Kapitel 10
Lieutenant Lisa Haines vom Morddezernat wollte jemanden umbringen. In diesem Augenblick wäre sie nicht besonders wählerisch gewesen, Hauptsache, die Methode war einigermaßen interessant, vorzugsweise eine, die etwas mit Gar kochen zu tun hatte.
Und mit Verstümmelung, ergänzte sie, als der gepanzerte Gleiter mit dem Imperialen Farbstreifen auf der Kreuzung landete.
Der Mann, der kurz darauf aus dem Kampfgleiter kletterte, war jedoch keineswegs der mit Orden behängte Bürokrat, den sie erwartet hatte, seit ihre Vorgesetzten sie davon in Kenntnis gesetzt hatten, dass ihr bei diesem Fall ein Imperialer Verbindungsoffizier zugewiesen würde. Jetzt kam ein junger schlanker Mann auf sie zu, der nur die schmucklose braune Livree des Imperialen Hofstaats trug. Er schien sogar unbewaffnet zu sein.
Auf der Gegenseite nährte auch Sten seine Vorurteile nach bestem Wissen und Gewissen. Er nahm kaum wahr, dass die Frau ungefähr in seinem Alter sein mochte und er sie unter normalen Umständen wahrscheinlich sogar als attraktiv bezeichnet hätte.
Sten war stinksauer. Er konnte sich noch immer nicht erklären, weshalb der Imperator ausgerechnet ihn auf diesen Fall angesetzt hatte, wo er doch weniger als nichts von der Vorgehensweise der Polizei oder gar der Aufklärung von Mordfällen verstand. Die meiste Zeit seiner Karriere hatte er auf der anderen Seite zugebracht.
Von frühester Jugend an hasste Sten die Bullen – angefangen von den Wachmännern der Soziopatrouille auf seiner stählernen Heimatwelt Vulcan, über die verschiedensten Typen, die er bei Mantis kennen gelernt hatte, bis hin zu den Militärpolizisten, die auf den Freizeit- und Erholungswelten Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten versuchten.
»Captain, äh, Sten?«
Das konnte er auch. »Äh, Lieutenant … wie war noch gleich Ihr Nachname?«
»Haines.«
»Haines.«
»Ich nehme an, Sie wollen als erstes den Bericht lesen«, sagte Lisa und hielt ihm, ohne eine Antwort abzuwarten, den Tafelprojektor hin.
Sten versuchte so zu tun, als wüsste er, was die unterschiedlichen Formen und hingekritzelten Einträge bedeuteten, gab jedoch bald auf. »Eine kurze Einführung wäre mir lieber.«
»Zweifellos.«
20:43 Eingreiftruppe 7-Y meldete eine Explosion, kam um 20:47 vor Ort an, Gruppenkommandeur berichtete schwafelschwafel, Antwort schwafelschwafel, Krankenwagen, keine Verdächtigen, Beschreibung, blabla.
Sten schaute zu der Stelle hinüber, an der Der Covenanter gestanden hatte. Die gesamte Bodenplatte der ehemaligen Kneipe war in eine Art enormen Luftsack eingehüllt. An einer Seite, direkt an der Laufplanke, befand sich eine Luftschleuse.
»Bei jedem Mordfall«, erklärte Haines, »wird als erstes immer der Tatort gesichert. Wir bauen diese Blase um den Ort des Geschehens, pumpen den Sauerstoff heraus und ersetzen die Atmosphäre mit neutralem Gas, falls Sie die Details interessieren.«
»Ich interessiere mich sehr für die Details, Lieutenant.« Sten widmete sich erneut dem Bericht.
Auf den zweiten Blick war er nicht verwirrender (aber auch nicht einfacher) als der Abschlußbericht eines militärischen Unternehmens. Sten las ihn noch ein drittes Mal.
»Soll ich Sie mal durchführen, Captain? Es ist ziemlich unappetitlich, nebenbei bemerkt.«
»Wenn mir schlecht wird, sag ich Ihnen sofort Bescheid.«
Die Blasenanzüge erinnerten ein wenig an enganliegende Taucheranzüge, mit der Ausnahme, dass die Bauchpartie mit einem großen, außenliegenden Beutel zum Sammeln von Beweismitteln ausgestattet war und sich die Brustpartie ungewöhnlich aufblähte, wodurch man in dem Anzug wie eine Masttaube aussah.
Im Innern dieser Wölbung war ein kleines Metallbord, auf dem der Untersucher Notizen oder Beobachtungen festhalten konnte. Der Anzug war außerdem mit einem Rucksack versehen, in dem die Luftversorgung und der Batteriesatz untergebracht waren.
Sten verschloss seinen Anzug und folgte Haines durch die Luftschleuse in die Ruinen des Covenanter.
Natürlich war es für Sten nicht das erste Mal, dass er sich an einem Ort aufhielt, an dem eine Bombe hochgegangen war; doch es war das erste Mal, dass er nicht versuchte, sich schleunigst aus dem Staub zu machen oder erwartete, dass jeden Augenblick die nächste Bombe detonierte. Er hatte schon vor Jahren gelernt, nicht mehr daran zu denken, dass die grauen, rosafarbenen oder gelben herabhängenden Fäden, schneckenähnlichen Partikel und Knochensplitter einmal zu einem Menschen gehört hatten. Sten versuchte sich zu orientieren. Dort … dort war die Tür.
Diese niedrige Erhebung musste wohl die Theke gewesen sein.
Dort … mussten sich … die Sitzecken befunden haben.
In der Blase waren zwei weitere Polizisten emsig damit beschäftigt, Feuerlösch-Schaum von Wänden und Fußboden zu kratzen.
»Sie haben recht«, sagte Sten einlenkend. »Ziemlich unappetitlich.«
»Zwei davon«, sagte Haines mit belegter Stimme.
»Äh, wie bitte?«
»Captain, ich –« Haines verstummte, schaltete ihr Funksprechgerät aus, klickte auch Stens Einheit aus und kam mit ihrem Visier dicht an seines heran.
»Diese Information ist streng vertraulich. Dieser Tatort ist dermaßen zerbröselt, dass wir nur mit sehr viel Glück überhaupt etwas Sachdienliches erfahren werden.«
»Wissen Sie, Lieutenant«, sagte Sten nachdenklich, »wenn Sie das bei offenem Mikro gesagt hätten, hätte ich sofort angenommen, Sie wollten sich ein Alibi verschaffen. Fahren Sie also fort. Ich weiß aber nicht, ob ich Ihnen folgen kann.«
Haines musste eine Sekunde lang daran denken, dass der Verbindungsoffizier vielleicht doch nicht so unerträglich war, wie sie befürchtet hatte. »Der vorgeschriebene Handlungsablauf ist da ganz präzise, Captain. Wenn ein Polizist an den Tatort eines Mordes kommt, muss er zunächst die erforderlichen Maßnahmen ergreifen – nach dem Mörder Ausschau halten, ärztliche Versorgung anfordern, was auch immer. Der zweite Schritt besteht darin, die Mordkommission zu benachrichtigen. An diesem Punkt treten wir in Aktion. Aber genau das ist nicht geschehen.« Sie machte eine hilflose Geste mit dem Arm.
»Die Eingreiftruppe meldete den Vorfall kurz vor 21 Uhr gestern Abend. Die Mordkommission wurde erst zehn Stunden später informiert!«
»Warum das denn?«
»Wenn ich das wüsste«, antwortete Lisa. »Ich kann nur Vermutungen anstellen.«
»Nur zu.«
»Unsere Eingreiftruppen halten sich für die allergrößten. Wenn die Imperiale Garde als erste am Tatort wäre, würde sie den Fall vermutlich auch selbst in die Hand nehmen wollen.«
Sten versuchte, sich an den Bericht zu erinnern.
»Ist es normal, dass sich in dieser Gegend Einheiten der Eingreiftruppen aufhalten?«
»Eigentlich nicht. Es sei denn, es gibt Anzeichen für Aufruhr, oder um eine bestimmte Schiffsladung zu sichern. Oder wenn das Gebiet als besonders kriminell eingestuft wurde.«
»Und?«
»Der Sergeant sagte aus, seine Gruppe sei schon seit drei Wochen um die Rampen herumgeschlichen, ohne dass etwas vorgefallen sei.«
Eigenartig, wunderte sich Sten. Seit zwei Wochen war wegen des Imperialen Siegestages überall die Hölle los; es sah fast so aus, als habe man die Eingreiftruppe falsch eingeteilt. Wie auch immer, nach Stens Erfahrung wußten Polizisten schon immer sich von dort fernzuhalten, wo sie sich ernsthaft verletzen konnten. Trotzdem sollte man sich noch einmal genauer nach dem Einsatzplan der Eingreiftruppe erkundigen.
»Sehen Sie sich das an«, fuhr Haines fort. »Obwohl kein Brand ausgebrochen war, aktivierte dieser Sergeant die Feuerlöscher. Er und seine Leute gingen hinein. Drei Opfer. Tot, tot, tot. Also trampeln er und seine Leute während der nächsten zehn Stunden hier herum und spielen Detektive. Zum Beispiel …«
Lisa zeigte auf den Bodenbelag hinab. »Dieser Latschenabdruck Größe vierundvierzig ist kein Hinweis – es ist nur der Stiefel eines Corporals der Eingreiftruppe, der sich genau in diese Blutlache stellen musste.«
Sten kam zu dem Schluss, dass er Polizisten noch immer nicht sonderlich mochte, und schnitt ihr das Wort ab. »Na schön, Lieutenant, wir haben alle unsere Probleme. Was haben Sie bislang herausgefunden?«
Haines stimmte einen leiernden Singsang an: »Wir vermuten, dass es sich um eine Bombe handelte, wahrscheinlich schon vorher installiert. Keinerlei Hinweis auf die Art des Zünders oder Sprengstoffs.
Die Bombenspezialisten sind bis jetzt noch nicht eingetroffen.«
»Auf die können wir verzichten«, sagte Sten spröde.
»Davon verstehe ich selbst ein bisschen was.«
Er hatte bereits die Streifenbildung der Detonation an den Überresten der Kneipendecke entdeckt. Sten trug eine Leichtmetalleiter zum Mittelpunkt des Strahlenkranzes hinüber. Auch wenn er keine Ahnung vom standardisierten Handlungsablauf bei der Polizei hatte, wusste er doch mit Sicherheit jede Menge über alles, was mit lautem Knall in die Luft flog.
»Lieutenant«, sagte Sten und stellte sein Sprechgerät wieder an. »Möchten Sie vielleicht ein Aufnahmegerät mitlaufen lassen?«
Haines zuckte die Achseln. Der Imperiale Babysitter musste sich also doch noch als Experte aufspielen; sollte er sich ruhig zum Deppen machen. Sie befolgte jedenfalls ihre Befehle.
»Die Bombe war in der Deckenbeleuchtung untergebracht. Wir haben … das hier sieht wie Überreste der Schaltung aus … der Sprengstoff war hochwertig … und zielgerichtet. Die Sprengladung ging seitwärts und nach unten los und richtete nach oben nur wenig Schaden an. Ihre Bombenspezialisten müssten in der Lage sein, herauszufinden, ob es sich um einen Zeitzünder oder eine Fernzündung handelte.
Ich vermute, dass sie per Fernzündung ausgelöst wurde.«
»Wir haben ein Team, das ringsum alles absucht.«
Sten kam von der Leiter herunter und widmete sich erneut der Streifenbildung. Sie nahm fast den gesamten Radius von 360 Grad ein. Aber nicht ganz.
Sten summte vor sich hin und zog mit den Augen einen Azimut von diesem Bereich bis zur Wand.
»Vielen Dank, Lieutenant.« Sten ging zur Luftschleuse und direkt nach draußen. Dort streifte er den Anzug ab und entfernte sich ein gutes Stück von den geschäftigen Techs rings um die Blase.
Haines zog ihren Anzug ebenfalls aus und folgte ihm. »Sind Sie fertig mit dem Detektivspielen, Captain?«
»Ich werde es Ihnen erklären, Lieutenant Haines.
Ich habe diesen Drecksjob am Hals und weiß nicht, was ich hier überhaupt soll. Das bringt mich auf hundertachtzig. Und warum brennt Ihre blöde Sicherung durch?«
Haines funkelte ihn düster an. »Item: Ich stecke im gleichen Dreck wie Sie. Ich bin Polizistin, eine sehr gute dazu. Also komme ich hierher und sehe mir an, womit ich es diesmal zu tun habe. Und dann kriege ich irgendeinen, einen …«
»Schwachkopf?« bot ihr Sten mit einem halben Lächeln an. Allmählich fing er an, diese Frau zu mögen.
»Danke. Also einen Schwachkopf, der hier angetanzt kommt, irgend etwas erzählt und dann wieder im Palast verschwindet, um seine Medaille abzuholen. Ich sage Ihnen eines, Captain: Diesen Mist kann ich nicht brauchen!«
»Sind Sie fertig?«
»Momentan schon.«
»Schön. Lassen Sie uns irgendwo was essen gehen, dann bringe ich Sie richtig auf Trab.«
Das Restaurant befand sich dicht am Landefeld 17AFO. Abgesehen von durchsichtigen Schutzschirmen zwischen dem Feld und der Terrasse lag es im Freien.
Es war ungefähr zur Hälfte mit Raumhafenarbeitern, Werftangestellten und Schiffsbesatzungen besetzt. Die Kombination eines Mannes in Imperialer Livree und einer Frau, die offensichtlich zu den Bullen gehörte, sicherte Sten und Haines absolute Ungestörtheit.
Das Mittagessen verlief nach Kantinenmanier. Die beiden holten sich Tabletts voller Essen, bezahlten und gingen zum anderen Ende der Speisezone. Beiden fiel auf, dass der andere reflexartig nach möglicherweise vorhandenen parabolischen Mikros Ausschau hielt; da lächelten sie sich zum ersten Mal an.
»Bevor wir damit anfangen, Captain«, sagte Haines.
»Möchten Sie über diese Sitzecke reden?«
Sten kaute, nickte und tat völlig unschuldig.
»Danke. Ich hatte auch schon herausgefunden, dass die Bombe zielgerichtet war. Genauer gesagt, halbzielgerichtet. Sie war so ausgerichtet, dass sie die ganze Bude zerfetzte – bis auf eine Nische.«
»Fein beobachtet, Lieutenant.«
»Frage Nummer eins: Diese eine Sitzecke, die nicht zerstört wurde, war mit so ziemlich jedem Anti-Abhörgerät ausgestattet, von dem ich je gehört habe.
Gibt es dafür irgendwelche Erklärungen von, ich sage mal, ›Quellen ganz oben‹? Was hatte eine derartige Sicherheitsausrüstung in einer Kaschemme wie dieser zu suchen?«
Sten erklärte es ihr, verschwieg jedoch Craigwels Identität und Position als persönlicher Problemloser des Imperators. Er hatte auch das Gefühl, dass der Lieutenant nicht unbedingt wissen musste, dass Alain sich mit dem Imperator selbst treffen wollte. Ein Treffen mit einem Repräsentanten des Imperators musste für sie ausreichen. Als er sie dahingehend aufgeklärt hatte, betrachtete er aufmerksam eine Gabel voll Kimchi und wechselte das Thema. »Was essen wir hier eigentlich?«
»Sehr toten Kohl von der Erde, Knoblauch und Kräuter. Es hilft, wenn man nicht daran riecht, bevor man es isst.«
»Da Sie sich mit Bomben auskennen«, erkundigte sich Sten, »haben Sie vielleicht eine Erklärung dafür, weshalb kein Schrapnell verwendet wurde?«
Haines überlegte.
Sten wühlte in seiner Tasche und legte ein leicht abgeflachtes Kugellager auf den Tisch. »Die Ladung der Bombe war semidirektional. Um sicherzugehen, dass sie absolut alles innerhalb der Kneipe erwischte, hat der Bombenleger auch noch das hier mit Klebstreifen an dem Sprengsatz befestigt. Außer an der Stelle gegenüber besagter Sitzecke. Prog, Lieutenant?«
Haines kannte genug Militärslang, um die Frage zu verstehen. Sie schob ihr Tablett zur Seite, legte die Finger zusammen und fing an zu theoretisieren.
»Der Bombenleger wollte jeden in der Bar töten – außer dem- oder denjenigen, die sich in dieser Nische aufhielten. Hätten Alain und Ihr Mann sich zum Zeitpunkt der Explosion in dieser Sitzecke aufgehalten, hätten sie wahrscheinlich einige schlimme Prellungen erlitten oder im schlimmsten Fall einige Knochenbrüche von der Druckwelle, habe ich recht, Captain?«
»Korrekt.«
»Der Bombenleger wusste über diese Sitzecke Bescheid … und er muss gewusst haben, dass sich Alain an diesem bestimmten Abend genau dorthin setzen würde.«
Haines pfiff tonlos und trank ihr Bier aus. »Dann haben wir es also ganz sicher mit einem politischen Mord zu tun, Captain? Verdammt noch mal!«
Sten nickte griesgrämig, ging zur Theke und holte noch zwei Bier.
»Nicht einfach nur ein politischer Mord, sondern einer, der von jemandem begangen wurde, der über Alains Bewegungen genau unterrichtet gewesen sein muss, korrekt?«
»Sie haben recht – aber das kann mir den Tag auch nicht mehr versüßen. Mist, verdammter!« fluchte Lisa.
»Diese beschissene Politik! Warum haben sie mir keinen netten Psychokiller gegeben?«
Sten hörte nicht zu. Er war mit seinen Überlegungen gerade einen Schritt weitergekommen. Unhöflich zog er den Tafelprojektor unter Haines’ Armen hervor und fing an, ihn durchzublättern.
»Ein Attentat«, fuhr Lisa fort und wurde von Minute zu Minute deprimierter. »Das bedeutet, wir haben es mit einem Profikiller zu tun, und wer den angeheuert hat, ist wahrscheinlich unberührbar. Und ich kriege ein Revier am Nordpol zugeteilt.«
»Vielleicht auch nicht«, entgegnete Sten. »Hören Sie mal zu. Denken Sie an die Bombe. Sie sollte Alain also nur kurzfristig außer Gefecht setzen, richtig?
Was wäre in diesem Fall aber geschehen?«
»Wer soll das wissen? Es ist ja anders gekommen!«
»Frage, Lieutenant: Warum tauchte ein Krankenwagen, der von unserem Sergeant noch nicht einmal angefordert worden war, innerhalb weniger Minuten am Tatort auf? Glauben Sie nicht, dass vielleicht –«
Haines hatte den Gedanken bereits zu Ende geführt.
Ohne ihr Bier auszutrinken, rannte sie auf Stens gepanzerten Gleiter zu.