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Lustlos knabberst du an dem Donut. Der schleimige Orangensaft ist viel zu süß. Aus dem Radio erklingt die Stimme des DJs in einem endlosen, lästig heiteren Singsang. Du sitzt an einem der hinteren Tische des Diners, dir fällt die grelle Stimme des Kassierers auf und das unablässige Summen der Lichter über dir.

Hinter der Fensterscheibe rasen die Autos die Vine Street entlang. Die Hitze ist so intensiv, dass man sie förmlich sehen kann, weil die flirrende Luft fast flüssig wirkt. Du kramst im Rucksack, bis du endlich das Notizbuch findest. Darin schreibst du die Ereignisse des gestrigen Tages auf. Du fühlst dich besser, wenn du etwas tun kannst, irgendetwas. Du versuchst dich an die genauen Worte des Nachrichtensprechers zu erinnern, mit denen er den Einbruch beschrieben hat. Dann holst du die Quittungen aus der Tasche und notierst, was du bisher für Essen und im Secondhand-Laden ausgegeben hast. Selbst nachdem du das Motelzimmer bezahlt hast, bleiben dir noch über achthundert Dollar.

Du blätterst um und siehst dir noch einmal die Liste an. Die Erinnerung ist verschwommen. Du kannst dich nicht mehr an die Haarfarbe der Frau erinnern. Braun? Grau? Du erinnerst dich nur noch an ihre Hände, die papierdünne Haut und wie sie die Finger an die Schläfen presste, als sie ihr Gesicht versteckte. Du weißt nicht, welche Farbe ihre Bluse hatte, und du hast dir die Bilder an der Rückwand der Kirche nicht angesehen. Also schreibst du nur die Dinge auf, die eindeutig sind:

Ich erinnere mich an eine Kirche

Jemand, der mir nahestand, ist gestorben (ein Vater, Bruder, Onkel, Großvater?)

Ich habe bei seiner Beerdigung gelesen

Eine Frau (meine Mutter?) spürt seinen Verlust ebenfalls

Es waren nicht mal ein Dutzend Leute da

Du lässt den Stift unter der letzten Zeile innehalten, denn du würdest gerne noch mehr hinschreiben. Du willst etwas Definitives, doch dir bleibt nur dieses beklemmende Gefühl, die Trauer, die dich wie ein dünner Film umgibt.

Du steckst das Notizbuch weg. Als du den Rucksack wieder packst, wirst du unruhig. Irgendetwas stimmt nicht … passt nicht. Ein Mann mit struppigem grauem Bart steht an der Kasse und bezahlt mit einer Handvoll Kleingeld einen Donut. Eine ältere Frau liest eine Zeitung. Du drehst dich um und lässt den Blick über die gelben Plastiknischen hinter dir gleiten und da siehst du ihn plötzlich.

Er hat schütteres braunes Haar und winzige Knopfaugen. Er betrachtet dich ganz offen und unverschämt und versucht nicht einmal, es zu verbergen. Er trägt eine Krawatte und ein Hemd, das unter den Armen durchgeschwitzt ist. Du starrst zurück, angespannt, aber er sieht nicht weg.

Du hast das Gefühl, als sei dein Körper schwerelos und eiskalt. Du lässt das Tablett stehen und machst dir nicht die Mühe, den auf dem Tisch verstreuten Müll einzusammeln. Stattdessen nimmst du den Rucksack und gehst zur Tür, doch in den paar Sekunden, bis du sie erreicht hast, ist er bereits aufgestanden und hat seine Brieftasche und seine Schlüssel eingesteckt.

Du gehst die Treppe hinunter und läufst auf die Straße, darauf vertrauend, dass die Autos schon anhalten werden. Ein Laster bremst scharf ab und der Fahrer drückt auf die Hupe. Alle Ampeln sind grün, und während du über die Straße rennst, kommen noch weitere Autos auf dich zugerast. Auf deiner Haut bildet sich ein dünner Schweißfilm.

Als du endlich die andere Seite erreichst, fragst du dich, ob du dir das nur eingebildet hast oder ob die Gefahr wirklich so real war, wie sie sich angefühlt hat. Du drehst dich um und siehst gerade noch, wie der Mann auf den Parkplatz geht und in ein silbernes Auto steigt. An der Seite hat es eine Beule und ein Kratzer zieht sich vom hinteren Stoßdämpfer bis zur vorderen Tür. Seine Hand liegt auf dem offenen Fenster. Du weißt nicht, ob er dich aus den Nachrichten erkannt hat oder ob er dich von früher kennt. Jedenfalls kommt dir nichts an ihm bekannt vor. Er beobachtet dich immer noch und hat den Blick auf den Rückspiegel geheftet, als er ausparkt.

Du biegst in eine Nebenstraße ein und verschwindest in einem Parkhaus. Auf dem Schild darüber steht ARCLIGHT CINEMA. Ein Pfeil weist über eine Rampe nach oben, und du schlängelst dich zwischen den geparkten Autos hindurch, bis du schließlich auf einen Innenhof gelangst. In der Lobby des Kinos haben sich Schlangen vor der Kasse gebildet. Du drängelst dich zwischen den Leuten hindurch, vorbei an einem Mann mit einer Oakland-A-Kappe und einer Gruppe aufgetakelter Frauen, bis du vorne wieder aus dem Gebäude kommst. Ein paar Teenager haben gerade das Kino verlassen. Es sind zehn, vielleicht mehr, und du bleibst dicht bei ihnen, nur ein paar Schritte dahinter.

Als sie die Treppe hinuntergehen, gehst du neben ihnen her, als wärst du schon die ganze Zeit dabei. Ein Junge hat ein Skateboard unter den Arm geklemmt und zeigt seiner Freundin einen Ausweis.

»Maryland«, sagt er. »Es funktioniert, solange sie ihn nicht scannen.«

Das Mädchen hat eine lila Strähne im Haar. Sie dreht den Ausweis um und wendet ihn im Licht hin und her.

»Und den hast du aus diesem Tabakladen zwischen Hollywood und Western?«

Du gehst auf gleicher Höhe wie sie den Sunset-Boulevard hinunter, als du dich umsiehst. Der Mann hat seinen Wagen gewendet, bleibt an der Kreuzung stehen und blinkt links, bereit, um den Block herumzufahren. Er folgt dir, da bist du dir ganz sicher.

Du läufst eng bei der Gruppe, gehst in der Mitte, damit du nicht so gut zu sehen bist. Die Mädchen neben dir reden über ein Konzert, das sie besucht haben, und über den schwarzen Lippenstift, den sie in einer Drogerie gekauft haben. Es ist merkwürdig, sie so reden zu hören, über die ganz kleinen, alltäglichen Dinge des Lebens.

»Hey, könnt ihr mir vielleicht sagen, wo ich hier ein bisschen Gras kriege?«, fragst du laut und wartest ab.

Ein Junge, der vor dir läuft, fängt an zu lachen, und du hörst ein paar Leute »Oh Mann!« sagen.

»Bist du verrückt?«, fragt der Junge mit dem Skateboard und betrachtet deine schlecht sitzende Jeans und das T-Shirt mit dem lila Blumenmuster am Ausschnitt. »Du kannst doch nicht einfach auf Leute zugehen und sie nach Drogen fragen. Was denkst du dir eigentlich?«

»Ich denke nur, dass ich Gras will.« Das ist zwar provokant, aber es funktioniert – sie drängen sich um dich. Du hast ihre Aufmerksamkeit.

»Du könntest ein Bulle sein«, bemerkt ein Junge mit Zahnspange.

»Ich wusste gar nicht, dass es schon sechzehnjährige Bullen gibt.«

Das Mädchen mit der lila Strähne lacht. »Nein, wahrscheinlich nicht, oder?«

An der Kreuzung wartest du ab und beobachtest die Fußgängerampel auf der anderen Seite, deren blinkende rote Hand dir sagt: Don’t walk. Don’t walk. Du hältst den Kopf gesenkt, doch aus dem Augenwinkel siehst du sein Auto kommen. Der Mann fährt vorbei, den Sunset-Boulevard hinauf. Am Kofferraum ist ein Aufkleber. ASK ME ABOUT REAL ESTATE. Du siehst auf die Stelle darunter, wo das Nummernschild sein sollte, doch es fehlt.

An der nächsten Ecke hält er an und blinkt links, um in eine Nebenstraße einzubiegen. Du bist jetzt vor der Gruppe, und als du ihm nachsiehst, begegnest du plötzlich seinem Blick im Rückspiegel. Deine Beine sind bleischwer, als er um die Ecke biegt.

»Hallooo? Hast du mir zugehört?«, fragt der Junge mit dem Skateboard und schiebt dich über die Straße.

»Ja, ja, habe ich.« Du drängst dich wieder dichter zwischen sie, als du die Straße überquerst, doch es fällt dir schwer, so zu tun, als wärst du aufmerksam. Du siehst über die Schulter und wartest darauf, dass das Auto wieder auftaucht.

Der Junge lässt das Skateboard auf den Boden fallen und fährt los, doch einen Augenblick später hält er auf dem Gehweg vor dir an. Er hält die Hand hoch und bedeutet den anderen, still zu sein.

»Du gehörst also nicht zu den Bullen?«

»Nein, das habe ich doch schon gesagt.«

Er deutet über deine Schulter. Du drehst dich um und siehst in die Richtung, in die er zeigt. Da ist der Mann wieder. Er hat das Auto außer Sichtweite geparkt und kommt mit schnellen Schritten auf dich zu.

»Der Kerl gehört also nicht zu dir?«

Du drängst dich an ihm vorbei und versuchst, ruhig zu klingen.

»Nein.«

»Wie lange ist er schon da?«, fragt der Junge.

»Er ist mir von Winchell’s aus gefolgt«, erklärst du. Im Vorbeigehen stößt du an das Skateboard, das er sich wieder unter den Arm geklemmt hat. »Ich muss gehen. Bitte, er darf mich nicht sehen!«

Der Junge stellt sich zwischen dich und den Mann und verstellt ihm die Sicht. Du rennst nicht, verdoppelst nur deine Schrittgeschwindigkeit, um nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen. An der nächsten Ecke hörst du den Jungen rufen: »He, du Perverser, was soll das? Hör auf, ihr nachzulaufen!«

Über die Schulter hinweg siehst du, wie ihn das Mädchen mit der lila Strähne am Arm packt. Der Junge stößt ihn mit der Schulter an. Der Mann schiebt sie weg und hebt die Fäuste, als wolle er sie schlagen. Dann tritt er beiseite und weicht ihnen aus. Er murmelt irgendetwas, aber du kannst nicht hören, was er sagt.

Selbst für das kleine bisschen Zeit bist du dankbar. Die Stimmen gehen im Verkehrslärm unter und im Geräusch der lauter werdenden Autos, als die Ampel grün wird. Einen halben Block weiter ist ein großer Laden. Du siehst dich noch einmal um und hörst, wie ein Junge mit einem Nasenpiercing den Mann anschreit. Dann schlüpfst du in den Laden.

Er ist riesig. Überall stehen Regale und Tische vollgestopft mit Schallplatten, CDs und DVDs herum und an den Wänden hängen Album-Cover. Ein Mann in einem Amoeba-Music-T-Shirt packt Kisten auf einen Metallwagen. Du wirst langsamer und tust so, als seist du eine Kundin, doch dein Puls rast, du kannst sein Hämmern bis in die Fingerspitzen fühlen.

Drinnen hast du nur die Wahl zwischen einem kleinen hinteren Verkaufsraum und einer Metalltreppe nach oben. Ansonsten ist der Laden eine einzige offene Fläche mit vielen Reihen von Plastikregalen. Du gehst direkt nach hinten. Die beiden Angestellten sind so damit beschäftigt, DVDs nachzufüllen, dass sie nicht einmal aufsehen, als du an ihnen vorbeigehst.

An der hinteren Wand steht ein Kleiderständer mit T-Shirts. Hunderten von T-Shirts. Außer Sichtweite der meisten Kunden duckst du dich. Du schiebst die Drahtkleiderbügel auseinander und setzt dich an die hintere Wand, sodass dich die T-Shirts verdecken. Ein Nirvana-Shirt ist auf den Boden gefallen, damit versteckst du deine Turnschuhe.

Du schiebst die Shirts so weit auseinander, dass du gerade so hindurchsehen kannst. Von deinem Platz aus kannst du den ersten Gang und den Raum vor der Tür überblicken. Zwei Mädchen gehen vorbei. Eine nimmt eine DVD aus dem Regal und betrachtet sie, dann stellt sie sie zurück.

Im Radio läuft ein Lied, das dir bekannt vorkommt. Du erkennst nur die Melodie, die Worte nicht, aber schon das ist irgendwie beruhigend. Du hockst am Boden, hast das Kinn auf die Knie gelegt und die Arme um die Beine geschlungen, als du ihn in das hintere Zimmer kommen siehst. Er umkreist den weiten Gang. Du erhaschst einen Blick auf sein Hemd, seine Schulter und sein Profil. Als er in den Gang vor dir einbiegt, hältst du den Atem an.

Einen Augenblick lang ist er nur ein paar Schritte entfernt. Du siehst ihn von der Brust abwärts. Er steckt die Hand tief in die Tasche und bleibt so nah vor dir stehen, dass du seinen Atem hören kannst. Du verhältst dich ganz still, während er ein Handy aus der Tasche nimmt und beginnt, eine Nummer einzutippen. Dann dreht er sich um und sucht noch einmal mit den Augen den Laden ab, bevor er hinausgeht.

Du lässt den Kopf auf die Knie sinken und wagst es endlich wieder, Luft zu holen. Du bohrst dir die Fingernägel in die Handfläche, bis es wehtut, und bist wütend auf dich selbst, weil du in dieses Diner gegangen bist. Wütend, dass du immer noch hier bist, in Los Angeles. Es war ja nur eine Frage der Zeit, bis dich jemand erkennt. Die wirklich interessante Frage ist doch, wer der Mann ist und warum er sich die Mühe gemacht hat, dir zu folgen.

Ein Schwarm Touristen fällt in den hinteren Raum ein. Fünf von ihnen stehen vor dir, du kannst ihre Schuhe knapp vor deinen Füßen sehen. Sie nehmen Shirts vom Ständer und reden darüber, zum Hollywood-Zeichen zu wandern. Ein Verkäufer hilft einem Kunden, den Film Atemlos zu finden. Immer wieder wird ein anderes Lied gespielt.

Erst als du ganz sicher bist, dass er gegangen ist, stehst du auf und nimmst dir ein paar Shirts mit, die du ganz unten in den Rucksack steckst. Eines davon ziehst du dir über den Kopf, nachdem du dich vergewissert hast, dass kein Plastikschild oder Metallaufkleber an der Innenseite angebracht ist. So schnell du kannst, kriechst du unter dem Ständer hervor und verschwindest. Als du durch die Tür gehst, hältst du den Kopf gesenkt, um der Überwachungskamera des Ladens auszuweichen.

Draußen auf dem Sunset-Boulevard ist die Hölle los. Aus Restaurants und Bars kommen die Leute auf die Straße. Auch mehrere Blocks weiter in einem Wohnviertel siehst du dich immer noch nach ihm um. Er sitzt in jedem silbernen Auto, steckt in jeder Gestalt, die dir auf dem Gehweg entgegenkommt. Du durchquerst einen Hinterhof und läufst auf die Bäume zu.