KOMMISSAR COCHE

 

 

Die verfluchte Schlaflosigkeit machte ihm schwer zu schaffen. Schon die fünfte Nacht litt er Höllenqualen, und es wurde immer ärger. Und fand er im Morgengrauen doch noch Vergessen, so hatte er Träume, vor denen Allah einen bewahren möge. Dann erwachte er wie zerschlagen, und in den von den nächtlichen Gesichten benommenen Kopf krochen verrückte Gedanken. Ob es wirklich an der Zeit war, in Pension zu gehen? Am liebsten hätte er auf alles gepfiffen, doch das ging nicht. Es gab nichts Schlimmeres als ein bettelarmes Alter. Irgend jemand hat es auf einen Schatz von anderthalb Milliarden Francs abgesehen, und du, Alter, sollst mit jämmerlichen hundertfünfundzwanzig im Monat auskommen.

Am Abend wetterleuchtete es am Himmel, Wind heulte in den Masten, und die »Leviathan« krängte schwerfällig in den kraftvollen schwarzen Wellen. Coche lag lange im Bett und starrte zur Decke. Die war bald dunkel, bald unnatürlich weiß – wenn ein Blitz aufzuckte. Regen peitschte auf das Deck, und auf dem Tisch fuhr löffelklirrend ein vergessenes Glas mit einer Mixtur für die kranke Leber hin und her.

Einen Sturm auf See erlebte Coche zum erstenmal, aber Angst hatte er nicht. Konnte solch ein ungeheures Schiff etwa untergehen? Nun, es schaukelte und dröhnte, doch das würde sich wieder geben. Nur ließen die Donnerschläge ihn nicht schlafen. Kaum begann er einzudrusseln, schon krachte es wieder.

Aber er mußte wohl doch eingeschlafen sein, denn er setzte sich ruckartig auf und wußte nicht, was vorging. Sein Herz schlug so laut, daß es durch die Kabine schallte.

Nein, das war nicht das Herz, sondern die Tür.

»Kommissar!« (Poch-poch-poch.) »Kommissar!« (Poch-poch-poch.) »Machen Sie auf! Schnell!«

Wer war das? Fandorin wohl.

»Wer ist da? Was wollen Sie?« schrie Coche und preßte die Hand gegen die linke Brustseite. »Sind Sie verrückt?«

»Machen Sie auf, verdammt noch mal!«

Oho! Was für ein Ton für einen Diplomaten! Etwas Ernstes mußte geschehen sein.

»Gleich!«

Coche nahm verschämt die Nachtmütze mit der Troddel (von der alten Blanche gestrickt) ab, warf den Hausmantel über, fuhr in die Latschen.

Ein Blick durch den Türspalt – ja, Fandorin. Gehrock, Krawatte, Rohrstock mit beinernem Knauf. Glühende Augen.

»Was ist?« fragte Coche mißtrauisch, denn ihm war schon klar, daß er von dem nächtlichen Besucher etwas Scheußliches zu hören bekommen würde.

Der Diplomat sprach anders als sonst – schnell, abgerissen, ohne zu stottern.

»Ziehen Sie sich an. Nehmen Sie eine Waffe mit. Wir müssen Kapitän Regnier verhaften. Sofort. Er steuert das Schiff in die Klippen.«

Coche schüttelte den Kopf – war diese Ungereimtheit ein Traum?

»Haben Sie zuviel Haschisch geraucht, Monsieur Russe?«

»Ich bin nicht allein hier«, antwortete Fandorin.

Der Kommissar linste in den Korridor und sah neben Fandorin zwei weitere Männer stehen. Der eine war der verrückte Baronet. Und der andere? Der Steuermann, ja. Wie hieß er gleich … Richtig, Fox.

»Beeilen Sie sich«, fuhr der Diplomat abgehackt fort. »Die Zeit ist knapp. Ich habe in der Kabine gelesen. Es klopfte. Sir Reginald. Um ein Uhr nachts hat er die Position des Schiffs bestimmt. Mit dem Sextanten. Der Kurs stimmt nicht. Wir müßten die Insel Manaar links umfahren. Wir fahren aber rechts herum. Ich habe den Steuermann geweckt. Fox, reden Sie.«

Der Steuermann trat vor. Er sah recht erschrocken aus.

»Dort sind Untiefen, Monsieur«, sagte er in gebrochenem Französisch. »Und Klippen. Die ›Leviathan‹ ist sehr schwer. Sechzehntausend Tonnen, Monsieur! Wenn sie aufläuft, sie bricht wie französisches Weißbrot, wie Baguette, verstehen Sie? Noch eine halbe Stunde dieser Kurs, und es gibt kein Zurück!«

Eine hübsche Neuigkeit. Nun sollte der alte Coche sich auch noch in der Seefahrt zurechtfinden und sich den Kopf über die Insel Manaar zerbrechen!

»Und warum sagen Sie nicht dem Kapitän, daß er … nun, den falschen Kurs steuert?«

Fox sah den Russen an.

»Monsieur Fandorin meint, das geht nicht.«

»Regnier spielt eindeutig va banque«, sagte der Diplomat eindringlich. »Er ist zu allem fähig. Wenn er es anordnet, wird der Steuermann in Arrest gesetzt. Wegen Renitenz. Vielleicht macht er sogar von der Waffe Gebrauch. Er ist der Kapitän. Sein Wort ist an Bord Gesetz. Außer uns dreien weiß niemand, was vorgeht. Wir brauchen einen Vertreter der Macht. Das sind Sie, Kommissar. Gehen wir nach oben!«

»Moment, Moment!« Coche griff sich an die Stirn. »Sie bringen mich ganz durcheinander. Ist dieser Regnier verrückt geworden?«

»Nein. Aber er will das Schiff vernichten. Und alle, die an Bord sind.«

»Warum? Wozu?«

Nein, das konnte nicht wahr sein, das war ein Alptraum.

Fandorin begriff, daß Coche nicht so leicht auf Trab zu bringen war, und wurde nun deutlicher.

»Ich habe nur eine Vermutung. Aber eine ungeheuerliche. Regnier will das Schiff und die Menschen darauf vernichten, um die Spuren eines Verbrechens zu verwischen. Schwer zu glauben, daß jemand so leichten Herzens den Tod Tausender Menschen in Kauf nimmt, nicht wahr? Denken Sie an die Rue de Grenelle, denken Sie an Sweetchild, und Sie werden erkennen, daß auf der Jagd nach dem Schatz von Brahmapur Menschenleben nicht viel wert sind.«

Coche schluckte.

»Auf der Jagd nach dem Schatz?«

»Ja.« Fandorin rang um Zurückhaltung. »Regnier ist der Sohn des Radschas Bagdassar. Ich hatte es mir gedacht, war mir aber nicht sicher. Jetzt gibt es keine Zweifel mehr.«

»Der Sohn? Quatsch! Der Radscha war ein Hindu, und Regnier ist ein waschechter Franzose.«

»Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß er weder Rind- noch Schweinefleisch ißt? Und warum nicht? Gewohnheit von Kindesbeinen an. In Indien gilt die Kuh als heiliges Tier, und die Muselmanen essen kein Schweinefleisch. Der Radscha war Inder, aber Anhänger des Islam.«

»Das kann andere Gründe haben«, sagte Coche achselzuckend. »Regnier erklärte, er halte sich an eine Diät.«

»Und sein dunkles Gesicht?«

»Ist auf den südlichen Meeren gebräunt.«

»Regnier hat in den letzten zwei Jahren die Linien London – New York und London – Stockholm befahren. Sie können Monsieur Fox fragen. Nein, Coche, Regnier ist zur Hälfte Inder. Die Frau Bagdassars war Französin, ihr Sohn wurde während des Sepoy-Aufstands in Europa erzogen, höchstwahrscheinlich in Frankreich, der Heimat seiner Mutter. Waren Sie schon mal bei Regnier in der Kabine?«

»Ja, er hatte mich eingeladen, wie auch andere.«

»Haben Sie das Photo auf dem Tisch gesehen? ›Allzeit sieben Fuß unterm Kiel. Françoise B.‹«

»Ja. Seine Mutter.«

»Wenn sie seine Mutter ist, warum ›B‹ und nicht ›R‹? Sohn und Mutter haben doch denselben Nachnamen.«

»Vielleicht hat sie nochmals geheiratet.«

»Möglich. Das konnte ich noch nicht überprüfen. Aber kann ›Françoise B.‹ nicht einfach ›Françoise Bagdassar‹ bedeuten? Wie in Europa üblich? Indische Radschas haben ja keinen Nachnamen.«

»Und woher der Name Regnier?«

»Keine Ahnung. Vielleicht hat er bei seiner Naturalisierung den Mädchennamen seiner Mutter angenommen.«

»Mutmaßungen«, fauchte Coche. »Kein einziges Faktum. Immer nur ›vielleicht‹ oder ›möglich‹.«

»Zugegeben. Aber finden Sie Regniers Benehmen im Zusammenhang mit der Ermordung Sweetchilds nicht verdächtig? Erinnern Sie sich, wie er sich erbot, den Schal für Madame Kleber zu holen? Und dann bat er noch den Professor, nicht ohne ihn anzufangen. Ich vermute, daß Regnier in den wenigen Minuten seiner Abwesenheit den Abfalleimer anzündete und das Skalpell aus seiner Kabine holte.«

»Und wieso meinen Sie, daß er das Skalpell hatte?«

»Ich sagte Ihnen doch, daß das Bündel des Negers nach der Durchsuchung des Schiffs aus dem Boot verschwunden war. Und wer leitete die Durchsuchung? Regnier.«

Coche schüttelte zweifelnd den Kopf. Das Schiff machte eine Schlingerbewegung, und er prallte schmerzhaft mit der Schulter gegen den Türrahmen. Seine Laune wurde davon nicht besser.

»Erinnern Sie sich, wie Sweetchild damals anfing?« fuhr Fandorin fort, riß die Uhr aus der Tasche und sprach immer schneller. »Er sagte, er habe alles geklärt, das mit dem Tuch und das mit dem Sohn. Man müsse nur noch in den Listen der Ecole Maritime nachsehen. Das heißt, er hatte nicht nur das Geheimnis des Tuchs ergründet, sondern auch etwas Wichtiges über den Sohn des Radschas in Erfahrung gebracht. Zum Beispiel daß der an der Marseiller Seefahrtsschule studiert hatte. Die übrigens auch unser Regnier absolviert hat. Der Indologe erwähnte ein Telegramm, das er an einen Bekannten im französischen Innenministerium geschickt habe. Möglicherweise wollte Sweetchild etwas über das Schicksal des Jungen herausfinden. Er muß auch einiges erfahren haben, aber wohl nicht, daß Regnier der Erbe Bagdassars ist, sonst würde er sich vorsichtiger verhalten haben.«

»Und was hat er über das Tuch herausgekriegt?« fragte Coche mit gierigem Interesse.

»Ich glaube, ich kann diese Frage beantworten. Aber nicht jetzt, später. Die Zeit drängt!«

»Sie meinen also, Regnier selbst hat den kleinen Brand inszeniert und die Panik genutzt, um dem Professor den Mund zu verschließen?« fragte Coche nachdenklich.

»Ja, verdammt noch mal, ja! Benutzen Sie doch Ihren Verstand! Wir haben wenig Beweise, ich weiß, aber in zwanzig Minuten läuft die ›Leviathan‹ in die Meerenge ein!«

Doch der Kommissar zögerte noch.

»Die Arretierung eines Kapitäns auf offener See ist Meuterei. Warum schenken Sie der Mitteilung dieses Herrn Glauben?« Er wies mit dem Kinn auf den verrückten Baronet. »Der redet doch immerfort Blödsinn.«

Der rothaarige Engländer lachte verächtlich auf und betrachtete Coche wie eine Laus oder Assel. Einer Antwort würdigte er ihn nicht.

»Weil ich Regnier schon lange im Verdacht habe«, stieß der Russe hervor. »Und weil die Geschichte mit Kapitän Cliff mir sonderbar vorkam. Wieso mußte der Leutnant so lange telegraphische Verhandlungen mit der Reederei führen? Weil man in London nichts von dem Unglück von Cliffs Tochter wußte? Wer hat dann das Telegramm nach Bombay geschickt? Die Direktion des Pensionats? Die dürfte kaum so genau über die Fahrstrecke der ›Leviathan‹ informiert gewesen sein. Hat vielleicht Regnier selbst die Depesche abgeschickt? In meinem Reiseführer steht, daß es in Bombay mindestens ein Dutzend Telegraphenpunkte gibt. Innerhalb der Stadt von einem Telegraphenpunkt zum nächsten zu telegraphieren ist ein leichtes.«

»Und weshalb zum Teufel war das so wichtig für ihn?«

»Um das Schiff in die Hand zu bekommen. Er wußte, daß Cliff nach der Mitteilung die Fahrt nicht fortsetzen konnte. Fragen Sie lieber, warum Regnier ein solches Risiko einging. Doch wohl nicht aus dummem Ehrgeiz, um eine knappe Woche lang ein Schiff zu kommandieren, und dann komme, was da wolle? Es gibt nur eine Theorie: um die ›Leviathan‹ zu versenken, mitsamt den Passagieren und der Besatzung. Die Ermittlung war schon zu dicht an ihn herangekommen, die Schlinge zog sich zusammen. Er wußte, daß die Polizei allen Verdächtigen auf die Pelle rückte. Eine Schiffskatastrophe würde alles zudecken. Dann könnte er in Ruhe nach der Schatulle mit den Edelsteinen fahnden.«

»Aber er würde doch mit uns untergehen.«

»Nein, er nicht. Wir haben eben nachgesehen – das Kapitänsboot ist bereit zum Fieren. Das ist ein kleines, aber stabiles Schiffchen, dem ein Sturm nichts anhaben kann. Es enthält einen Wasservorrat, einen Korb mit Lebensmitteln und, besonders rührend, eine Reisetasche mit Kleidungsstücken. Regnier will höchstwahrscheinlich das Schiff gleich nach dem Einlaufen in die Meerenge verlassen, aus der es nicht mehr herauskommt. Die ›Leviathan‹ kann nicht wenden und wird selbst bei gestoppter Maschine gegen die Klippen getrieben. Vielleicht können einige sich retten, denn die Küste ist nicht weit, doch alle Verschollenen werden als ertrunken gelten.«

»Wie kann man sein so stupid, Monsieur Polizist!« mischte sich der Steuermann ein. »Wir haben schon viele Zeit verloren. Mir hat Mr. Fandorin geweckt. Er sagt, das Schiff fährt falsche Kurs. Ich will schlafen und wünsche ihm zum Teufel. Da bietet er mir Wette, hundert Pfund gegen eins, daß der Kapitän falsch steuert. Ich denke, der Russe hat Verstand verloren, aber alle wissen, die Russen sind bißchen verruckt, da kann ich leichtes Geld verdienen. Ich rauf auf die Brücke. Alles in Ordnung. Der Kapitän hat Wache, der Rudergänger steht an das Steuer. Wegen die hundert Pfund habe ich trotzdem heimlich den Kurs kontrolliert, und da ist mir Schweiß ausgebrochen! Aber zu Kapitän kein Wort. Mr. Fandorin hatte mir eingeschärft, ich soll nichts sagen. Habe ich auch nicht. Ich wünsche angenehme Wache und gehe. Das war« – der Steuermann sah zur Uhr – »vor fünfundzwanzig Minuten.«

Und er fügte auf englisch etwas für die Franzosen im allgemeinen und die französischen Polizisten im besonderen wenig Schmeichelhaftes hinzu.

Nach kurzem Zögern faßte der Kommissar endlich einen Entschluß. Und er veränderte sich sogleich, seine Bewegungen wurden rasch und zielstrebig. Coche verfiel nicht gern aus dem Stand in Galopp, doch wenn er einmal in Gang gekommen war, brauchte man ihn nicht anzutreiben.

Während er geschwind Jacke und Hose anzog, sagte er zum Steuermann: »Fox, holen Sie zwei Matrosen aufs Oberdeck. Mit Karabinern. Der Erste Offizier soll auch kommen. Nein, lieber nicht, wir haben keine Zeit, alles noch mal zu erklären.«

Er schob seinen treuen Lefaucheux-Revolver in die Tasche und reichte dem Diplomaten eine vierläufige Mariette.

»Können Sie damit umgehen?«

»Ich habe selber einen Herstal«, antwortete Fandorin und zeigte einen kompakten schönen Revolver vor, wie Coche ihn nie gesehen hatte. »Und dies hier.« Mit einer blitzartigen Bewegung zog er aus dem Rohrstock eine schmale biegsame Klinge.

»Dann los.«

Dem Baronet wollte Coche keine Waffe geben, wer weiß, was der Verrückte damit anstellte.

Zu dritt durchschritten sie rasch den langen menschenleeren Korridor. Die Tür einer Kabine wurde geöffnet, und Renate Kleber blickte heraus. Über dem braunen Kleid hatte sie einen Schal umgelegt.

»Meine Herren, was trampeln Sie hier herum wie eine Herde Elefanten?« rief sie ungehalten. »Das Gewitter läßt mich auch so nicht schlafen.«

»Machen Sie die Tür zu und bleiben Sie in der Kabine!« sagte Coche streng und stieß die Kleber, ohne stehenzubleiben, zurück in die Kabine. Jetzt war nicht die Zeit für Höflichkeiten.

Der Kommissar hatte den Eindruck, daß auch die Tür der Kabine 24, wo Mademoiselle Stomp wohnte, ein wenig zitterte und sich einen Spalt öffnete, aber konnte er sich in einem so verantwortungsvollen Moment um Kleinigkeiten kümmern?

An Deck schlugen ihnen Wind und Regen ins Gesicht. Sie mußten schreien, um einander zu verstehen.

Da war auch schon die Treppe, die zum Steuerhaus und zur Brücke hinaufführte. Bei der untersten Stufe wartete Fox mit zwei wachhabenden Matrosen.

»Ich sagte, mit Karabinern!« schrie Coche.

»Die sind in der Waffenkammer!« brüllte ihm der Steuermann ins Ohr. »Den Schlüssel hat der Kapitän.«

Unwichtig, gehen wir hinauf, zeigte Fandorin mit einer Geste. Sein Gesicht glänzte vor Nässe.

Coche blickte in die Runde und schüttelte sich. Durch die Nacht blinkten die stählernen Fäden des Regens, schimmerten weiß die Gischtkämme, zuckten die Blitze. Gräßlich!

Sie stiegen die eiserne Treppe hinauf, mit den Absätzen polternd und vor dem peitschenden Regen das Gesicht verziehend. Coche ging voran. Er war jetzt der wichtigste Mann auf der riesigen »Leviathan«, die mit ihrem Zweihundert-Meter-Rumpf vertrauensselig dem Untergang entgegenfuhr. Auf der letzten Stufe rutschte der Kommissar aus und bekam gerade noch die Griffstange zu fassen. Er richtete sich auf und holte tief Luft.

Über ihnen waren nur noch die funkenspeienden Schornsteine und die in der Dunkelheit kaum erkennbaren Masten.

Vor der mit Stahlnieten gespickten Tür hob Coche warnend den Finger: still! Diese Vorsicht war wohl überflüssig, denn das Meer toste dermaßen, daß die im Steuerhaus bestimmt nichts hörten.

»Hier ist Eingang zu die Kapitänsbrücke und Steuerhaus!« schrie Fox. »Ohne Erlaubnis von Kapitän darf niemand hinein!«

Coche zog den Revolver aus der Tasche und spannte den Hahn. Fandorin tat das gleiche.

»Sie werden schweigen!« warnte der Kommissar für alle Fälle den so überaus aktiven Diplomaten. »Ich mache das selbst! Oh, ich hätte nicht auf Sie hören sollen!« Und er stieß entschlossen gegen die Tür.

Sie ging nicht auf.

»Er hat sich eingeschlossen«, konstatierte Fandorin. »Sagen Sie was, Fox!«

Der Steuermann hämmerte gegen die Tür.

»Captain, it’s me, Jeremy Fox! Please open! We have an emergency!«1

Hinter der Tür tönte dumpf die Stimme Regniers: »What happened, Jeremy?«2

Die Tür blieb geschlossen.

Der Steuermann drehte sich ratlos zu Fandorin um. Der zeigte auf den Kommissar, hielt dann den Finger an die Schläfe und tat, als zöge er durch. Coche verstand die Pantomime nicht, aber Fox nickte und brüllte aus vollem Halse: »The french cop shot himself!«3

Sofort wurde die Tür aufgerissen, und Coche zeigte dem Kapitän mit Vergnügen sein nasses, doch quicklebendiges Gesicht. Und das schwarze Loch der Lefaucheux-Mündung.

Regnier stieß einen Schrei aus und prallte zurück wie von einem Schlag. Wenn das kein Indiz war: Ein Mensch mit gutem Gewissen weicht nicht so vor der Polizei zurück.

 

Coche packte ohne viel Federlesens den Seemann am Kragen seiner Segeltuchjacke.

»Es freut mich, daß die Nachricht von meinem Tod Sie dermaßen beeindruckt, Herr Radscha«, schnurrte der Kommissar, dann schnauzte er sein in ganz Paris berühmtes: »Hände über den Kopf! Sie sind verhaftet!«

Bei diesen Worten waren schon abgefeimte Pariser Halsabschneider in Ohnmacht gefallen.

Am Steuerrad war, halb umgewandt, der Rudergänger erstarrt. Er hatte gleichfalls die Hände gehoben, und das Steuerrad drehte leicht nach Steuerbord.

»Halt das Rad fest, Idiot!« fuhr Coche ihn an. »Und du« – er stieß einen der Wachhabenden leicht mit dem Finger an – »holst sofort den Ersten Offizier her, er soll das Schiff übernehmen. Einstweilen kommandieren Sie, Fox. Aber ein bißchen plötzlich! Befehlen Sie ›Maschine stop‹ oder, was weiß ich, ›volle Kraft rückwärts‹, aber stehen Sie nicht da wie ein Ölgötze!«

»Mal sehen«, sagte der Steuermann, über die Karte gebeugt. »Vielleicht ist noch nicht zu spät, backbords zu steuern.«

Mit Regnier war alles klar. Er versuchte nicht einmal, den Empörten zu spielen, stand da mit gesenktem Kopf. Die Finger seiner erhobenen Hände bebten.

»So, dann wollen wir uns mal unterhalten«, sagte Coche herzlich zu ihm. »Ach, werden wir uns schön unterhalten!«