn ich nicht mehr daran denken müsste. Und es gibt Leute, die ich gerne vergessen würde. Vielleicht … egal, was passiert ist und wie schlimm es war … vielleicht ist das deine Chance.«

»Meine Chance, jemand anderes zu sein?«

»Ja«, antwortet er. »Zu sein, wer du willst.«

Du denkst an die Liste aus dem Notizbuch. Jedes Mal, wenn du darüber nachdenkst, was du über dich selbst weißt, kommst du zu dem gleichen Schluss: Du warst eine Ausreißerin. Du warst mehrmals in der Jugendstrafanstalt. Du weißt, wie man kriminelle Dinge tut und wie man Menschen verletzen kann. Der Junge aus deinen Träumen ist der einzige, dem etwas an dir zu liegen schien, und du bist dir nicht einmal sicher, ob er real ist.

»Deine Chance auf einen Neuanfang.« Ben sieht zu Boden und spricht leise weiter. »Ich schätze, dass du das irgendwie für mich gewesen bist. Ich habe das Gefühl, dass jetzt alles anders ist – neu. Ich meine, nach dem Tod meines Vaters und der Geschichte mit meiner Mutter fühlte ich mich irgendwie am Ende, als säße ich in der Falle. Nichts schien eine Rolle zu spielen, nichts, was ich tat, konnte etwas ändern, verstehst du? Aber jetzt … nachdem ich dich getroffen habe … und gesehen habe, wie du mit all diesen Dingen fertigwirst … da fühle ich mich besser. Als ob ich nicht nur herumsitzen und das Geschehene akzeptieren muss. Vielleicht kann ich die Dinge ja so gestalten, wie ich sie will, und der Mensch sein, der ich sein möchte.«

Ihr seht euch an und müsst beide lächeln. Deine Wangen brennen wie Feuer. Bevor du überlegen kannst, stehst du auf, gehst zu ihm und stellst dich so dicht vor ihn, dass sich eure Knie fast berühren. Du nimmst seine Hand und flichtst deine Finger zwischen seine.

»Willst du damit sagen, dass du mich magst, Ben?«

Er lässt den Kopf zurückfallen und sieht zu dir auf. Dann schenkt er dir wieder dieses Lächeln, so strahlend und breit.

»Ja, ich glaube schon.«

Er steht auf und drängt dich zurück, sodass du nach ein paar Schritten mit dem Rücken zur Wand stehst. Seine Hand legt sich um deinen Hinterkopf, streicht an deinem Hals entlang und über dein Kinn. Seine andere Hand hält immer noch deine und hält sie noch fester, als er sich zu dir neigt, seinen Mund auf deinen presst und deinen Kopf in den Nacken legt.

Er ist überall, er drückt dich an sich, seine Lippen streicheln deine Wangen und deine Augenlider. Dann hält er inne und zieht deinen Kragen zur Seite, um deine Schulter zu küssen, nur einmal.

Du lässt deine Finger seinen Rücken hinauf und unter sein Hemd gleiten, über seine glatte, weiche Haut. Er legt beide Hände an deine Hüften und hebt dich mit einer raschen Bewegung hoch, dreht sich um und wirbelt dich in das Motelzimmer zurück, wo er dich auf eines der Betten legt.

Du bleibst liegen und siehst zu, wie er sich das Hemd abstreift. Er ist groß und schlank, voller sehniger Muskeln und seine Haut ist von der Sommersonne gebräunt. Er legt die Hände rechts und links neben deinen Kopf und lässt sich über dich sinken, um dich wieder zu küssen.

»Ich dachte, du wolltest dein eigenes Bett«, sagst du.

Er lacht in dein Haar. Als sich eure Blicke treffen, siehst du die blauen Sprenkel in seinen grauen Augen.

»Ich habe meine Meinung geändert.«

»Sicher? Ich will dich schließlich nicht ausnutzen …«

Er greift hinter dich und zieht dir dein T-Shirt über den Kopf, danach den BH, und steckt die Finger in den Bund deiner Hose.

»Ich glaube, ich kann damit leben«, meint er.

Fragend flüsterst du immer wieder: »Bist du sicher?« … »Jetzt auch noch?« … während sein Mund zu deinem Ohr wandert. Eine Hand liegt auf deinem Bauch, gleitet höher, liebkost deine Brust.

»Ich glaube schon, mehr denn je …«, wiederholt er. Dann vergräbt er lächelnd das Gesicht an deinem Hals.

Du schläfst noch halb und genießt das beruhigende Gefühl von Bens Finger, der über deine Schulterblätter gleitet, deinen Rücken entlangläuft und dort jeden einzelnen Wirbel umkreist. Du ziehst die Decke an dich. Mit geschlossenen Augen lauschst du dem Rhythmus seines Atems, wie er erst langsamer wird und sich dann ändert, als ob er innehielte, um etwas zu sagen.

»Wir könnten irgendwohin gehen«, sagt er schließlich kaum hörbar. »Vielleicht ist es besser für dich außerhalb der Stadt.«

»Wie meinst du das?«

»Wir könnten neu anfangen. Was auch immer wir getan haben … wer wir waren … oder auch nicht waren … würde keine Rolle mehr spielen.«

»Ein Neuanfang?« Du drehst dich um und starrst an die Decke. Er beobachtet dich abwartend von der Seite und lächelt.

»Ja«, bestätigt er. »Vielleicht nur für eine Weile. Es wäre sicherer.«

Du siehst ihn an und tastest unter der Decke nach seiner Hand, die du an dein Herz ziehst. Du rutschst näher zu ihm und legst den Kopf an seine Brust. Sein Atem beruhigt dich, als du wieder die Augen schließt. »Ein Neuanfang …«