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Als du eintrittst, sieht sich die Verkäuferin einen Cartoon an, den Blick auf den kleinen Flachbildschirm in der Ecke gerichtet. Über ihrem Arm hängen drei Kleider. Während sie sie sortiert, dreht sie sich zu dir um und sieht dich an.

»Kann ich dir helfen?«, fragt sie.

»Danke, ich sehe mich nur um«, antwortest du und verschwindest in einem Nebengang.

Sie macht ein paar Schritte, um dich sehen zu können. Wahrscheinlich liegt es an deiner schmutzigen Jeans und dem dreckigen, verschwitzten T-Shirt. Du siehst aus wie ein möglicher Ladendieb. Und eigentlich hast du das Gefühl, dass sie mit dieser Vermutung gar nicht so weit danebenliegt. Schon überlegst du, wie einfach es wäre, einen Stapel Shirts aus einem Regal zu nehmen, zwei oder drei davon in deine Tasche zu stecken, wenn sie nicht hinsieht, und einfach zu gehen. Du gehst den nächsten Gang entlang und endlich wendet sie sich ab.

Fast zwölf Stunden hast du dich hinten in einem Parkhaus gegenüber von dem Büro hinter einem Pick-up versteckt. Du hast gesehen, wie Cops kamen und gingen und sich das Gebäude leerte, als es dunkel wurde. Als du endlich ein Taxi gefunden hast, dessen Fahrer eigentlich bereits Feierabend hatte, und ihn gebeten hast, dich wieder nach Norden zu bringen, war es schon fast zwei Uhr.

Die Nacht hast du auf einem Spielplatz verbracht. Immer noch hast du überall Sand – in den Socken, in den Hosentaschen, hinter den Ohren. Du fragst dich immer noch, ob du dich an die Polizei wenden sollst. Doch du kannst ihnen nichts erklären. Seit du weggelaufen bist, musst du die ganze Zeit an deine Hand auf dem Türknauf denken und wie du das Messer gegen das Schloss gedrückt hast, um es zu knacken.

Du gehst zwischen den Regalen durch, nimmst ein schwarzes T-Shirt mit einem blassen Logo, das eine um eine Rose gewickelte Schlange zeigt. Ein enges Tanktop und kurze Jeans, deren vordere Taschen durch die Risse zu sehen sind. Du findest leicht die Sachen, die du magst. Als du sie im Arm hältst, fällt dein Blick auf eine Alternative – schlichte Baumwoll-Shirts und Kaki-Shorts, sowie einen Gürtel mit einer Sonnenblume aus Metall auf der Schnalle. Du lässt deine ursprüngliche Auswahl fallen, und mit dem Gefühl, dich zu verkleiden, entscheidest du dich für die neutraleren Klamotten.

Das Telefon auf dem Tresen klingelt. Die Angestellte nimmt ab und begrüßt jemanden namens Cosmo, dem sie von einem Vorsprechen erzählt, während sie deinen Einkauf entgegennimmt.

»Nein, das ist für die Rolle der Akupunkteurin«, sagt sie, das Telefon zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Sie zieht ein T-Shirt über den Ladentresen, wobei ihr Blick erneut auf deine schmutzige Hose fällt.

Auf dem Bildschirm hinter ihr ist die Werbung zu Ende und die Morgennachrichten beginnen. Der Sprecher mit seiner geraden, glänzenden Nase und den hoch auf die Stirn gezogenen Brauen wirkt künstlich. Er beginnt mit einer Geschichte über einen wilden Bären in den Hügeln von Agoura und macht dann mit Informationen über das Schulbudget weiter. Die Verkäuferin müht sich mit dem Preisschild für eines der T-Shirts ab. Sie winkt zu einem Regal, als wolle sie sagen: Ich muss den Preis nachschauen.

Sie ist unglaublich langsam und hält alle paar Augenblicke an, um zu telefonieren, während sie mit der Hand in die Regale greift. Du stützt beide Ellbogen auf den Tresen, wobei du darauf achtest, den rechten Arm unter dem linken zu verstecken, damit die Wunde nicht sichtbar ist. Du spürst die geschwollene Haut an deinem Handgelenk, wo sich das Tattoo befindet. Sie ist immer noch empfindlich. FNV02198. Vielleicht ist das dein Geburtstag: 1. Februar 1998. Damit wärst du sechzehn, in ein paar Monaten siebzehn Jahre alt. Vielleicht sind es deine Initialen. Farrah Natasha Valente. Faith Neely Vargas … Die Spekulationen sind irgendwie beruhigend. Du fragst dich, ob der Vogel eine bestimmte Bedeutung für dich hat.

Du bist ziemlich abwesend, als sie das Bild zeigen. Zuerst erkennst du die Lobby, das leere Podest und die quadratischen Fenster über dem Eingang.

»Die Polizei bittet um Informationen bezüglich eines Einbruchs in Downtown Los Angeles.«

Sie zeigen ein Bild von dir, wie du in die Überwachungskamera siehst. Und ein weiteres vor dem Büro, wie du das Messer in das Schloss steckst und die Tür aufbrichst.

»Der Polizei zufolge ist die Einbrecherin mit über zehntausend Dollar entkommen. Wenn Sie irgendwelche Informationen haben, wenden Sie sich bitte an das Infotelefon der Verbrechensbekämpfung.«

Das Mädchen kommt zurück, wirft einen Blick auf den Fernseher und dann auf dich, sieht einen Augenblick lang deine Haare an und dann dein T-Shirt. Du drehst dich zum Regal hinter dir, greifst nach einer Vintage-Brille und legst zwei Blusen darüber, die du aus einem anderen Regal ziehst. Als sie wegsieht, steckst du die Brille in die hintere Hosentasche und legst die Blusen zum Stapel. Noch einmal sieht die Verkäuferin auf den Bildschirm, doch dort läuft jetzt wieder Werbung.

Du versuchst die Hand ruhig zu halten, als du der Verkäuferin einen Hundert-Dollar-Schein reichst. Es war dumm von dir, hierher zurückzukommen, nur ein paar Blocks von der U-Bahnstation entfernt. Gestern Nacht bist du zurückgekehrt, weil es der einzige Ort war, den du kanntest, aber es dauert bestimmt nicht lange, bis dich jemand erkennt. Zum ersten Mal, seit du aufgewacht bist, spürst du, wie es dir die Kehle zuschnürt und dir die Augen so feucht werden, dass du den Kopf wegdrehst, damit das Mädchen es nicht sieht.

Mit gesenktem Blick nimmst du die Tüte entgegen, die sie dir hinhält. Sie telefoniert immer noch, als du in die drückende Hitze hinaustrittst, begleitet vom Klingeln der Türglöckchen.

Im Motelzimmer ist es ruhig. Das Fenster geht zu einer Ziegelmauer hinaus. Du stehst vor dem Spiegel an der Tür und betrachtest dein neues Ich.

Du hast geduscht, dich gekämmt und bist Schmutz und Dreck losgeworden. Dein gerade geschnittener Pony sitzt genau über den Augenbrauen. Die Brillengläser sind aus dünnem Kunststoff, der Rahmen aus klarem Plexiglas. Das langärmelige T-Shirt, das du dir gekauft hast, hat dunkelrote Blumenverzierungen am Ausschnitt und an den Ärmeln. So etwas würde eigentlich nur jemand tragen, der in einem Pflegeheim arbeitet.

Das bist nicht du – nicht die ausgewaschenen Jeans oder der Gürtel, den du vom Ständer genommen hast. Nicht einmal die Plastikuhr. Auch wenn du sonst nicht viel weißt, das weißt du mit Sicherheit. Du spielst eine Rolle. Ein unauffälliges Mädchen. Ein wenig hausbacken, ein wenig prüde. Selbst dein Spiegelbild ist dir fremd.

In der Ferne hupt jemand eindringlich. Du versuchst, dich aufs Bett zu legen, doch es fühlt sich zu weich, zu fremd an, daher packst du Laken und Decken auf den Teppich. Du ziehst ein T-Shirt an, nimmst die Brille ab und streckst dich neben dem Bett aus. Der Boden unter deinem Rücken fühlt sich gut an. Du schließt die Augen und stellst dir vor, dass, wenn du sie nur lange genug geschlossen halten kannst, die Welt da draußen eine ganz andere ist, wenn du sie wieder öffnest. Du könntest aufwachen und wissen, wer du bist, die Narbe im Spiegel könnte dir sofort bekannt vorkommen. Du wirst aufwachen und wissen … du könntest aufwachen und wissen …

Du liegst und lauschst auf die Geräusche, die von draußen hereindringen. Du wirfst den Arm über das Gesicht und legst den Ellbogen über die Augen, um das Licht abzuschirmen. Du wälzt dich herum, drehst dich von einer Seite auf die andere. Doch du kannst nicht einschlafen.

Noch einmal gehst du in Gedanken alles durch und sortierst die Fakten wie kostbare kleine Steinchen. Du bist auf den U-Bahnschienen in Los Angeles aufgewacht. Du wurdest in ein Büro bestellt, das aussah, als hättest du es ausgeraubt. Du weißt, wie man eine Tür mit einer Messerklinge aufbricht und du hast das wahrscheinlich schon oft getan.

Wer auch immer dich in dieses Büro gelockt hat, wollte nicht nur, dass du dich von der Polizei fernhältst, sie wollten sichergehen, dass du unter keinen Umständen zur Polizei gehen kannst, egal wie verzweifelt zu bist. Aber warum das alles?

Den Fernseher willst du nicht anstellen, weil du Angst hast, wieder dieses Bild von dir zu sehen. Stattdessen greifst du zum Telefonhörer und rufst noch einmal die Nummer aus dem Notizbuch an. Die Nummer von Garner Consulting. Es klingelt und klingelt und klingelt. Du legst auf und versuchst es erneut, doch auch jetzt geht niemand ans Telefon.

Als die Stille unerträglich wird, ziehst du die Nachttischschubladen auf und suchst nach etwas, mit dem du dich ablenken kannst. Sie sind leer bis auf die oberste, in der ein in schwarzes Leder gebundenes Buch liegt. Die Bibel ist in Goldbuchstaben auf den Einband geprägt. Unwillkürlich starrst du das rote Bändel an, mit dem man die Seiten markiert. Du nimmst es in die Hand und lässt das dünne Satinband durch deine Finger gleiten. Dann schlägst du eine Seite auf, und plötzlich überfällt es dich, die Erinnerung an den Geruch von Weihrauch.

Das Geräusch umgibt dich, der hohle, traurige Klang deiner guten Schuhe auf dem Marmorfußboden.

Es ist alles so klar. Während du den Gang entlanggehst, wagst du es nicht, auf die Kirchenbänke neben dir zu sehen, sondern hältst deinen Blick auf den Sarg gerichtet. Er steht gleich vor dem Altar auf einer ausfahrbaren Metallbühne mit Rädern, verhüllt mit einem weißen Leinentuch. Du legst die Hand auf den Sarg und stellst dir vor, dass sie durch das Holz und das Futter und den Stoff sinken könnte, bis sie auf seiner läge. Es war nicht sein Körper oder sein Gesicht, es war nur eine leere Hülle, als wäre das Leben einfach aus ihm herausgesickert. Wie lange hast du neben dem Sarg gekniet? Wer hat dich schließlich fortgezogen? Dann kam dieses Geräusch – ein dumpfes, schreckliches Geräusch, als jemand den Deckel schloss. Eine Frau, das Gesicht in den Händen verborgen, war in gebeugter Haltung nach vorne gekommen. Sie hatte nicht hinsehen können.

Sieh sie nicht an, denkst du, als du zum Altar gehst. Du hältst dich mit beiden Händen am Pult fest, um das Gleichgewicht zu halten. Bis auf die Menschen in der ersten Reihe ist die Kirche leer. Du spürst schon, wie sie dich beobachten und mit erwartungsvollem Blick ansehen. Du wirfst einen kurzen Blick auf die leeren hinteren Bänke, bevor du auf das Buch vor dir starrst.

Du spielst mit dem roten Satinband, das die Seite markiert, und holst lange und kraftlos Luft. Das Letzte, was du hörst, ist deine Stimme, die irgendwie von außerhalb deines Körpers zu kommen scheint und die Worte fast flüstert.

»Lesung aus dem Buch Ecclesia.«

Dann taucht das Motelzimmer wieder auf. Du bist zurück, sitzt wieder auf dem Bettrand und die Erinnerung mit all ihren Geräuschen ist weg. Du lässt die Bibel in die Schublade fallen und schließt sie. Dein Gesicht fühlt sich irgendwie fremd und merkwürdig an, und einen kurzen Moment lang bist du so erleichtert, dass du dich an irgendetwas erinnert hast, dass du tatsächlich lächelst.

Es ist nur ein kurzer Moment, der von einer plötzlichen Gefühlswelle weggespült wird. Jemand ist gestorben, jemand ist gestorben. Du weißt nicht, wer er war oder wie es passiert ist, aber es ist, als hätte man dir ein wichtiges Organ entfernt und als wäre das Leben jetzt schwieriger und gefährlicher. Mit Tränen in den Augen rollst du dich zusammen.

Er ist tot, denkst du, obwohl du nicht weißt, wer, nur dass er wichtig für dich war. Du hast ihn geliebt und er ist gestorben.