16

Scheinwerfer. Das langsame Knirschen von Reifen auf Kies, dann geht der Motor aus und im Wald herrscht wieder Stille. Als die Sonne unterging, hast du deine Augen ein paar Minuten geschlossen und jetzt ist es plötzlich dunkel. Auf dem Parkplatz steht ein Auto. Die Tür geht auf und knallt wieder zu. Ein Mann tippt etwas in sein Handy, dann geht er zum Pfad zehn Meter weiter.

Der Mond scheint voll und hell, sodass du die Kurve auf dem Weg gut sehen kannst, wo du den Peilsender unter einem großen eckigen Felsen vergraben hast. Seit zwei Tagen bist du jetzt hier und versteckst dich zwischen Büschen und Bäumen. Ben hast du allein am Strand zurückgelassen, und du weißt, dass er sich wahrscheinlich Sorgen macht und sich fragt, was dir wohl passiert ist und wo du bist. Doch darüber kannst du jetzt nicht nachdenken. Du musst das hier tun. Wenn sich der Peilsender nicht bewegt, bewegst du dich nicht. Endlich ist der Mann gekommen, um herauszufinden, warum nicht.

Er sieht auf, wendet das Kinn in deine Richtung. Der schwache bläuliche Schein seines Handys beleuchtet sein Gesicht. Du sitzt hoch über ihm, hinter dichten Büschen und Sträuchern ein paar Meter neben einem anderen Weg. Den Rucksack hast du in einem Graben neben dir versteckt, zusammen mit den leeren Wasserflaschen und dem Müll der letzten Tage, den Verpackungen der Sandwiches, die du in der Caféteria des Planetariums im Park gekauft hast. Schnell suchst du oben in der Tasche nach den Kabelbindern und dem Seil, das du in einem Laden für Army-Zubehör gekauft hast. Du fühlst in deiner Tasche nach dem Pfefferspray. Das Messer steckt in deinem Gürtel.

Mit dem Telefon in der Hand läuft er los und sieht gelegentlich auf den Bildschirm. Du siehst den Lichtschein, der von unten heraufleuchtet und auf dich zukommt. Du bist über ihm, kaum zehn Meter entfernt.

Er verschwindet hinter einer Biegung, dann kommt er um die Ecke. Er geht geradewegs auf den Peilsender zu, als er ein zweites Telefon aus der Hosentasche nimmt, weil es summt. Er klappt es auf und sagt: »Ich bin jetzt da. Ich rufe an, sobald ich etwas weiß.«

Du kennst seine Stimme von irgendwoher, aber du weißt nicht von wo. Kam er in einem Traum vor? Kennst du ihn von früher? Du beobachtest ihn, wie er sich mit geballter Faust umdreht. Die Person am anderen Ende der Leitung sagt etwas. Der Mund des Mannes bewegt sich, wenn er antwortet, doch außer ein paar »aber« und »ja, aber« kommt nichts hervor.

Er legt auf, fährt mit dem Finger über das andere Telefon und sieht vom Bildschirm auf den Weg und wieder zurück. Er ist jetzt nur noch ein paar Schritte von der Stelle entfernt. Vorsichtig späht er zwischen den Zweigen hindurch ins Unterholz, wobei er das Handy als Lichtquelle benutzt.

Du kommst hinter deinem Busch hervor und schleichst über den Weg auf ihn zu. Er steht mit dem Rücken zu dir und versucht, tiefer zwischen die Büsche vorzudringen. Er ist dünner, als du ihn in Erinnerung hast, und seine Haut ist so blass, dass sie im Mondlicht fast geisterhaft schimmert. Er zieht ein paar Zweige zurück und hebt den Arm, um sein Gesicht zu schützen, und wirkt dabei so panisch, dass du fast Mitleid mit ihm bekommst. Er scheint ein ganz anderer zu sein als der, den du in dem Parkhaus gesehen hast.

Sein Gürtel ist jetzt leer, er trägt kein Halfter mit einer Waffe, und soweit du das erkennen kannst, hat er nichts bei sich außer den beiden Handys. Du bist nur noch drei Meter entfernt, so nah, dass du seinen Atem hören kannst. Das Pfefferspray hast du einsatzbereit in der Hand. Als er einen weiteren Schritt macht, springst du vor. Dabei fällt dir plötzlich auf, wie klein du bist – er ist einen Kopf größer als du, und obwohl er so dürr ist, bewegt er sich schnell und dreht sich um, bevor du ihn erreichst.

Du drückst auf das Pfefferspray und ein dünner Strahl der Flüssigkeit trifft ihn auf Mund und Nase. Er verzieht das Gesicht, krümmt sich zusammen und bedeckt die Augen mit der Hand. Im schwachen Licht kannst du sehen, wie sich auf seiner Stirn Schweiß bildet und ihm in dünnen Bächen über das Gesicht läuft.

Als du sicher bist, dass er dich nicht sehen kann, kommst du näher und nimmst einen Kabelbinder aus der Tasche. Du wickelst ihn um seine beiden Handgelenke und ziehst ihn so fest, dass seine Hände zusammengepresst werden. Er versucht wegzulaufen, doch er stolpert und stürzt mit dem Gesicht auf die Erde.

Als er sich umdreht, ist sein Gesicht fleckig und geschwollen und das Spray hat einen roten Fleck auf seiner Haut hinterlassen.

»Ich dachte, du wärst tot«, sagt er und lässt den Kopf auf den steinigen Weg sinken. »Ich hätte wissen müssen, dass es eine Falle ist. Sie haben mir gesagt, dass du clever bist.«

»Ich kenne Sie«, sagst du, denn plötzlich weißt du wieder, wo du seine Stimme schon mal gehört hast. Er war der Mann, mit dem du telefoniert hast. Er war derjenige, der dir gesagt hat, dass du zu dem Bürogebäude gehen sollst. »Sie haben mich reingelegt.«

Du ziehst das Messer und setzt es ihm an die Kehle. Du willst so gerne mehr wissen – du willst ihn dazu bringen, dir etwas zu erzählen, irgendwas Wahres.

»Wer sind Sie?«, fragst du. »Warum hat die Frau versucht, mich zu töten. Warum hat sie mich verfolgt?«

Erst als er die Klinge an seinem Hals spürt, verkrampft er sich. Du packst den Messergriff fester und plötzlich hörst du in einem Kopf eine vertraute Stimme. Nicht. Wir sind keine Mörder. Wir sind nicht wie sie.

Die Worte sind so präsent, so real, dass du den Kopf wendest und erwartest, den Jungen aus dem Traum zu sehen. Es ist, als hätte er hinter dir gestanden. Es war seine Stimme, da bist du ganz sicher. Du schließt die Augen und versuchst, sie wieder heraufzubeschwören. Ein paar Augenblicke, dann ist es fort. Er ist fort.

Der Mann sieht zu dir hoch, obwohl er kaum die Augen aufbekommt.

»Ja, das war ich. Ich habe dich dorthin gelockt.«

»Aber warum? Warum haben Sie das getan? Und was wollte diese Frau von mir?«

»Das weiß ich nicht.« Er stößt die Worte keuchend hervor, und erst da bemerkst du, dass dein Arm sich bewegt hat, dass deine Hand ihm die Luftröhre abdrückt. Du lässt ihn los und trittst zurück.

Er scheint Angst zu haben, spricht immer schneller und seine Worte gehen fast ineinander über.

»Diese Männer haben mich dafür bezahlt, das Büro zu verwüsten, aber sie haben immer Mittelsmänner eingesetzt. Es sind mindestens vier Leute zwischen uns und ich kenne nicht einmal ihre Vornamen.«

»Sie kennen Ihren eigenen Namen. Wie heißen Sie?«

»Ivan. Ivan Petrovski.«

»Erzählen Sie«, verlangst du. »Ich höre.«

»Vor ungefähr einem Monat habe ich gelegentlich für einen Mann gearbeitet. Er war der Freund eines Klienten, dem ich beim Hauskauf geholfen hatte – ich bin Makler. Er hat mir erzählt, dass einer seiner Kollegen jemanden für einen anderen Job sucht. Fünfzehntausend Dollar für einen Monat Arbeit. Dazu gehörte, jemandem einen Peilsender unterzuschieben. Ich sollte berichten, wo ich den Sender versteckt habe, und noch ein paar andere Aufgaben erledigen.«

»Ein paar andere Aufgaben?«, fragst du. »Wie zum Beispiel, es so aussehen zu lassen, als hätte ich dieses Büro ausgeraubt? Sie haben jemanden umgebracht

»Ich habe keine Ahnung, warum sie wollten, dass die Polizei hinter dir her ist, das haben sie mir nicht gesagt. Sie haben mir nur gesagt, dass ich es machen soll und dass ich dich im Auge behalten soll, sobald du die U-Bahn-Station verlassen hast. Bisher haben sie zweimal angerufen, um zu erfahren, wo du bist.«

»Wer sind ›sie‹? Wer sind die Leute, mit denen Sie gesprochen haben?«

»Ich habe genaue Anweisungen von jemandem bekommen, der sie wiederum von jemand anderem hat. Ich weiß es wirklich nicht genau … ich bin mir nicht sicher, wer sie sind.«

Er versucht, sich aufzusetzen.

»Sie haben also zugestimmt, für sie zu arbeiten, ohne irgendwelche Fragen zu stellen?«

Der Mann zuckt mit den Schultern und sieht dich unsicher an. »Ich brauchte das Geld, und als ich erst einmal dabei war, konnte ich nicht mehr aus der Sache raus. Aber ich bin kein schlechter Mensch. Als ich gesehen habe, dass sie dich umbringen wollte, habe ich sie aufgehalten. Ich habe dich gerettet.«

»Wer war sie? Habe ich ihr etwas getan? Kennt sie mich?«

»Ich habe keine Ahnung, wer sie war. Ich habe sie noch nie zuvor gesehen.«

»Wenn Sie die Frau nicht gekannt haben, warum haben Sie sie dann erschossen? Warum nicht mich?«

Der Mann kneift die Augen zu.

»Das war nicht geplant. Ich wusste nicht, was passieren würde. Ich habe ihnen die Information über den Busbahnhof gegeben, und dann bin ich dir gefolgt, obwohl ich es eigentlich nicht hätte tun sollen. Seit Wochen hatte ich immer genau das gemacht, was sie gesagt haben, und so langsam hatte ich das Gefühl … ich hatte einfach das Gefühl, als ob irgendetwas passieren würde, und ich wollte wissen was, wofür ich eigentlich bezahlt werde. Und plötzlich wurde mir klar, dass sie dich umbringen will. Da ist irgendetwas in mir … ich weiß auch nicht. Ich habe eine Tochter, die nur ein wenig jünger ist als du. Ich hatte die Waffe im Auto … und habe es einfach getan.«

»Und was passiert jetzt? Sind sie hinter Ihnen her?«

Er schüttelt den Kopf, und erst jetzt bemerkst du die Narbe auf der einen Seite, da, wo sein rechtes Ohr sein sollte.

»Ich habe ihnen erzählt, du hättest sie getötet. Das musste ich …«

»Warum? Warum haben Sie das getan?«

Deine Stimme klingt rau. All deine Unsicherheit kehrt zurück. Wenn sie dich schon früher töten wollten, was wird dann jetzt passieren? Was werden sie tun, jetzt, wo sie glauben, dass du eine von ihnen getötet hast?

Er antwortet nicht. Es ist schwer zu sagen, ob er mehr weiß, als er sagt, aber es gibt keinen Grund, noch weiter hier zu stehen, ihm zuzuhören und zu versuchen, die Wahrheit bröckchenweise herauszufinden. Du kniest dich hin und nimmst ihm die Handys und den Autoschlüssel aus der Tasche.

Das eine Telefon ist ein billiges Wegwerfhandy, so leicht, dass du das Gefühl hast, es würde dir in der Hand zerbrechen. Du suchst in den Anruflisten nach den letzten Nummern. Bei den meisten steht Unterdrückt, aber weiter unten findest du tatsächlich eine Nummer. Du drückst auf den Knopf, um anzurufen.

»Was tust du denn da?«, fragt Ivan. Besorgt runzelt er die Stirn und sieht dich an.

Du drehst dich von ihm weg und hältst das Telefon dichter ans Ohr. Es klingelt zweimal.

»Esposito Real Estate«, meldet sich eine Männerstimme.

Du zögerst einen Augenblick, bevor du antwortest. Es ist fast neun Uhr abends, an der Ostküste sogar noch später. Jedes normale Büro wäre geschlossen.

»Ich habe Ivan«, sagst du.

»Leg auf!«, ruft Ivan hinter dir. Du drehst dich um und siehst, wie er panisch versucht, seine Hände zu befreien. »Sie wissen, dass ich hier bin.«

Du siehst den Bildschirm an, auf der die Gesprächszeit mitläuft. Ohne nachzudenken, beendest du das Gespräch und das Handydisplay wird dunkel.

»Du hättest sie nicht anrufen sollen!«, ruft Ivan. Er versucht aufzustehen, doch mit den auf dem Rücken gefesselten Händen fällt es ihm auf dem unebenen Boden schwer. »Jetzt wissen sie, dass du es weißt. Sie werden hierherkommen … sie werden uns beide umbringen!« Sein Blick geht zum Parkplatz. »Wir müssen los. Sie werden bald hier sein.«

Er läuft vor dir den Weg entlang, versucht zu rennen, doch das erweist sich als schwierig. Er zieht die Schultern hoch und streckt die Arme nach hinten, hält den Kopf gesenkt und stolpert immer wieder.

Du bleibst stehen und betrachtest den Park unter dir. Der Wald ist dunkel. Zuerst siehst du es kaum. Die Straßenlaternen an einem Teil der schmalen Straße und die Büsche und Bäume versperren dir die Sicht. Doch dann siehst du die Scheinwerfer. Ein schwarzer Mercedes fährt auf den Parkplatz und hält genau neben Ivans leerem Auto.

»Da sind sie!«, ruft Ivan. »Lass die Handys hier! Das da hat einen GPS-Sender eingebaut!«

Rechts von dir führt ein steiler Pfad in den Park. Du wirfst die Telefone in den Busch und rennst hinter ihm her, denn du weißt, wenn du diesen Pfad hinaufgehst, kannst du zum Planetarium zurückgelangen. Dort sind mehr Autos, mehr Menschen.

Du hast den Pfad fast erreicht, als du Ivan bemerkst, der am Rand des Felsens zusammengesunken ist. Er kniet am Boden, windet sich, kämpft gegen die Fesseln an und versucht, sich zu befreien. Erst als du fast an ihm vorbei bist und den Fuß des Pfades erreichst hast, bleibst du stehen. Du kannst ihn doch nicht so zurücklassen, oder? Wenn das, was er gesagt hat, stimmt, dann kannst du doch nicht einfach so abhauen, wenn du weißt, dass er getötet werden wird?

»Bitte!«, fleht er. »Ich habe sonst keine Chance!«

Er sieht zu dem Auto unter euch, aus dem zwei Männer aussteigen, die erst die Türen seines Wagens öffnen, und dann den Kofferraum, um ihn zu durchsuchen.

Du nimmst das Messer aus dem Gürtel und schneidest das Plastikkabel um seine Handgelenke durch. Er presst die Hände zusammen und öffnet sie, um den Blutkreislauf in seinen Fingern anzuregen. Mit feuchten Augen sieht er dich an. Als ihr hört, wie die Autotür zugeknallt wird, rennt ihr in verschiedene Richtungen los.

Im Dunkeln ist es schwieriger, die steile Anhöhe hinaufzuklettern. Während du den Hang vor dir in Angriff nimmst und die Fußspitzen in die Erde gräbst, siehst du aus dem Augenwinkel, wie Ivan einen der Nebenpfade nach unten rennt, weg vom Peilsender in Richtung auf eine der anderen Straßen zu. Er kennt den Park nicht so wie du. Er ist noch nie hier gewesen. Du willst ihn warnen, doch er ist schon um die Kurve verschwunden und läuft zum Parkplatz zurück, auf einen der beiden Männer zu.

Angestrengt kletterst du schneller den steilen Hang hinauf. Deine Handflächen sind aufgeschürft und bluten, und alles was du siehst, sind die Stellen, an die du Hände und Füße setzen kannst. Oben angekommen erreichst du einen weiteren Pfad, der zum Planetarium zurückführt. Erst da siehst du wieder nach unten.

Taschenlampen leuchten auf und markieren die Stellen, an denen die beiden Männer stehen. Einer ist bereits beim Peilsender angekommen, während der andere auf dem Parkplatz wartet. Ein lauter, erstickter Schrei erklingt und eine Taschenlampe fällt zu Boden. Eine Gestalt läuft hinter den Bäumen vorbei.

»Ich habe ihn!«, ruft der Mann vom Parkplatz aus. »Er ist hier!«

Von deinem Platz aus kannst du das Gesicht des anderen Mannes sehen. Er trägt eine schwarze Baseballkappe, die seine Augen verdeckt. Er kniet sich auf den Boden und gräbt unter dem Stein, bis er den metallenen Peilsender findet.

Er dreht ihn in der Hand und sucht den Felsvorsprung ab.