13
»Cousine Rita.«
Ben parkt den Jeep und schaltet den Motor aus. Während der ganzen Fahrt hat er nicht aufgehört zu grinsen.
»Rita? Im Ernst? Wie wäre es mit Tess oder Sadie? Irgendetwas Cooleres.«
Du ziehst die Sichtblende herunter und betrachtest dein Spiegelbild. Du hast deinen Pony glatt frisiert, sodass er direkt über deiner Brille sitzt und deine Augenbrauen verdeckt.
»Ich finde Rita lustig.«
»Das ist ein Name für eine alte Frau.«
»Deshalb ist er ja so lustig.«
Du siehst aus dem Beifahrerfenster. Auf dem Rasen laufen Jugendliche herum. Einige haben rote Trinkbecher in der Hand, andere ziehen Flachmänner aus der Hosentasche. Auf der Fahrbahn liegen zerknüllte Dosen. Hinter dem Zaun kannst du auf die Menge schauen, hüpfende Köpfe und gelegentlich eine Hand, die sich in die Luft streckt.
»Ich hätte heute nicht mit dem Mädchen reden sollen …«, greifst du euer Gespräch von zuvor wieder auf. Du fährst mit dem Finger unter dem Lederarmband entlang. Ben hat es in einer Schublade gefunden und dir gegeben. Es verdeckt jetzt die Tätowierung.
»Was hättest du denn tun sollen? Sie ignorieren? Das wäre noch merkwürdiger gewesen.«
Ben nimmt ein paar Plastiktütchen aus dem Handschuhfach und steckt sie ein.
»Die Nachrichtensendung war vor drei Tagen. Wenn sie sie bis jetzt nicht gesehen hat, dann sieht sie sie auch nicht mehr«, behauptet Ben. »Ich habe dich schließlich dort hingefahren, und selbst ich musste es mir zweimal ansehen, bevor ich sicher war, dass du es bist. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass jemand meiner Mutter erzählt, ich hätte ein Mädchen hier. Und die ist wahrscheinlich erleichtert, dass ich nicht nur allein zu Hause rumsitze, Computer spiele und Chips mampfe.«
Er steigt aus und winkt dir, ihm zu folgen. Auf dem Rasen sitzt ein Pärchen, das wild rumknutscht. Aus ihrem Becher schwappt das Bier über.
»Also, was erzählen wir?«, willst du wissen. »Dass ich deine Cousine bin?«
Ben lacht. »Ja klar. Aber es wird keiner fragen. Wir sind in zehn Minuten wieder draußen.«
Du hältst den Kopf gesenkt, als du aussteigst, und hebst die Hand vor dein Gesicht. Die Musik ist laut. Das Haus liegt an einem Hügel über der Stadt, die sich ruhig unter euch erstreckt. Ben läuft vor dir her. Er hält seine Hand auf der Tasche und fühlt nach den kleinen Plastiktütchen, die er mitgenommen hat. Er hat versprochen, nur etwas abzugeben. Zehn Minuten, wir halten da nur kurz an, hatte er versprochen.
Er klatscht einen Jungen mit einer Dodgers-Mütze ab. Du schlängelst dich durch die Menge, vorbei an Mädchen mit stark geschminkten Augen und perfekt gestylten Locken.
»Rex, das ist meine Cousine Rita!«, ruft Ben. Ein Junge mit blutunterlaufenen Augen lächelt und nickt dir zu. Ben geht weiter auf eine gläserne Schiebetür zu. Dahinter lassen ein paar Kids eine Wasserpfeife kreisen. Ben dreht sich um und nimmt dich an der Hand.
»Ich bin gleich wieder da«, sagt er. »Versprich mir, in nicht allzu große Schwierigkeiten zu geraten.«
»Ich tue mein Bestes.« Du drehst dich um und siehst dich in dem überfüllten Garten um. Ein Junge ist mit allen Kleidern in den Pool gesprungen. Jetzt bläht sich sein T-Shirt um ihn herum und seine Jeans kleben an seinen dürren Beinen.
Als Ben drinnen verschwindet, gehst du unter alten Weihnachtsbeleuchtungen über die Terrasse zu einem Tisch mit halb leeren Flaschen. Dort pressen zwei Mädchen Limetten in ein rosa Gebräu. Du kippst Whiskey auf Eis und genießt es, wie dir nach dem ersten Schluck die Wärme durch die Kehle rinnt. Ben hat recht. Niemand nimmt Notiz von dir. Die Mädchen reden über Freunde, mit denen sie sich in irgendeinem Park getroffen haben, dass sie dort gelegentlich etwas trinken (weil dort keine Cops rumlaufen), und vielleicht gehen sie morgen ins Palladium, um eine Band zu sehen, die dort spielt.
Es ist befreiend, sich unter so vielen Menschen zu verlieren. Ein paar Jungs spielen neben dem Pool Bierbong. Andere Kids liegen mit nassen, verstrubbelten Haaren und halb geschlossenen Augen im Gras. Du trägst ein weites T-Shirt, eine Kapuzenjacke und Shorts, ein Outfit, das dich an sich schon unsichtbar macht. Kein einziger Junge sieht sich nach dir um. Niemand achtet auf dein Gesicht. Du setzt dich auf die Terrasse, ziehst die Schuhe aus und lässt die Füße in das kalte, klare Wasser baumeln.
Du nippst an deinem Drink und beobachtest, wie sich die Party vor deinen Augen entwickelt. Der Junge schwimmt zu einer Badeinsel und stützt sich mit den Armen darauf. Auf dem Rasen tanzen ein paar Mädchen. So sieht Normalität aus, denkst du.
Während dir warm wird, nimmt der Schmerz in deiner Seite ab. Du weißt nicht, wie viel Zeit vergangen ist, als Ben wiederkommt. Er sieht in deinen Becher.
»Amüsierst du dich?«
»Ich hätte dir auch einen machen sollen.«
»Nein, ich trinke nicht.«
Er lächelt nicht, als er das sagt, daran erkennst du, dass er es ernst meint.
»Warum?«
»Weil … Ich weiß nicht. Ich tue es einfach nicht.«
»Also, du rauchst nicht und du trinkst nicht … warum verkaufst du dann Gras?«
Er lächelt schief. Dann beugt er sich zu dir und flüstert leise: »Sei vorsichtig mit deinem Urteil, Miss Vom-LAPD-gesucht.«
»Komm schon, das ist eine faire Frage.«
»Ich verkaufe es, um Geld zu verdienen. Machen das nicht die meisten Menschen so?«
Du nippst noch einmal an deinem Drink, die letzten wässerigen Tropfen.
»Gehst du mit den Leuten hier zur Schule?«
»Die gehen auf Privatschulen«, erwidert er. »Ich bin an der Marshall High. Für die existiere ich gar nicht.«
Du weißt nicht genau, wo die Marshall High ist, aber es erklärt die Fahrt zu diesem Haus, die über eine Stunde dauerte und durch die engen Straßen in den Schluchten führte, in denen man jenseits des Scheinwerferkegels nichts mehr erkennen konnte. So weit draußen fühlst du dich noch weiter weg von allem, was passiert ist, von der Angst, dass dich jemand aus den Nachrichten erkennen könnte.
»Bin ich gut darin, mich normal zu verhalten?«, erkundigst du dich.
»Ja, du fügst dich ganz gut ein«, bestätigt Ben und lacht. »Fühlst du dich denn normal?«
»Normaler als ich mich die ganze letzte Woche gefühlt habe.«
»Meistens bleibe ich nach der Schule so lange wie möglich weg«, erklärt Ben. »Die Kids gehen zum Griffith Park und treffen sich auf dem Parkplatz. Oder ich fahre einfach nur herum. Aber heute war das erste Mal, dass ich gleich nach Hause kommen wollte. Das war seltsam.«
»Danke … denke ich?«
Ben lacht. »Mit seltsam meinte ich auf angenehme Weise seltsam.«
Als er in der Schule war, hast du das Bild auf dem Kamin betrachtet. Es zeigt seinen Vater, seine Mutter und ihn im Alter von vielleicht zwölf oder dreizehn Jahren. Es war ein formeller Anlass, Ben trug Anzug und Krawatte. Seine Mutter lachte und sah an der Kamera vorbei. Sie schienen glücklich, erstarrt in diesem perfekten Augenblick.
»Wann ist das passiert?«, fragst du. »Dein Dad, das mit deiner Mutter …«
»So viele Fragen …«
»Du musst nicht antworten.«
»Mein Dad ist vor drei Jahren gestorben. Er war zehn Jahre älter als meine Mutter und wurde krank. Er hatte Husten, aber er ignorierte es und ging weiter arbeiten. Und dann wurde es schlimmer. Er kam ins Krankenhaus … und dann starb er.«
»Was war es?«
»Lungenentzündung. Ich war total wütend, weil es so dumm war. Wenn er früher zum Arzt gegangen wäre, wäre er wahrscheinlich nicht gestorben.«
Wieder denkst du an die Beerdigung, an die Kirche, die für diese wenigen kurzen Minuten existiert hat. Wann warst du dort? War das in dem Sarg dein Vater? Du möchtest es erwähnen, aber es scheint nicht richtig. Als ob du sein Leben mit einem erfundenen vergleichen würdest, etwas, von dem du nicht einmal weißt, ob es real ist.
Er sieht zur Party, beobachtet die Kids, wie sie sich durch den vollen Hof schieben. Einige halten ihre Becher über den Kopf.
»Und meine Mutter … ich weiß nicht, wann das passiert ist. Ich weiß, dass sie sich um viele Dinge kümmern musste, als mein Vater gestorben ist. Es gab vieles, was er ihr nicht erzählt hat, und ich weiß, dass sie gestresst war. Doch dann stellte ich fest, dass sie irgendwie … neben der Spur war. Sie begann, Dinge vor mir geheim zu halten. Sie war wie ein völlig anderer Mensch. Vor zwei Monaten ist sie dann in die Klinik gegangen.«
Du schiebst deine Hand unter seine Finger, nur um zu sehen, wie sich das anfühlt. Er sieht ernst aus, und einen Augenblick lang bist du vorsichtig, fast nervös. Sein Gesicht ist ganz dicht vor deinem.
Ben nimmt deine Hand und drückt sie. Er zieht sie an sich wie etwas Kostbares, dreht sie und nimmt sie zwischen seine beiden Hände. Dann sieht er zur Party. Ein paar weitere Kids sind mit Kleidern ins Wasser gesprungen. Ein Mädchen sitzt in ihren Jeansshorts auf der Treppe, ihr Hemd und ihre Haare sind nass und die Wimperntusche läuft ihr über das Gesicht.
»Das ist also die Geschichte«, sagt Ben. Er wendet sich zu dir und lächelt. »Noch weitere Fragen? Oder können wir jetzt einfach relaxen?«
»Keine weiteren Fragen«, versprichst du.
»Na gut, dann lass uns hier verschwinden.« Er springt auf und zieht dich mit. Du steckst die nackten Füße in deine Turnschuhe, doch Ben ist schon unterwegs, und du musst dich anstrengen, hinter ihm her zu stolpern.
»Wohin gehen wir denn?«
»Schwimmen.«
Er sieht sich nicht um. Im Pool versucht ein Junge, auf eine pinkfarbene Schwimminsel zu klettern.
»Wo? Bei dir zu Hause?«, fragst du.
»Besser«, sagt er. »Du wirst schon sehen.«