3

Am nächsten Morgen verschwindest du durch eine Lücke im hinteren Zaun. Nachdem du zehn Minuten durch die engen Straßen gelaufen bist, kommst du in eine Gegend mit ebenen Straßen, sonnenverbrannten Rasenflächen und ein paar wenigen Läden. Auf der Hauptstraße entdeckst du einen Supermarkt, vor dem sich eine Telefonzelle befindet. Du nimmst das Notizbuch aus dem Rucksack, schlägst die erste Seite auf und löst den Vierteldollar heraus.

Er fällt durch den Schlitz, doch es ertönt kein Freizeichen. Du legst den Hörer auf und siehst dich um, ob es in der Nähe vielleicht noch eine weitere Telefonzelle gibt, doch du siehst nur den Streifenwagen, der am Ende der Straße auftaucht. Du befindest dich immer noch in der Nähe der U-Bahn-Station und fragst dich, ob sie vielleicht nach dir suchen. Wahrscheinlich sind bei ihnen inzwischen wesentlich wichtigere Informationen eingegangen, über Überfälle und Autounfälle, doch du willst lieber nichts riskieren, daher betrittst du den Supermarkt, wobei du den Arm vor die Brust hältst, um den Blutfleck auf deinem T-Shirt zu verdecken.

Einladend gleiten die Schiebetüren auseinander. Als Erstes fällt dir die Luft auf, die kühl und feucht ein wenig nach Minze riecht. Links von dir siehst du hinter ein paar Tischen eine Tür zu den Toiletten. Mit gesenktem Kopf gehst du darauf zu, ohne viel Aufmerksamkeit zu erregen.

Die Tür geht auf und prallt gegen deinen Arm. Ein Junge kommt heraus und trifft dich heftig mit der Schulter an der Nase. Er packt dich am Ellbogen, weil du stolperst, und zieht dich zu sich, um dich festzuhalten.

Hinter ihm kommt ein weiterer Junge aus der Tür raus und steckt etwas in seine Tasche. Gleich darauf ist er verschwunden.

Deine Nase pocht heftig von dem Schlag und tut so weh, dass du die Augen zusammenkneifst. Der Junge lässt dich nicht los. Sanft zieht er deine rechte Hand von deinem Bauch, so sanft, dass du keinen Widerstand leistest. Dann betrachtet er den Fleck auf deinem T-Shirt und den Schnitt in deinem Unterarm, wo das Blut zu einem tiefen Kirschrot getrocknet ist.

»Du bist verletzt«, stellt er fest.

Seine braunen Haare sind verstrubbelt und seine Locken reichen ihm bis über die Ohren. Von der Sonne ist seine Haut gebräunt und sommersprossig. Er beobachtet dich und mustert mit seinen grauen Augen dein Gesicht, als lese er in einem Buch.

»Ich muss mich nur waschen«, erklärst du, ziehst deinen Arm weg und gehst zu den Toiletten.

Erst als sich die Tür mit einem Klicken hinter dir schließt und verriegelt ist, entspannst du dich. Ein Blick in den Spiegel zeigt dir, was der Junge gesehen hat. In deinem Haaransatz klebt Schmutz und Teile trockener Blätter haben sich darin verfangen. Der Fleck auf deinem T-Shirt hat sich schmutzig braun verfärbt. Zum ersten Mal betrachtest du dich selbst. Deine großen, tief liegenden Augen sind so dunkel, dass sie fast schwarz sind. Du hast hohe Wangenknochen und einen kleinen, herzförmigen Mund. Deine Gesichtszüge sind dir unbekannt, es ist das Gesicht eines Mädchens, das du noch nie gesehen hast.

Du drehst dich zur Seite, und da fällt dir die Narbe auf, die sich unterhalb deines rechten Ohrs bis in den Nacken erstreckt. Die Haut darum herum ist geschwollen und gerötet. Mit dem Finger folgst du der Narbe bis unter den Saum deines T-Shirts. An manchen Stellen schmerzt sie noch und windet sich in einer merkwürdig ungleichmäßigen Linie über deine Haut. Du wendest dich ab, denn du willst gar nicht daran denken, wie du sie bekommen hast. Das stammt nicht von dem Zug, so viel weißt du. Wann ist das geschehen? Und wie?

Es dauert nur ein paar Minuten, den Dreck unter deinen Fingernägeln zu entfernen, das frische T-Shirt anzuziehen und die Blätterteile aus deinem Haar zu klauben. Danach siehst du besser aus, eigentlich sogar ganz passabel. Du legst das Haar so über die Schulter, das es die Narbe verdeckt.

Du verlässt die Toilettenräume und siehst dich im Supermarkt nach dem Jungen um. Einerseits hoffst du, dass er fort ist, doch eigentlich bist du froh, ihn zu sehen, ein paar Schritte weiter, wie er durch die Grußkartenabteilung schlendert. Als er die Tür hinter dir zufallen hört, dreht er sich um und beginnt zu lächeln. Du drehst dich um, weil du fürchtest, dass auch der Cop aus dem Streifenwagen hereingekommen ist.

Du biegst scharf in den ersten Gang ein. Dort ist niemand. Du nimmst eine Wasserflasche aus einem Regal, schraubst sie auf und hast bereits die halbe Flasche ausgetrunken, als du den Jungen neben dir bemerkst. Er sieht von der Flasche zu dir und zu dem leeren Platz im Regal.

»Du siehst schon viel besser aus.«

»Wie ich schon sagte, ich musste mich nur waschen.«

Du wendest dich ab und gehst weiter den Gang entlang, doch er folgt dir nach ein paar Schritten. Er sieht deinen Arm an und bemerkt, dass das Toilettenpapier, das du darauf gepresst hast, rot gefleckt ist.

»Was ist passiert? Bist du okay?«

»Sieht schlimmer aus, als es ist. Es geht mir gut, wirklich.«

Doch er geht nicht.

»Sieht ziemlich schlimm aus.«

»Mein Arm ist ehrlich gesagt mein geringstes Problem …«

Du siehst zum Ladeneingang und suchst erneut nach dem Cop. Doch er ist nicht zu sehen. Der andere Junge aus dem Waschraum ist auch verschwunden.

»Was hast du ihm verkauft?«, fragst du.

»Was meinst du?«

»Auf der Toilette … du hast dem Jungen irgendetwas verkauft. Gras? Pillen? Oder was?«

Der Junge lässt einen Einkaufskorb mit zwei einsamen Äpfeln neben einem Sixpack Cola von einer Hand in die andere gleiten.

»Das weißt du doch gar nicht.«

»Oh doch.« Es war so offensichtlich, wie er das, was er in der Tasche hatte, festhielt, als habe er Angst, dass es ihm jemand wieder wegnehmen könnte. »Draußen habe ich gerade einen Cop gesehen. Du solltest zumindest etwas schlauer sein.«

»Was weißt du schon davon?« Er tritt näher und betrachtet dich mit neuem Interesse. Er wirkt ein wenig freundlicher, als hätte er dich zuvor unterschätzt.

»Darf ich mir mal dein Telefon ausleihen?« Ich deute mit dem Kinn auf das Handy in seiner Hemdtasche, das sich als Rechteck im Stoff abzeichnet.

»Ja, sicher«, antwortet er und reicht es mir. »Hast du kein eigenes?«

»Dann würde ich doch wohl kaum fragen, oder?«

Du trittst ein paar Schritte zurück, nimmst das Notizbuch aus der Tasche und schlägst es auf der Seite mit der Telefonnummer auf. Nervös wartest du und lauschst dem Schweigen vor dem ersten Klingeln. Unwillkürlich hasst du die Leute am anderen Ende der Leitung dafür, dass sie mehr über dein Leben wissen als du selbst.

Nach dem dritten Läuten meldete sich eine Männerstimme.

»Ich habe mich schon gefragt, ob du anrufen wirst.«

Der Junge steht nur drei Meter weiter und tut so, als sähe er sich die Müslipackungen an, daher senkst du die Stimme, als du fragst: »Wer ist da?«

»Komm einfach zu mir ins Büro. Es ist das Gebäude, das auf dem Stadtplan markiert ist. Und komm allein.«

Du versuchst, etwas aus seinen Worten herauszuhören, hinter dem, was er gesagt hat, eine Bedeutung zu erkennen, doch er legt auf und du kannst nur noch auf die Zeit sehen. Achtzehn Sekunden, das war alles.

Der Junge hört zu, daher redest du ins Nichts weiter, verabschiedest und bedankst dich. Schnell suchst du in der Anrufliste nach der Nummer, die du gewählt hast, um sie zu löschen. Mum, Mum, Mum, taucht in der Liste darunter auf.

Als du ihm das Handy zurückgibst, runzelt der Junge die Stirn.

»Worüber lachst du?«

»Nichts«, antwortest du und wendest dich bereits ab. »Vielen Dank. Ich muss los.«

Doch beim Umdrehen siehst du den Cop am Ende des Ganges. Er wendet dir das Profil zu und lässt die Finger über ein Regal mit Chips gleiten. Er sieht auf und erkennt, dass du ihn bemerkt hast.

»Es sei denn … Kannst du mich ein Stück mitnehmen?«, wendest du dich wieder an den Jungen.

Er stellt den Korb auf den Boden. Die Cola ist mittlerweile unter zwei Packungen Cornflakes vergraben.

»Wo musst du denn hin?«

»Downtown.«

Er nickt in Richtung Ausgang und geht los. Du bist so dicht neben ihm, dass sich eure Schultern fast berühren, und du musst dich beherrschen, dich nicht noch ein letztes Mal nach dem Officer im Laden umzusehen. An der Kasse kippt der Junge den Inhalt des Korbes auf das Laufband, auf dem die Äpfel auseinanderrollen.

»Ich heiße übrigens Ben.«

Die Erwähnung seines Namens macht dich nervös, und du fragst dich, warum du nicht eher daran gedacht hast. Vor dir in einem Ständer stecken die Zeitschriften People und Us Weekly, und gleich daneben die Sunset. Der Name erscheint dir so gut wie jeder andere. Er klingt real.

»Ich bin Sunny«, lügst du.

Dann blickst du dich ein letztes Mal um, nur um sicherzugehen, dass der Cop nicht mehr da ist.