23
Als Ben zur Tür geht, läuft das Spiel der Dodgers im Hintergrund. Er trägt eine Jogginghose und ein T-Shirt, sein Haar ist verstrubbelt, als wäre er gerade aus dem Bett gekommen. Hinter ihm sitzen zwei Jungs auf dem Wohnzimmersofa. Sie sind mager und haben Stoppelbärte. Einer hat seine Mütze verkehrt herum auf und sein Gesicht ist von Akne gezeichnet. Der andere dreht sich einen Joint. Sie sehen kaum auf.
Ben kneift die Augen zu, als hättest du ihm Wasser ins Gesicht geschüttet. Bevor du noch etwas sagen kannst, zerrt er dich von den anderen weg ins Esszimmer und schließt die Tür hinter sich. Du weißt auch, dass es besser ist, wenn sie dich nicht sehen.
»Wo warst du? Weißt du, dass die Cops hinter dir her sind?«
»Das waren sie doch schon die ganze Zeit.«
Kopfschüttelnd deutet Ben aus dem Fenster. »Nein, sie waren hier. Heute Morgen. Sie kamen her und wollten wissen, ob du mich angerufen hast.«
»Mist.« Du stößt den Atem aus und denkst an die Quittung, die sie in deinem Rucksack gefunden haben. Du wolltest Ben warnen, dass sie bei ihm auftauchen würden, aber nachdem du vor Officer Alvarez geflohen bist, saßst du in den Hügeln über Franklin fest, während in den Straßen unter dir Polizeiwagen nach dir suchten. Du hast dich hinter einem Schuppen versteckt und gewartet, bis die Straßen wieder sicher genug waren, dass du Richtung Osten zurückkehren konntest. Alles, was du jetzt besitzt, sind das Notizbuch, das Bild von Ivan und das T-Shirt und die Shorts, die du seit Tagen trägst.
»Was hast du gesagt?«
»Ich habe gesagt, dass du mich nicht angerufen hast. War das die richtige Antwort? Was hätte ich sagen sollen?«
Er geht zum Fenster und sieht auf die Straße. Du musst deine Ansichten überdenken. Du wusstest zwar, dass sie ihn anrufen würden, aber es ist eine ganze andere Sache, dass sie direkt zu ihm gegangen sind, um ihm Fragen zu stellen. Bevor du gekommen bist, hast du die Straße genau beobachtet. Hast du möglicherweise einen parkenden Wagen übersehen, in dem jemand saß? Ist da draußen jetzt jemand, der das Haus beobachtet?
Ben wirft einen Blick über die Schulter hinweg und lauscht seinen Freunden im anderen Zimmer.
»Tut mir leid«, sagst du. »Ich kann nirgendwo anders hin.«
Er betrachtet deine zerrissenen Shorts und die Turnschuhe, die immer noch dreckig sind. Auf Haut und Haaren liegt orangefarbener Staub.
»Wo warst du? Wo ist dein Rucksack?«
»Weg.«
Ben streicht sich das Haar aus der Stirn, und du siehst förmlich, wie er nachdenkt. Dann holt er tief Luft und sagt: »Du hast mich am Strand allein gelassen. Ich bin aufgewacht und wusste nicht, was passiert ist, keine Ahnung, wo du hingegangen bist. Und jetzt bist du wieder da … weil du einen Platz zum Schlafen brauchst? Ist es das?«
»Nein, das ist es nicht.«
»Aber genau das hast du gerade gesagt …«
Du überlegst. Du hast kein Geld mehr, keine Vorräte – alles, was du besessen hast, ist fort. Aber du musstest nicht hierherkommen. Du bist eineinhalb Meilen zusätzlich gelaufen, an einem Park und einem Schulhof vorbei, wo du dich hättest verstecken können, aber du bist weitergegangen, selbst als vor dir zwei Polizeiautos auf die Straße fuhren.
»Ich bin gekommen, weil ich dir vertraue«, sagst du.
Ben legt seine Hand an den Türrahmen. Einen Augenblick lang starrt er den Teppich an, und du fragst dich schon, ob da noch mehr ist, das du ihm sagen kannst. Du versuchst nicht, ihn zu überreden – es ist die Wahrheit.
Nach langem Schweigen macht er die Tür einen Spalt auf und sieht in den Flur. Dann deutet er auf einen der Stühle am Esstisch.
»Gib mir fünf Minuten, um die da drinnen loszuwerden.«
Damit verschwindet er wieder im Wohnzimmer. Du sitzt und wartest und hörst, wie der Fernseher ausgeschaltet wird und die Jungen leise und verwirrt Fragen stellen. Erst als sie draußen sind und sich die Tür hinter ihnen geschlossen hat, winkt Ben dich wieder herein.
Im Wohnzimmer herrscht Chaos. Der Couchtisch ist voller Krümel und leerer Chipstüten. In den Gläsern sind irgendwelche Red-Bull-Mischgetränke, in der gelblichen Flüssigkeit schwimmen halb geschmolzene Eiswürfel. Ein paar Plastiktütchen voller Gras liegen auch herum.
Du setzt dich aufs Sofa und lässt dich in die Kissen sinken. Ben geht herum und hebt die leeren Dosen vom Boden auf. Es vergehen ein oder zwei Minuten, bevor er etwas sagt.
»Komm schon, ich weiß, dass du wahrscheinlich nicht darüber sprechen willst, aber du musst. Du bist mir einfach davongelaufen und dann stehen plötzlich die Cops vor meiner Tür. Was soll das? Was soll ich denn davon halten?«
Du beugst dich vor, legst den Kopf in die Hände und bist dir nicht sicher, ob du es fertigbringst, es ihm zu erzählen. Wenn du ihm sagst, was passiert ist, heute, gestern, am Tag davor – dann wird alles noch realer.
»Ich bin zur Polizei gegangen … und sie haben mir nicht geglaubt.«
Die Worte lassen ihn aufhorchen. »Hast du ihnen von dem Mann erzählt, der dich verfolgt hat? Und von deinen Erinnerungen?«
»Alles«, sagst du. Viel mehr als dir.
»Warum haben sie dir nicht geglaubt?«
Ben bleibt abwartend stehen und wundert sich, wie sie dich nur wegschicken konnten. Er sieht dich so freundlich an, so sehr bereit, nur das Beste in dir zu sehen, dass dir klar wird, dass du nicht eine Minute länger hierbleiben kannst, ohne ihm zu erzählen, was wirklich passiert ist. Er hat ein Recht darauf, die Gefahr zu kennen und sie ebenso abzuwägen wie du. So viel bist du ihm schuldig.
Du senkst den Kopf und erzählst, von der Frau mit der Pistole, wie Ivan sie unter dem Freeway erschossen hat. Von dem Peilsender und warum du ihn in jener Nacht am Strand allein gelassen hast. Von dem Haus und dem Mann, der dir vom Park aus gefolgt ist. Du endest mit der einzig logischen Schlussfolgerung, zu der du gekommen bist, als du die einzelnen Punkte miteinander verbunden hast. Du bist das Bauernopfer in einem Reality-Spiel, eine Beute, ein Ziel, das getötet werden soll.
Ben sitzt einfach nur da, starrt einen Punkt an der Wand hinter dir an und versucht schweigend, alles zu verstehen. Irgendwann steht er auf und beginnt, hinter dem Sofa auf und ab zu laufen. Schließlich sagt er: »Das alles hast du also der Polizei erzählt. Und was dann? Haben sie geglaubt, du denkst dir das alles aus?«
»Sie glauben immer noch, dass ich für den Einbruch in der Stadt verantwortlich bin. Sie glauben mir nicht, weil sie mir nicht trauen. Und sie trauen mir nicht, weil ich offensichtlich eine Vorgeschichte habe. Brandstiftung.« Du siehst ihn dabei nicht an. »Ich weiß nichts Genaueres darüber. Deshalb müsste ich noch mal an deinen Computer …«
Ben nickt immer noch ungläubig. Er scheint froh zu sein, irgendetwas tun zu können, also holt er den Laptop von unten herauf und reicht ihn dir wortlos. Du klappst ihn auf, froh, etwas anderes ansehen zu können als sein erschrockenes, verwirrtes Gesicht.
Im Suchfeld gibst du Club Xenith, San Francisco ein. Auf der ersten Seite gibt es fünf Links.
Das Feuer wurde gelegt, sagt das SFPD
Brand im Club Xenith war Brandstiftung
Obdachlose Teenager vermutlich verantwortlich für Brandstiftung in San Francisco
Du klickst sofort auf den dritten Link und liest einen Artikel über den Brand. Darin steht, dass der Brand mit Alkohol gelegt wurde. Eine Gruppe Teenager, die im Golden Gate Park lebte, wurde verdächtigt, und ein paar von ihnen waren schon wegen Diebstählen in der Gegend um Haight verhaftet worden, doch Namen werden nicht genannt.
Du wendest den Bildschirm Ben zu, damit er den Artikel ebenfalls lesen kann.
»Sie wussten davon«, sagst du. »Die Leute, die für das Ganze verantwortlich sind. Sie wissen, dass ich eine Vorstrafe habe, und deshalb haben sie das Haus auf diese Weise in Brand gesteckt. Sie ließen es nach einer Party aussehen, denn sie wussten, wenn ich zur Polizei gehe, würden die Cops mich überprüfen und das alles herausfinden. Sie würden einfach davon ausgehen, dass es hier dasselbe wie in San Franciso war.«
Du starrst die letzte Überschrift an. Obdachlose Teenager vermutlich verantwortlich für Brandstiftung in San Francisco. Du hast erwartet, etwas herauszufinden, irgendetwas über dich selbst, doch das hier bringt dich nicht weiter.
»Ich bin niemand«, sagst du. »Obdachlos. Niemand sucht nach mir. Keine Familie, die zu Hause auf mich wartet. Haben sie mich deshalb ausgesucht? Sie dachten, wenn sie mich umbringen, kümmert das sowieso keinen.«
Ben antwortet nicht. Du spürst seinen Blick auf dir, aber du kannst ihn nicht ansehen, noch nicht. Es auszusprechen schnürt dir die Kehle zu. Du starrst den Tisch an, die Dosen, die zerknitterten Bobonpapiere und plötzlich verschwimmt der Raum hinter Tränen.
Ben macht ein paar Schritte auf dich zu, setzt sich neben dich aufs Sofa und senkt den Kopf so weit, bis er in deinem Sichtfeld ist.
»Das ist nicht wahr. Mich kümmert es.«
Er zieht dich an sich, und das fühlt sich so gut und leicht an, dass du die Arme um seine Schultern legst und die Beine über seinen Schoß schwingst. Du hebst das Kinn zu ihm hoch, sodass sich eure Lippen fast berühren. Er sieht dir in die Augen, und du hast das Gefühl zu fallen, dich überkommt eine Schwerelosigkeit wie in dem Augenblick, als du von der Klippe gesprungen bist. Nichts, was du tust, kann es jetzt noch aufhalten. Seine Hände graben sich in dein Haar und fahren langsam an deinem Kinn entlang.
Zwei Atemzüge, dann drei. Sein Griff wird fester. Du spürst, wie sich sein Körper anspannt, hörst die Lungen unter seinen Rippen und wie er mit kurzen Zügen Luft holt. Dann liegt sein Mund auf deinem. Er küsst dich heftig und lässt seine Zunge über deine Unterlippe gleiten. Dann vergräbt er das Gesicht an deinem Hals.
Du lehnst dich zurück und streckst dich auf dem Sofa aus. Er setzt sich neben dich, einen Arm unter deinem Kopf. Mit ein paar Griffen ist dein T-Shirt fort, der BH ausgezogen. Du spürst die Luft auf deiner nackten Haut. Dann fühlst du seine Hände, die über deinen Bauch gleiten und einen Augenblick auf deinen Rippen liegen bleiben.
Deine Lippen finden seine. Du lässt los, und er betrachtet dich, wobei sein Blick über dein Schlüsselbein gleitet, über deine Brust und deinen Bauch. Das Haar fällt ihm über die Stirn, seine Wangen sind gerötet. Sein Mund auf deinem, und alles erinnert dich daran, dass du hier bist, bei ihm. Und dass du nirgendwo anders sein willst.