11
Als du aus der Dusche kommst, dampft es so, dass das ganze Bad in eine Wolke gehüllt ist. Dass du dich in dem beschlagenen Spiegel nicht sehen kannst, ist geradezu erleichternd. So siehst du wenigstens nicht die Narbe oder die Tätowierung am Handgelenk. Du ziehst ein sauberes T-Shirt und die Pyjamahose an, die Ben dir gegeben hat. Deinen Sport-BH lässt du an, damit du dir nicht so nackt vorkommst. Im Bungalow riecht es verbrannt.
»Ich hatte Hunger«, erklärt Ben, der in der engen Küche hantiert und eine Abzugshaube einschaltet, die den Qualm aus der Pfanne absaugt. »Zweimal Käsetoast, gut durchgebraten.«
Jetzt, wo das Licht an ist, siehst du dich genauer im Poolhaus um. Es hat nur ein Zimmer, in dem die Kücheninsel das Sofa vom Herd und dem winzigen Kühlschrank trennt. Der Couchtisch ist zur Seite geschoben und das Schlafsofa ausgeklappt. Auf der dünnen Matratze liegen ein paar Decken. An den Wänden hängt nichts, nicht ein einziges gerahmtes Foto, kein Gemälde oder Poster. Die Möbel passen nicht zueinander.
»Ihr nutzt das hier nicht oft, stimmt’s?«, fragst du.
»Nein, eigentlich nicht«, antwortet Ben. Er drückt das Sandwich mit dem Pfannenwender platt, sodass Rauch um ihn herum aufsteigt. »Als meine Großmutter noch gelebt hat, hat sie hier geschlafen, wenn sie uns besucht hat. Sonst nutzen wir es gar nicht.«
Du gehst zum Fenster und schiebst die Vorhänge beiseite, damit du das Haupthaus wieder sehen kannst. Die hintere Fassade besteht nur aus Glas. Auf der rechten Seite brennt eine einzelne Lampe in einer glatten modernen Küche, vor deren Tresen ein paar Metallstühle stehen. In den Fenstern des Obergeschosses spiegeln sich die Sterne. Darunter sieht der unbeleuchtete Pool mit seiner stillen Oberfläche fast aus wie eine Pfütze auf der gefliesten Terrasse.
»Du wohnst hier also allein?«, erkundigst du dich. »Wo ist denn dein Vater?«
Ben nimmt zwei Teller aus einem Hängeschrank. Anstatt dich anzusehen, bearbeitet er die Teller mit einem Handtuch, als seien sie nicht sauber.
»Der ist vor ein paar Jahren gestorben.«
Zu gerne würdest du fragen, woran, was passiert ist, doch Bens Gesichtsausdruck hat sich verändert, du kannst ihn nicht richtig einschätzen. Er stellt die Teller hin und geht wieder zum Herd. Du musst an den Blick vom Altar denken, daran, dass es nur einen einzigen Blumenstrauß gab und die wenigen Menschen dort. Du fragst dich, wer er war. Es könnte eine Erinnerung an deinen eigenen Vater sein. Es ist seltsam, dass das eine Gemeinsamkeit sein könnte.
»Tut mir leid«, sagst du. »Ich wollte nur …«
»Das ist eine ganz natürliche Frage«, stellt Ben fest. »Sie ist nur schwierig. Meine Mutter soll eigentlich nächsten Monat nach Hause kommen, aber wer weiß. Also ja … im Augenblick bin ich hier allein. Im Sommer werde ich achtzehn, daher können sie nichts dagegen machen. Niemand kann mich zwingen, bei meiner Tante zu bleiben.«
»Ich dachte, sie hätte dich rausgeschmissen.«
»Du nimmst es aber ganz genau, oder?«, stellt Ben lachend fest.
Er will an dir vorbei an eine Schublade, doch es ist zu eng in der kleinen Küche. Einen Augenblick lang ist sein Körper nur Zentimeter von deinem entfernt und du spürst seinen Atem auf deiner Haut.
Als du schließlich zu ihm aufsiehst, tritt er zurück. Seine Wangen glühen und er schiebt die Sandwiches mit dem Pfannenwender hin und her. Du beobachtest ihn und wartest ab, ob er dir in die Augen sieht, doch das tut er nicht.
»Du könntest Ärger bekommen, wenn du mich hier schlafen lässt«, sagst du.
Er sieht immer noch nicht auf, sondern legt eines der Sandwiches auf einen Teller und schiebt ihn dir zu.
»Ich könnte wegen einer Menge Dinge Ärger bekommen.«
»Aber ich meine richtigen Ärger. Immerhin gewährst du einer flüchtigen Person Unterschlupf. So eine Art von Ärger.«
Er nimmt seinen Teller und setzt sich auf den Rand des Sofas. Schulterzuckend beißt er in sein Sandwich.
»Es gibt keinen Grund für dich, hier zu sein, weitab von allem. Sie können doch nicht wissen, dass wir uns getroffen haben, oder?«
»Ich glaube nicht.«
»Dann ist doch alles gut, oder? Du hast ja wohl nicht vor, hier eine Party zu schmeißen.«
»Keine Partys, nein.« Lachend nimmst du einen Bissen. Zum ersten Mal seit Tagen isst du etwas, was nicht aus einer Plastikverpackung kommt.
»Ich mache mir keine Sorgen. Du wirst das schon hinkriegen.« Er streicht sich das Haar aus der Stirn. »Außerdem ist es cool, wenn mal jemand hier ist.«
Er lächelt und plötzlich bist du dir seiner Nähe bewusst. Seine Schulter berührt deine. Der Ärmel seines T-Shirts streift deinen Arm. Seine Hose sitzt tief und lässt einen schmalen Streifen seines Rückens erkennen.
»Ich wette, es war die Belohnung«, sagt er und nimmt einen weiteren Bissen von seinem Sandwich.
»Was?«
»Ich wette, dass dir der Kerl deshalb gefolgt ist. In den Nachrichten hieß es, dass es eine Belohnung für Hinweise gibt. Wahrscheinlich hat er dich erkannt.«
Deine Eingeweide verkrampfen sich, und du denkst an all das, was du nicht gesagt hast. Dir ist klar, dass das nicht der Grund ist, doch Ben kann das nicht wissen.
»Vielleicht.«
»Na, falls sie dich finden sollten, sage ich einfach, ich hätte keine Nachrichten gesehen. Und sie können nicht das Gegenteil beweisen.« Im Licht wirken seine grauen Augen blasser, fast durchsichtig. »Also … Sunny.«
»Warum sagst du das so?«
»Na, es ist ja nicht so, dass es ein richtiger Name wäre …«, erwidert er und grinst dich frech an.
Normalerweise wärst du beleidigt, aber er sagt es so verschmitzt, dass du nicht böse sein kannst.
»Nun, wenn ich meinen richtigen Namen herausgefunden habe, erfährst du ihn als Erster.«
»Aber irgendwie passt er zu dir. Zu deinem sonnigen Gemüt …« Sein Grinsen breitet sich über sein ganzes Gesicht aus und unwillkürlich musst auch du lächeln.
Du willst etwas erwidern, doch er kommt dir zuvor und nimmt deinen Ellbogen, so wie er es bei eurem ersten Treffen getan hat. Er hebt deinen Arm und betrachtet den Schnitt.
»Sieht schon besser aus«, meint er.
»Ein Typ im Supermarkt hat mir gesagt, es sei ernst.«
»Nee. Sieht gut aus. Der Kerl ist wahrscheinlich ein Idiot.« Bens Gesicht ist nur Zentimeter vor deinem. »He, willst du mal was sehen?«
»Was denn?«
»Komm mit. Morgen wirst du ja ein wenig Freizeit haben.«
Er läuft hinaus und winkt dir, ihm zu folgen. Als du durch den Garten gehst, fühlst du dich anders, lockerer, und du merkst, dass du nicht das Grundstück absuchst oder dich umsiehst. Du bist Meilen weit vom Freeway und allem, was am Morgen passiert ist, entfernt. Die Frau, die versucht hat, dich umzubringen, ist tot. Du musst glauben, dass der Mann, egal, warum er dich verfolgt hat, dich gerettet hat. Er hätte dich töten können, aber das hat er nicht. Du fühlst dich zwar nicht vollkommen sicher, denn nach dem, was du gesehen hast, kannst du dich überhaupt nicht mehr sicher fühlen, aber Ben hat recht. Hier ist es sicherer. Sicherer beschreibt es richtig.
»Der Schlüssel liegt gleich hier unter dem Stein«, sagt Ben und zeigt neben die Tür. Er nimmt seinen eigenen Schlüssel aus der Hosentasche, macht die Tür auf und geht rein. An der Wand stehen schmutzige Turnschuhe aufgereiht. Auf dem Boden liegen ein Basketball, daneben eine Jacke und ein paar Bücher.
Schon auf halbem Weg durch den Flur merkst du, wie leer das Haus ist. Keine Musik, keine Gerüche, die aus der Küche kommen, keine beruhigenden Geräusche von klapperndem Geschirr in der Spüle. Es ist still, nur deine eigenen Schritte sind zu hören und vor dir siehst du den nackten Esstisch im Schein einer einzelnen Lampe.
»Ich hasse es hier oben«, sagt Ben, und du fragst dich, ob er es dir am Gesicht ansehen konnte, ob er weiß, dass du dasselbe denkst. Du folgst ihm die Treppe hinunter. »Normalerweise schlafe ich unten auf dem Sofa. Die hier haben meinem Vater gehört …«
An den Wänden im Untergeschoss stehen Spielautomaten. Ein paar Flipper, ein Pac-Man-Tisch, mehrere Skee-Ball-Maschinen. Am Ende einer langen, L-förmigen Couch in der Ecke liegen Bens Sachen. Am anderen Ende Kissen und eine Decke. Er geht hinüber, hebt Chipstüten auf und steckt ein paar Medizinfläschchen in die Schublade des Couchtisches.
»Hat er die gesammelt?« Du setzt dich an den Pac-Man-Tisch und nimmst einen Vierteldollar aus einer Rolle darauf. Du wirfst sie ein und bewegst den Joystick, doch innerhalb weniger Sekunden hast du dein erstes Leben verloren.
»Weiter draußen gibt es einen Laden, wo sie sie verkaufen«, erklärt Ben. »An meinem Geburtstag ist er immer mit mir dorthin gegangen, damit ich mir einen aussuchen kann.«
»Wie alt warst du da?«
»Den ersten habe ich mit zwölf bekommen«, sagt Ben. Er beobachtet, wie du das nächste Spiel beginnst, aber gleich in einer Ecke festsitzt, weil sich der Joystick nicht so bewegt, wie du es willst. Er legt seine Hand über deine, bevor dich der Geist erwischt und hilft dir, von ihm wegzukommen. Du spürst die Hitze seiner Handfläche.
»Siehst du«, sagt er, »Du wirst besser.«
Er lässt deine Hand los und setzt sich dir gegenüber.
»Du hast den Heimvorteil«, sagst du.
»Mach dich bereit«, antwortet er und lacht. »Dafür habe ich sechs Jahre gebraucht!«
Er steckt weitere Münzen ein und das elektronische Lied beginnt. Er sieht dich an und lächelt dieses breite, alles einnehmende Lächeln. »Ich bin froh, dass du dich entschlossen hast zu bleiben.«
Das nächste Spiel beginnt. Das Motelzimmer scheint weit weg.
»Ich weiß«, erwiderst du. »Ich auch.«