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Im Zug staut sich die Hitze der Sonne auch noch eine Stunde, nachdem er sich unter das Straßenpflaster zurückgezogen hat und sich seinen Weg durch die ausgedehnte Stadt bahnt. An der Station Vermont/Sunset neigt sich eine Asiatin mit einem strengen Bob über den Rand des Bahnsteigs, um zu erkennen, wie weit der Zug noch entfernt ist. Ein paar Highschool-Kids stehen unter einem Plakat für eine Fernsehshow, teilen sich die iPod-Kopfhörer und reden über einen Jungen namens Kool-Aid. Er gibt am Wochenende eine Party im Echo Park, da seine Eltern seiner älteren Schwester beim Umzug an die Uni helfen.
Du hörst die Jugendlichen nicht lachen. Sie können dich hier nicht liegen sehen, am Ende der Gleise, wo der Tunnel in der Dunkelheit verschwindet. Die Vibrationen wecken dich schließlich, deine Augenlider öffnen sich flatternd und die gewölbte Decke über dir wird erkennbar. In deinen Schläfen pulsiert es. Die Gleise verlaufen neben deinen Schultern, dein Rücken presst sich in die Vertiefung im Boden, wo sich seit Monaten Süßigkeitenverpackungen und zerfledderte Zeitungen sammeln.
Eine Hupe erklingt. An der Wand erscheint ein Lichtschein, der über die Wandkacheln gleitet, als sich der Zug nähert. Du hebst den Kopf mit dem Kinn auf der Brust, doch dein ganzer Körper ist bleischwer. Du hast noch kein Gefühl in den Beinen und kannst deine Hüften nicht bewegen, kannst dich überhaupt kaum rühren. Doch du versuchst es, bemühst dich, zu dem schmalen Spalt unter dem Bahnsteig zu gelangen. Als du erschöpft den Kopf sinken lässt, bemerkst du den Zug am Ende des Tunnels, der dich plötzlich in Licht taucht.
Der Zugführer hat dich gesehen. Das Geräusch des Zuges ändert sich jetzt – die Bremsen kreischen einen Ton lauter, energischer. Zu spät. Er kommt viel zu schnell auf dich zu. Du hast nur eine Möglichkeit. Du legst dich flach zurück und kreuzt die Arme über der Brust.
Drei. Zwei. Eins. Zuerst ist es nur laut, das Knirschen der Räder auf dem Gleis, das Rauschen der Luft, die der Zug vor sich herschiebt. Sein heißer Atem wirbelt durch deine Haare. Du starrst die Unterseite des Zuges an, Metall, Rohre und Leitungen. Als die Bahn endlich langsamer wird und im Bahnhof zum Stehen kommt, begreifst du erst nach ein paar Sekunden, dass du tatsächlich noch daliegst, nur ein paar Zentimeter unter dem Zug. Du lebst noch.
Die Frau mit dem schwarzen Bob über dir auf dem Bahnsteig kann nicht glauben, was sie gesehen hat. Jetzt, wo der Zugführer aus dem ersten Wagen steigt, laufen ihr die Tränen über das Gesicht.
»Da unten liegt ein Mädchen! Haben Sie das nicht gesehen? Da ist ein Mädchen!«, ruft sie hysterisch.
Der Zugführer denkt nur: Sie hat gelegen. Sie konnte sich nicht bewegen. Warum hat sie gelegen? Es ist das vierte Mal in sechsundzwanzig Dienstjahren, doch bei denen davor war es anders gewesen. Sie waren nicht wie sie gewesen. Manche standen, manche warfen sich vor den Zug. Andere waren gestürzt und versuchten, wieder auf den Bahnsteig zu klettern. Doch sie hatte einfach nur dagelegen. In einer ganz bestimmten Position, die Arme über der Brust gekreuzt, die Schultern genau zwischen den Schienen. Sehr merkwürdig, denkt er. Als hätte sie jemand dort abgelegt.
Unter dem Zug liegend hörst du die Frau schreien. Ihre Stimme überschlägt sich, und ein Mann versucht, sie zu beruhigen. In der Lücke zwischen Waggon und Bahnsteig siehst du Schatten. Eine Klingel schrillt und Menschen laufen hektisch umher. Zwischen die Schritte mischen sich Fragen.
»Mir geht es gut!«, rufst du. Deine Stimme überrascht dich. Sie klingt klein und gepresst, fast kindlich.
Ein Mann auf dem Bahnsteig wiederholt deine Worte: »Es geht ihr gut!«
Er hat sich durch die Leute gedrängt und kniet knapp über dir.
Dann hörst du die Stimme des Zugführers: »Bist du verletzt?«
Auf den ersten Blick sieht es aus wie Öl, das deinen Unterarm hinunterläuft und auf dein T-Shirt tropft. Das Blut ist dunkel, fast schwarz. Doch du spürst keinen Schmerz, nur ein Brennen, als stündest du zu nahe neben einem Feuer.
»Mir geht es gut«, wiederholst du. Der Schnitt kann nicht länger als zehn Zentimeter sein. Und er sieht auch nicht sehr tief aus.
Der Zugführer diskutiert mit einem Kollegen, ob er den Zug zurückfahren soll oder nicht. Sie funken die Zentrale an, um nachzufragen, während die Frau mit dem Bob den Notruf wählt und hektisch das Vorgefallene schildert. Sie versprechen, Hilfe zu schicken.
Du hast das Gefühl, ewig dort zu liegen. Du kannst die Unterseite des Waggons nicht ansehen, ohne dass du am liebsten schreien würdest. Stattdessen schließt du die Augen, versuchst, die Arme noch enger an dich zu ziehen, den Raum um dich zu vergrößern, damit du dich nicht so gefangen fühlst. Ganz automatisch verlangsamst du deine Atemzüge, du zählst sie und lässt nur einen schwachen Luftstrom zwischen den Lippen hindurch.
Schließlich erklingt das Heulen einer Krankenwagensirene und auf dem Bahnsteig über dir versammeln sich die Sanitäter. Sie rufen dir Anweisungen zu und sagen dir, wo du deine Arme und Beine halten sollst. Als würdest du es wagen, dich zu rühren. Endlich fährt der Zug los. Du siehst die Unterseiten der Waggons über dich hinweggleiten, bis nichts mehr über dir ist als Luft.
Mittlerweile hast du wieder Gefühl in den Beinen und kannst dich aufsetzen. Doch zwei Männer in Uniform springen vom Rand des Bahnsteigs herunter und legen dich auf eine Bahre. Erst da bemerkst du den schwarzen Rucksack vor deinen Füßen.
»Was ist denn passiert? Wie bist du hierhergekommen?«, fragt einer der Sanitäter, als sie dich auf den Bahnsteig hinaufheben.
Du siehst deine Kleidung an, und einen Körper, der dir vollkommen fremd ist. Dein T-Shirt ist vorne nass vom Blut. Du trägst neue Jeans und neue Schuhe mit harten, leuchtend weißen Bändern.
»Ich weiß nicht«, antwortest du. Du hast keine Ahnung, wie viel Uhr es ist, oder welcher Tag, du kannst dich an kein einziges Detail deines Lebens erinnern. Es gibt nur das Jetzt, weiter nichts.
»Du weißt es nicht?«
Der andere Sanitäter ist ein kleiner untersetzter Mann, dessen rechter Arm mit Tätowierungen übersät ist. Der Anblick zweier von Rosen umrankter Totenschädel löst etwas in dir aus. Furcht? Trauer?
Sie heben die Bahre auf den Bahnsteig und einer zieht etwas aus seiner Tasche.
»Schon gut, es geht mir gut«, wehrst du ab und siehst zur Rolltreppe, die sich ein paar Schritte weiter befindet. Es ist der einzige Ausgang.
Der Sanitäter leuchtet dir mit einer Lampe in die Augen, dann in den Mund. Du richtest dich auf, setzt dich und schiebst dich von der Bahre auf den Betonboden. Den Rucksack ziehst du an dich.
»Ich brauche keine Hilfe«, wehrst du ab. »Mir geht es gut.«
»Es geht dir nicht gut«, widerspricht der Sanitäter. »Wie heißt du?«
Um dich herum hat sich eine Menschenmenge versammelt. Du zermarterst dir das Hirn, doch das scheint wie ein leerer Raum zu sein, in dem man keine Kissen umdrehen und keine Schränke oder Schubladen durchsuchen kann. Stattdessen greifst du nach dem Reißverschluss des Rucksacks und tust ihnen zuliebe so, als wüsstest du, was drin ist.
Folienverpackte Wasser- und Essensvorräte, eine Decke, ein frisches T-Shirt, ein rotes Taschenmesser und weiter unten noch ein paar Dinge, an die du nicht herankommst. Instinktiv greifst du nach dem kleinen schwarzen Notizbuch, das ganz oben liegt. An den Deckel ist ein Stift geklemmt. Auf die erste Seite ist mit Tesafilm ein Vierteldollar geklebt. Darunter steht: Nicht die Polizei rufen. Wenn du allein bist, ruf 818-555-1748 an.
Du stehst auf, gehst an den beiden Sanitätern und der Menge vorbei durch den stickigen Bahnhof.
»Du kannst doch nicht einfach gehen!«, ruft der Sanitäter. »Komm zurück! Jemand muss sie aufhalten, sie kann nicht klar denken!«
Immer noch benommen gehst du die Rolltreppe hinauf und lässt die Menge hinter dir zurück. Du gehst durch das Drehkreuz. Die Treppen führen immer weiter nach oben, scheinbar endlos. Ein paar Leute rufen dir hinterher, einer von ihnen folgt dir und verlangt, dass du dich hinsetzt und ausruhst.
»Geh nicht! Warte! Bleib hier!«
Du hast keine Zeit. Oben an der Treppe angekommen kannst du bereits den Polizeiwagen sehen, der um die Ecke biegt und am Gehsteig anhält. Schnell siehst du dich auf der Kreuzung um. SUNSET und VERMONT steht auf den Straßenschildern. In der Nähe sind Bürogebäude, Bistros, Smoothie-Läden. Wohin sollst du gehen?
Du drehst dich um und siehst den Sanitäter mit den Tätowierungen. Er steht neben einem Cop und spricht leise mit ihm. Der Officer macht nur ein paar Schritte auf dich zu, langsam, als du deine Entscheidung triffst. Du packst die Riemen des Rucksacks fester und sprintest los.