KOMMISSAR COCHE

 

 

»Wann läßt man uns endlich an Land?« jammerte Madame Kleber. »Alle Welt geht in Bombay spazieren, nur wir sitzen hier fest.«

Die Gardinen an den Fenstern waren zugezogen, denn die zum Zenit aufgestiegene Sonne heizte das Deck auf und ließ die Luft schmelzen. Heiß und stickig war’s im »Hannover«, doch alle blieben geduldig sitzen und warteten auf die Lösung.

Coche zog seine Taschenuhr, ein Auszeichnungsstück mit dem Profil Napoleons III., und antwortete verschwommen: »Bald, Herrschaften. Bald lasse ich Sie gehen. Aber nicht alle.«

Er wußte, worauf er wartete: Inspektor Jackson und seine Männer machten eine Durchsuchung. Das Mordwerkzeug lag zwar gewiß auf dem Grunde des Ozeans, aber vielleicht wurden andere Beweisstücke gefunden. Hoffentlich. Nun konnte Jackson aber kommen.

Die »Leviathan« war bei Morgengrauen in Bombay eingelaufen. Seit gestern abend saßen die »Hannoveraner« in ihren Kabinen unter Hausarrest. Coche hatte mit Vertretern der örtlichen Behörden verhandelt, seine Mutmaßungen geäußert und um Unterstützung gebeten. Daraufhin hatte man ihm Jackson und eine Truppe Konstabler geschickt. Na los, Jackson, bewege dich, trieb Coche den langsamen Inspektor in Gedanken an. Nach der schlaflosen Nacht hatte er einen Kopf wie eine Kesselpauke, und die Leber muckerte. Aber seine Stimmung war nicht schlecht – der Faden entwirrte sich, und schon war das Ende zu erkennen.

Um halb neun ließ Coche, der mit der Bombayer Polizei alles geregelt und das Telegraphenamt aufgesucht hatte, alle Arrestanten im »Hannover« zusammenkommen – das war günstiger für die Durchsuchung. Nicht einmal die schwangere Renate wurde verschont, obwohl sie in der Tatzeit bei den anderen gewesen war und den Professor keineswegs hatte meucheln können. Schon seit fast vier Stunden bewachte der Kommissar seine Gefangenen. Er hatte einen strategischen Punkt besetzt, nämlich einen tiefen Sessel gegenüber dem Verdächtigen. Draußen, vom Salon aus nicht zu sehen, standen zwei bewaffnete Polizisten.

Ein Gespräch kam im Salon nicht in Fluß, die Arrestanten schwitzten und waren nervös. Von Zeit zu Zeit blickte Regnier herein, nickte Renate mitfühlend zu und enteilte wieder zu seinen Pflichten. Zweimal erschien der Kapitän, aber er sagte nichts, versengte nur den Kommissar mit einem wütenden Blick. Als ob der alte Coche die Suppe eingebrockt hätte!

Der verwaiste Stuhl von Professor Sweetchild erinnerte an eine Zahnlücke. Der Indologe lag jetzt an Land in einer Kühlkammer des Bombayer Leichenschauhauses. Coche stellte sich das Halbdunkel und die Eisblöcke vor und war fast neidisch auf den Toten. Der lag da, hatte alle Sorgen hinter sich, der durchweichte Kragen schnitt ihm nicht in den Hals.

Der Kommissar blickte Doktor Truffo an, dem offenbar auch nicht wohl in seiner Haut war: Über das brünette Gesicht des Arztes lief der Schweiß in Strömen, und seine englische Furie zischte ihm unentwegt ins Ohr.

»Was schauen Sie mich so an, Monsieur!« explodierte er, als er den Blick des Polizisten auffing. »Immerfort starren Sie mich an! Das ist empörend! Mit welchem Recht? Seit fünfzehn Jahren arbeite ich nach bestem Wissen und Gewissen …« Er schluchzte beinahe. »Ja, mit einem Skalpell, na und? Das kann sonst wer gewesen sein!«

»Wirklich mit einem Skalpell?« fragte Mademoiselle Stomp ängstlich.

Zum erstenmal in der ganzen Zeit wurde im Salon über das Geschehene gesprochen.

»Ja, einen so sauberen Schnitt macht nur ein sehr gutes Skalpell«, antwortete Truffo ärgerlich. »Ich habe die Leiche untersucht. Offensichtlich hat jemand Sweetchild von hinten gepackt, ihm mit einer Hand den Mund zugehalten und mit der anderen die Kehle durchgeschnitten. Im Korridor ist die Wand mit Blut vollgespritzt – etwas über Mannshöhe. Weil der Kopf nach hinten gerissen wurde.«

»Dafür bedarf es doch keiner besonderen Körperkraft?« fragte der Russe, der sich hier auch als Kriminalist aufspielte. »Genügt nicht das Ü-überraschungsmoment?«

Der Doktor zuckte verzagt die Achseln.

»Ich weiß nicht, Monsieur. Ich habe es noch nicht versucht.«

Aha! Die Tür ging auf, und es zeigte sich die knochige Physiognomie des Inspektors. Er winkte Coche mit dem Finger, und der rappelte sich ächzend aus dem Sessel hoch.

Im Korridor erwartete den Kommissar eine angenehme Überraschung. Ach, wie gut sich das alles fügte! Wirkungsvoll, schön. Am besten gleich ins Schwurgericht – solche Beweisstücke vermochte kein Advokat zu entkräften. Ja, der alte Gustave Coche konnte noch jedem jungen Bengel hundert Punkte vorgeben. Auch Jackson war tüchtig, er hatte sich bemüht.

Zu viert kehrten sie in den Salon zurück: der Kapitän, Regnier, Jackson und als letzter Coche. Er fühlte sich so wohl, daß er sogar ein Liedchen trällerte. Und die Leber gab Ruhe.

»Das wär’s, meine Damen und Herren«, erklärte er aufgeräumt und trat in die Mitte des Salons. Er hielt die Hände auf dem Rücken und wippte leicht auf den Absätzen. Es war schon angenehm, sich als bedeutende Person zu fühlen, gewissermaßen sogar als Schicksalslenker. Der Weg war lang und steinig gewesen, aber nun war er bewältigt. Was blieb, war der Erfolg.

»Der alte Coche hat sich den grauen Kopf zerbrechen müssen, doch wie einer die Spur auch verwischt, ein alter Spürhund wittert die Fuchshöhle. Mit der Ermordung Professor Sweetchilds hat der Verbrecher sich endgültig verraten, es war ein Schritt der Verzweiflung. Aber ich denke, der Mörder wird mir beim Verhör von dem indischen Tuch erzählen und manches andere noch. Im übrigen möchte ich dem Herrn russischen Diplomaten danken, der mir, ohne es zu wissen, mit einigen Fragen und Bemerkungen geholfen hat, den richtigen Weg zu finden.«

In diesem Moment des Triumphs konnte Coche sich Großmut erlauben. Er nickte Fandorin herablassend zu. Der neigte schweigend den Kopf. Sie waren ja doch widerlich, die Aristokraten mit ihrem hoffärtigen Getue, ein menschliches Wort bekam man von ihnen nicht zu hören.

»Ich fahre nicht weiter mit Ihnen. Wie man so sagt – danke für die Gesellschaft. Auch der Mörder geht an Land, den ich gleich hier auf dem Schiff Inspektor Jackson übergeben werde.«

Alle blickten hellwach den finsteren mageren Herrn an, der beide Hände in den Taschen hielt.

»Ich freue mich, daß dieser Alptraum vorüber ist«, sagte Kapitän Cliff. »Ich weiß, Sie hatten eine Menge Unannehmlichkeiten, aber das liegt nun hinter uns. Wenn Sie es möchten, wird der Chefsteward Sie auf andere Salons verteilen. Ich hoffe, die weitere Fahrt mit unserer ›Leviathan‹ wird Ihnen helfen, die Geschichte zu vergessen.«

»Wohl kaum«, antwortete Madame Kleber für alle. »Wir haben hier so viel Nervenkraft gelassen! Aber spannen Sie uns nicht auf die Folter, Monsieur Kommissar, und sagen Sie rasch, wer der Mörder ist.«

Der Kapitän wollte noch etwas sagen, doch Coche hob abwehrend die Hand – seine Rede sollte ein Solo sein, das hatte er sich verdient.

»Ich gestehe, anfangs waren Sie mir alle verdächtig. Das Aussieben war langwierig. Jetzt kann ich Ihnen das Wichtigste mitteilen: Bei der Leiche von Lord Littleby fanden wir ein goldenes Abzeichen der ›Leviathan‹, dieses hier.« Er klopfte mit dem Finger auf den Wal an seinem Revers. »Dieses kleine Ding gehörte dem Mörder. Wie Sie wissen, haben solch ein Abzeichen nur die höheren Schiffsoffiziere und die Passagiere der Ersten Klasse. Die Offiziere schieden sofort als Verdächtige aus, denn sie hatten alle das Abzeichen, und keiner hatte sich an die Schiffahrtsgesellschaft mit der Bitte um ein neues gewandt, da das alte verlorengegangen wäre. Dafür hatten vier der Passagiere das Abzeichen nicht: Mademoiselle Stomp, Madame Kleber, Monsieur Milford-Stokes und Monsieur Aono. Auf diese Vier hatte ich ein besonderes Auge. Doktor Truffo ist als Arzt hier, Mrs. Truffo als seine Frau, und der Herr russische Diplomat trug sein Abzeichen aus Snobismus nicht, weil er nicht wie ein Hausmeister aussehen wollte.«

Der Kommissar brannte seine Pfeife an und ging im Salon auf und ab.

»Ich habe gesündigt und bereue. Ganz zu Anfang habe ich den Herrn Baronet verdächtigt, bekam aber rechtzeitig eine Auskunft über seine … Umstände und nahm eine andere Person aufs Korn. Sie, gnädige Frau.« Coche wandte sich Mademoiselle Stomp zu.

»Ich habe es bemerkt«, sagte sie würdevoll. »Ich bin nur nicht dahintergekommen, was mich so verdächtig machte.«

»Aber nanu?« sagte Coche verwundert. »Erstens ist zu sehen, daß Sie erst vor kurzem zu Reichtum gekommen sind. Das allein ist schon verdächtig. Zweitens haben Sie gelogen, Sie wären noch nie in Paris gewesen. Dabei steht auf Ihrem Fächer mit Goldbuchstaben ›Hotel Ambassadeur‹. Zwar tragen Sie den Fächer nicht mehr bei sich, aber Coche hat scharfe Augen. In teuren Hotels bekommen Gäste solche Sächelchen zur Erinnerung geschenkt. Das ›Ambassadeur‹ liegt ausgerechnet in der Rue de Grenelle, fünf Gehminuten vom Schauplatz des Verbrechens. Es ist ein großes, schickes Hotel, dort steigen viele ab, warum hält Mademoiselle Stomp es geheim? fragte ich mich. Da stimmt etwas nicht. Und dann saß mir noch diese Marie Sansfond im Kopf.« Der Kommissar lächelte Clarissa Stomp entwaffnend zu. »Nun, ich habe meine Kreise gezogen und bin schließlich auf die richtige Spur gestoßen, also tragen Sie es mir nicht nach, Mademoiselle.«

In diesem Moment sah Coche, daß der rothaarige Baronet weiß wie ein Laken war: Der Unterkiefer bebte, die grünen Augen glühten wie bei einem Basilisken.

»Was meinen Sie mit … meinen ›Umständen‹?« fragte er langsam, an den Wörtern würgend. »Worauf spielen Sie an, Herr Spürhund?«

»Aber-aber.« Coche hob beschwichtigend die Hand. »Beruhigen Sie sich erst mal. Sie dürfen sich nicht aufregen. Wen gehen Ihre Umstände was an? Ich habe ja nur sagen wollen, daß Sie mir nicht mehr verdächtig waren. Wo haben Sie übrigens Ihr Abzeichen?«

»Weggeworfen«, antwortete der Baronet heftig, und seine Augen sprühten noch immer Blitze. »Es ist abscheulich! Sieht aus wie ein goldener Blutegel! Außerdem …«

»Außerdem steht es einem Baronet Milford-Stokes nicht an, solch ein Schildchen zu tragen wie irgendwelche Neureichen, stimmt’s?« bemerkte der Kommissar scharfsinnig. »Noch ein Snob.«

Mademoiselle Stomp schien auch beleidigt.

»Kommissar, Sie haben sehr plastisch beschrieben, was meine Person verdächtig gemacht hat. Besten Dank«, sagte sie giftig und schob das spitze Kinn vor. »Immerhin haben Sie Gnade für Recht ergehen lassen.«

»In Aden habe ich etliche telegraphische Anfragen an die Pariser Präfektur geschickt. Auf die Antworten konnte ich nicht warten, denn die Ermittlungen brauchten ihre Zeit, aber in Bombay waren die Depeschen schon da. Eine davon betrifft Sie, Mademoiselle. Jetzt weiß ich, daß Sie seit Ihrem vierzehnten Lebensjahr, nach dem Tode Ihrer Eltern, bei einer entfernten Tante auf dem Lande gelebt haben. Sie war reich, aber geizig, behandelte Sie, ihre Gesellschaftsdame, stiefmütterlich und hielt Sie fast nur bei Wasser und Brot.«

Die Engländerin errötete und bereute sichtlich ihre Bemerkung. Macht nichts, mein Herzblatt, dachte Coche, gleich wirst du erst richtig rot werden.

»Vor ein paar Monaten ist die Alte gestorben, und es stellte sich heraus, daß sie ihr Vermögen Ihnen vermacht hat. Es nimmt nicht wunder, daß Sie nach so vielen Jahren des Eingesperrtseins erst mal die Welt anschauen und eine Weltreise unternehmen wollten. Bis dahin hatten Sie wohl nichts als Bücher gesehen, stimmt’s?«

»Und warum hat sie verheimlicht, daß sie in Paris war?« fragte Madame Kleber unhöflich. »Weil ihr Hotel in derselben Straße lag, in der so viele Menschen ermordet wurden? Aus Angst, der Verdacht könnte auf sie fallen?«

»Nein«, sagte Coche auflachend. »Der Grund ist ein anderer. Mademoiselle, plötzlich reich geworden, tat, was jede Frau an ihrer Stelle getan hätte – sie fuhr nach Paris, in die Hauptstadt der Welt, um die Pariser Sehenswürdigkeiten zu betrachten, sich nach der letzten Mode zu kleiden und … romantische Abenteuer zu erleben.«

Die Engländerin preßte nervös ihre Finger und blickte flehend, aber Coche war nicht mehr zu bremsen – ich werde Ihnen schon zeigen, verflixte Milady, was es heißt, über einen Kommissar der Pariser Polizei die Nase zu rümpfen.

»Und Madame Stomp bekam reichlich Romantik zu kosten. Im Hotel ›Ambassadeur‹ lernte sie einen unwahrscheinlich gutaussehenden und umgänglichen Kavalier kennen, der in der Verbrecherkartei unter dem Spitznamen ›Vampir‹ geführt wurde. Ein bekannter Schwindler, spezialisiert auf nicht mehr junge reiche Ausländerinnen. Die Leidenschaft flammte im Nu auf wie immer bei ›Vampir‹ und endete ohne Vorwarnung. Eines Morgens, um genau zu sein, am 13. März, erwachten Sie, Madame, in Einsamkeit und erkannten das Hotelzimmer nicht wieder – es war leer. Ihr Herzensfreund hatte alles mitgenommen, bis auf die Möbel. Man schickte mir die Liste der Ihnen geraubten Gegenstände.« Der Kommissar blickte in seine Mappe. »Unter der Nummer 38 steht ›eine Goldbrosche in Form eines Wals‹. Als ich das alles las, verstand ich, warum Madame Stomp sich nicht gern an Paris erinnert.«

Das unglückliche Dummchen konnte einem leid tun – sie hielt die Hände vors Gesicht, ihre Schultern zuckten.

»Madame Kleber habe ich nicht ernsthaft verdächtigt«, ging Coche zum nächsten Punkt der Tagesordnung über. »Obwohl sie für das Fehlen des Abzeichens keine vernünftige Erklärung hatte.«

»Und walum haben Sie meine Mitteilung ignolielt?« fragte der Japaner plötzlich. »Ich habe Ihnen doch etwas sehl Wichtiges elzählt.«

»Ignoriert?« Der Kommissar wandte sich heftig dem Sprecher zu. »Keineswegs. Ich habe mit Madame Kleber gesprochen, und sie hat mir erschöpfende Auskunft gegeben. Das erste Stadium der Schwangerschaft hat ihr so zu schaffen gemacht, daß der Arzt ihr Schmerzmittel verschrieben hat. Die schmerzhaften Zustände hörten danach auf, aber die Ärmste hatte sich schon an das Präparat gewöhnt und nahm es zur Beruhigung und als Schlafmittel. Die Dosis wurde immer größer, und schon hatte sich eine verhängnisvolle Abhängigkeit herausgebildet. Ich habe väterlich mit Madame Kleber gesprochen, und sie hat in meiner Gegenwart das Zeug über Bord geworfen.« Coche blickte Renate gespielt streng an, und sie schob kindlich die Unterlippe vor. »Meine Liebe, Sie haben dem alten Coche Ihr Ehrenwort gegeben.«

Renate senkte den Blick und nickte.

»Ah, welch rührendes Feingefühl für Madame Kleber!« explodierte Clarissa. »Mich braucht man wohl nicht zu schonen, Herr Detektiv? Mich kann man zum Gespött machen, ja?«

Aber Coche hatte jetzt keinen Sinn für sie, er sah den Japaner an, und sein Blick war schwer, haftend. Der kluge Jackson begriff ohne Worte, daß es Zeit war. Seine Hand tauchte aus der Tasche, und sie hielt einen Revolver aus matt blinkendem brüniertem Stahl. Die Mündung zielte genau auf die Stirn des Asiaten.

»Ihr Japaner haltet uns doch für rothaarige Affen, nicht wahr?« fragte Coche. »Ich habe gehört, daß ihr uns Europäer so nennt. Wir sind behaarte Barbaren, stimmt’s? Dafür seid ihr schlau, feinfühlig, hochkultiviert, und die Weißen können euch nicht das Wasser reichen!« Der Kommissar blies höhnisch die Wangen auf und stieß eine dicke Rauchwolke zur Seite aus. »Ein Dutzend Affen umzubringen, das ist doch eine Lappalie und gilt bei euch nicht als Sünde.«

Aono straffte sich, sein Gesicht versteinerte.

»Sie beschuldigen mich, ich hätte Lold Littleby und seine Vasallen, das heißt, seine Dienel, umgeblacht?« fragte er mit monotoner, lebloser Stimme. »Walum?«

»Weil die Kriminologie darauf hinweist, mein Bester«, sprach der Kommissar gewichtig und wandte sich von dem Japaner ab, denn die Rede, die er halten wollte, war nicht für diesen gelbbäuchigen Bastard bestimmt, sondern für die Geschichte. Gebt mir nur Zeit, dann wird sie in den Lehrbüchern der Kriminologie gedruckt!

»Zuerst, meine Herrschaften, nenne ich Ihnen die indirekten Umstände, die beweisen, daß dieser Mann die Verbrechen, deren ich ihn anklage, begehen konnte. (Ach, diese Rede müßte ich nicht hier vor einem Dutzend Zuhörern halten, sondern im Justizpalast vor vollem Saal!) Sodann präsentiere ich Ihnen die Indizien, die unwiderlegbar beweisen, daß Monsieur Aono die elf Menschen nicht nur ermorden konnte, sondern tatsächlich ermordet hat – zehn am 15. März in der Rue de Grenelle und einen gestern, am 14. April, an Bord der ›Leviathan‹.«

Rund um Aono bildete sich ein leerer Raum, nur der Russe blieb neben dem Arrestanten sitzen, und der Inspektor stand mit dem schußbereiten Revolver hinter ihm.

»Ich hoffe, niemand bezweifelt, daß der Tod Professor Sweetchilds direkt mit dem Verbrechen in der Rue de Grenelle zusammenhängt. Die Untersuchung hat ergeben, daß die Tat das Ziel hatte, nicht den goldenen Schiwa zu rauben, sondern das Seidentuch.« Coche guckte mürrisch: Ja, die Untersuchung, da brauchen Sie nicht das Gesicht zu verziehen, Herr Diplomat.

»Denn das Tuch ist der Schlüssel zu den verborgenen Schätzen des einstigen Radschas Bagdassar von Brahmapur. Wir wissen bislang nicht, auf welche Weise der Beschuldigte das Geheimnis des Tuchs herausfand. Doch wir wissen alle, daß der Orient viele Geheimnisse hat, deren Wege uns Europäern verschlossen sind. Aber der tote Professor, ein wirklicher Kenner des Orients, vermochte zur Lösung vorzudringen. Er war schon im Begriff, uns seine Entdeckung mitzuteilen, doch da setzte der Feueralarm ein. Der Verbrecher hatte sicherlich den Eindruck, das Schicksal selbst sende ihm die prächtige Gelegenheit, Sweetchild den Mund zu stopfen. Und wieder wären alle Spuren verwischt, wie in der Rue de Grenelle. Aber der Verbrecher ließ einen wichtigen Umstand außer acht: Diesmal war Kommissar Coche in der Nähe, und mit dem funktionieren solche Scherze nicht. Es war ein riskanter Plan, doch nicht ohne Erfolgschancen. Der Täter wußte, daß der Gelehrte als erstes in seine Kabine eilen würde, um seine Papiere zu retten … das heißt, seine Manuskripte. Dort, hinter der Ecke des Korridors, beging der Mörder seine Untat. Also, indirekter Umstand Nummer eins.« Der Kommissar hob den Finger. »Monsieur Aono lief aus dem Salon, er konnte den Mord begehen.«

»Nicht nul ich«, sagte der Japaner. »Aus dem Salon sind noch sechs Pelsonen gelaufen: Monsieur Legnier, Monsieur und Madame Tluffo, Monsieur Fandolin, Monsieur Milfold-Stokes und Mademoiselle Stomp.«

»Richtig«, stimmte Coche zu. »Aber ich wollte den Beisitzern, also den Anwesenden, nur den Zusammenhang der beiden Verbrechen demonstrieren wie auch die Möglichkeit, daß Sie den gestrigen Mord begehen konnten. Nun zurück zu dem ›Verbrechen des Jahrhunderts‹. Als es stattfand, war Herr Aono in Paris. Dieses Faktum steht außer Zweifel und wird durch eine Depesche, die ich bekommen habe, bestätigt.«

»In Palis walen zusammen mit mil noch andelthalb Millionen Menschen«, warf der Japaner ein.

»Und doch ist dies der indirekte Umstand Nummer zwei«, sagte der Kommissar gespielt treuherzig.

»Ein bißchen sehr indirekt«, wandte der Russe ein.

»Unbestritten.« Coche stopfte Tabak in die Pfeife und machte den nächsten Zug. »Aber die tödliche Injektion hat den Dienern von Lord Littleby ein Arzt verabfolgt. Ärzte gibt es in Paris nicht anderthalb Millionen, sondern erheblich weniger, nicht wahr?«

Diese Behauptung zog niemand in Zweifel. Kapitän Cliff fragte: »Das stimmt, aber was folgt daraus?«

»Ich sag’s Ihnen, Herr Kapitän.« Coches scharfes Auge blitzte. »Unser Freund Aono ist keineswegs Offizier, wie er sich uns vorgestellt hat, sondern diplomierter Chirurg, und er hat vor kurzem die Medizinische Fakultät der Sorbonne absolviert! Das wird in derselben Depesche mitgeteilt.«

Wirkungsvolle Pause. Gedämpftes Stimmengewirr im Saal des Justizpalastes, die Pressezeichner stricheln mit den Bleistiften in den Notizblocks: Kommissar Coche spielt das Trumpfas aus. Wartet nur, meine Lieben, das ist es noch gar nicht, das Trumpfas kommt erst noch.

»Und damit, meine Herrschaften, kommen wir von den indirekten Umständen zu den Beweisen. Monsieur Aono soll uns doch mal erklären, warum er, als Arzt Vertreter eines angesehenen Berufs, sich als Offizier ausgegeben hat. Wozu diese Lüge?«

Über die wachsbleiche Schläfe des Japaners rann ein Schweißtropfen. Er sagte nichts. Sein Pulver hatte nicht lange vorgehalten.

»Es gibt nur eine Antwort: um den Verdacht von sich abzulenken. Der Mörder war Arzt!« resümierte der Kommissar zufrieden. »Und nun der Beweis Nummer zwei. Haben Sie, meine Herrschaften, schon vom japanischen Kampf gehört?«

»Nicht nur gehört, ich habe ihn gesehen«, sagte der Kapitän. »Einmal in Macao war ich dabei, wie ein japanischer Steuermann drei amerikanische Matrosen verprügelte. Ein schmächtiges Männlein, das man scheint’s umpusten konnte, aber wie er sprang und mit Armen und Beinen zuschlug – er warf die drei bärenstarken Waljäger zu Boden. Dem einen hieb er die Handkante gegen den Arm, worauf der Ellbogen nach der anderen Seite stand, er hatte ihm den Knochen durchschlagen, können Sie sich das vorstellen? Solch ein Schlag!«

Coche nickte zufrieden.

»Ich habe auch gehört, daß die Japaner das Geheimnis des tödlichen waffenlosen Kampfes beherrschen. Sie können einen Menschen mit nur einem Finger töten. Wir alle haben mehr als einmal gesehen, wie Herr Aono seine Gymnastik machte. In seiner Kabine unterm Bett wurden Stücke eines Kürbis gefunden, der sehr hart gewesen sein muß. Und in einem Sack hatte er noch mehrere heile. Sie dienten dem Beschuldigten wohl dazu, die Kraft und Genauigkeit seines Schlags zu üben. Ich kann mir nicht vorstellen, was für Kraft man haben muß, um einen harten Kürbis mit der bloßen Hand zu zerschlagen, noch dazu in mehrere Stücke.«

Der Kommissar blickte die Anwesenden vielsagend an und spielte den Beweis Nummer zwei aus: »Ich erinnere Sie daran, meine Herrschaften, daß der Schädel des unglücklichen Lord Littleby durch den ungewöhnlich starken Schlag mit einem schweren stumpfen Gegenstand in mehrere Bruchstücke zertrümmert wurde. Betrachten Sie jetzt die schwieligen Handkanten des Beschuldigten.«

Der Japaner nahm seine kleinen sehnigen Hände mit einem Ruck vom Tisch.

»Jackson, lassen Sie den Mann nicht aus den Augen, er ist sehr gefährlich«, warnte Coche. »Wenn was ist, schießen Sie ihn ins Bein oder in die Schulter. Ich möchte Herrn Aono fragen: Wo haben Sie das goldene Abzeichen gelassen? Sie schweigen? Dann antworte ich für Sie: Das hat Ihnen Lord Littleby abgerissen, als Sie ihm den tödlichen Schlag mit der Handkante versetzten.«

Aono öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, aber er biß sich mit den ein wenig schiefen kräftigen Zähnen auf die Lippen und schloß die Augen. Sein Gesicht wirkte sonderbar entrückt.

»Es ergibt sich folgendes Bild des Verbrechens in der Rue de Grenelle«, erklärte Coche. »Am Abend des 15. März erschien Gintaro Aono in der Villa von Lord Littleby mit der vorgefaßten Absicht, alle Bewohner des Hauses zu töten und sich das dreieckige Tuch aus der Sammlung des Hausherrn anzueignen. Zu diesem Zeitpunkt besaß er schon ein Billett für die ›Leviathan‹, die vier Tage später von Southhampton nach Indien auslaufen sollte. Offensichtlich wollte der Beschuldigte in Indien nach dem Schatz von Brahmapur suchen. Wir wissen nicht, wie es ihm gelang, die unglückliche Dienerschaft zu der ›Choleraimpfung‹ zu überreden. Wahrscheinlich hat er ein gefälschtes Papier der Pariser Mairie vorgewiesen. Das dürfte durchaus glaubhaft gewirkt haben, weil, wie ich aus der Depesche weiß, mitunter tatsächlich Medizinstudenten des Absolventensemesters der Sorbonne für prophylaktische Maßnahmen herangezogen werden. Unter den Studierenden und Stationsärzten der Universität sind viele Asiaten, so daß die gelbe Haut des abendlichen Besuchers die zum Tode verurteilten Bediensteten kaum irritiert haben mag. Am ungeheuerlichsten ist die unmenschliche Grausamkeit, mit der zwei unschuldige Kinder getötet wurden. Meine Herrschaften, ich habe nicht wenig Erfahrung im Umgang mit dem Abschaum der Gesellschaft. Im Eifer des Gefechts kann ein Bandit wohl einen Säugling in den Kamin werfen, aber so, mit kalter Berechnung, mit ruhiger Hand … Sie werden zugeben, das ist nicht französisch und nicht europäisch.«

»Vollkommen richtig!« rief Regnier zornig, und Doktor Truffo pflichtete ihm von Herzen bei.

»Das Weitere war einfach«, fuhr Coche fort. »Der Mörder überzeugte sich, daß die von den Injektionen vergifteten Bediensteten in tiefem Schlaf lagen, aus dem sie nicht wieder erwachen sollten, stieg dann seelenruhig hinauf in den ersten Stock, in den Saal, wo die Sammlung aufbewahrt wurde, und ging dort ans Werk. Er war ja überzeugt, daß der Hausherr verreist sei. Aber der unglückliche Lord Littleby war wegen eines Podagraanfalls nicht nach Spa gefahren und hielt sich zu Hause auf. Als er Glas klirren hörte, kam er in den Saal, wo er auf das barbarischste umgebracht wurde. Dieser Mord war nicht geplant, und der Verbrecher verlor seine teuflische Kaltblütigkeit. Wahrscheinlich hatte er möglichst viele Exponate mitnehmen wollen, um die Aufmerksamkeit nicht auf das verhängnisvolle Tuch zu lenken, doch jetzt mußte er sich beeilen. Vielleicht hat der Lord vor seinem Tode ja auch geschrien, und der Mörder befürchtete, man könnte die Schreie auf der Straße hören. Ob so oder anders, er nahm den für ihn unnötigen goldenen Schiwa und suchte das Weite, ohne zu bemerken, daß in der Hand des Toten das goldene Abzeichen der ›Leviathan‹ zurückblieb. Um die Untersuchung in die Irre zu führen, stieg Aono auf seinem Rückweg durch das Fenster der Orangerie … Doch halt!« Coche griff sich an die Stirn. »Daß ich nicht eher darauf gekommen bin! Er konnte ja gar nicht auf demselben Weg zurück, wenn der Lord geschrien hatte! Vielleicht waren draußen schon Passanten zusammengelaufen? Darum schlug Aono ein Fenster der Orangerie heraus, sprang in den Garten und kletterte über den Zaun. Doch die Vorsicht war überflüssig, die Rue de Grenelle war zu dieser späten Stunde menschenleer. Selbst wenn der Lord geschrien hatte, niemand hatte es gehört.«

Die empfindsame Madame Kleber schluchzte auf. Mrs. Truffo hörte sich die Übersetzung an und schneuzte sich gefühlvoll.

Beweiskräftig, anschaulich, unstrittig, dachte Coche. Die Beweise und die Mutmaßungen der Untersuchung ergänzten sich bestens. Doch das, meine Lieben, ist noch nicht alles, was der alte Coche für euch in Reserve hat.

»Es ist nun an der Zeit, daß wir zur Ermordung Professor Sweetchilds kommen. Der Beschuldigte hat mit Recht gesagt, theoretisch hätten das außer ihm noch sechs Personen tun können. Gemach, gemach, meine Damen und Herren!« Der Kommissar hob beschwichtigend die Hand. »Ich werde jetzt beweisen, daß nicht Sie den Professor getötet haben, sondern daß es niemand anders war als unser schlitzäugiger Freund.«

Der Japaner war wie versteinert. Schlief er vielleicht? Oder betete er zu seinem japanischen Gott? Aber ob du betest oder nicht, du mußt dich doch auf die alte Schlampe, die Guillotine, legen.

Plötzlich kam dem Kommissar ein höchst unangenehmer Gedanke. Und wenn sich nun die Engländer den Japaner wegen der Ermordung Sweetchilds schnappten? Der war doch britischer Untertan gewesen! Dann würde der Verbrecher vor ein englisches Gericht gestellt, und statt auf die französische Guillotine käme er an den britischen Galgen. Nur das nicht! Wem nützte eine Gerichtsverhandlung im Ausland? Das »Verbrechen des Jahrhunderts« mußte im Justizpalast verhandelt werden und sonst nirgends! Was zählte es schon, daß Sweetchild auf einem englischen Schiff ermordet wurde. In Paris hatte es zehn Leichen gegeben und hier nur eine, überdies war das Schiff nicht ausschließlich britisches Eigentum, denn im Konsortium waren beide Länder vertreten!

Coche regte sich so auf, daß seine Gedanken sich verwirrten. Nein, Pustekuchen, sagte er im stillen, meinen Kunden kriegt ihr nicht. Gleich bin ich mit dem Theater hier fertig, dann geh ich zum französischen Konsul. Ich selbst werde den Mörder nach Frankreich bringen. Und er malte sich aus: Das Schiff legt in Le Havre an, Himmel und Menschen, Polizeioffiziere, Journalisten …

Er mußte die Sache zu Ende bringen.

»Inspektor Jackson wird jetzt über die Ergebnisse der Durchsuchung berichten, die er in der Kabine des Beschuldigten vorgenommen hat.«

Der Inspektor wollte trocken und sachlich auf englisch losrattern, doch der Kommissar unterbrach ihn.

»Die Untersuchung wird von der französischen Polizei durchgeführt«, sagte er streng. »Die offizielle Sprache der Ermittlung ist Französisch. Außerdem wird Ihre Sprache hier nicht von allen verstanden, Monsieur. Ich bin nicht sicher, daß der Beschuldigte Englisch versteht. Sie werden zugeben, daß er das Recht hat, die Ergebnisse Ihrer Durchsuchung zu erfahren.«

Dieser Protest war von prinzipieller Bedeutung – die Engländer mußten von Anfang an in ihre Schranken gewiesen werden. Sie sollten wissen, daß sie hier nicht die erste Geige spielten.

Als Dolmetscher erbot sich Regnier. Er stellte sich neben den Inspektor und übersetzte Satz für Satz, doch er schmückte die kurzen abgehackten Äußerungen des Engländers mit dramatischer Intonation und ausdrucksstarken Gesten aus.

»Entsprechend der Instruktion wurde die Kabine Nr. 24 durchsucht. Der Name des Passagiers: Gintaro Aono. Die Kabine ist rechteckig und 200 Quadratfuß groß. Sie wurde in 20 horizontale und 44 vertikale Quadrate aufgeteilt.« Regnier fragte zurück und erklärte dann: »Die Wände werden auch in Quadrate aufgeteilt, denn sie müssen nach Geheimfächern abgeklopft werden. Ob solche freilich in einer Schiffskabine vorstellbar sind … Die Durchsuchung erfolgte zunächst in der Vertikale, dann in der Horizontale. In den Wänden wurde kein Geheimfach gefunden.« Regnier breitete vielsagend die Arme aus – wer hätte das gedacht? »Bei der Untersuchung der horizontalen Ebene wurden folgende Gegenstände gefunden und der Akte beigefügt: erstens Aufzeichnungen in Hieroglyphenschrift, die sollen übersetzt und studiert werden. Zweitens ein langer, sehr scharfer Dolch von orientalischem Aussehen. Drittens ein Sack mit elf ägyptischen Kürbissen. Viertens unterm Bett Stücke eines zerschlagenen Kürbis. Und endlich fünftens eine Arzttasche mit chirurgischen Instrumenten. Ein großes Skalpell fehlt.«

Die Zuhörer ächzten auf. Der Japaner öffnete die Augen und warf einen kurzen Blick auf den Kommissar, sagte aber wieder nichts.

Gleich gesteht er, dachte Coche, doch er irrte. Der Asiat, ohne von seinem Stuhl aufzustehen, drehte sich jäh zu dem hinter ihm stehenden Inspektor um und schlug ihn von unten kraftvoll gegen die Hand, die den Revolver hielt. Während die Waffe in einem malerischen Bogen durch die Luft flog, war der flinke Japaner schon an der Tür, riß sie auf – und lief mit der Brust gegen zwei Colts: Im Korridor standen Polizisten. Im nächsten Moment beendete der Revolver des Inspektors seine Flugbahn, krachte auf den Tisch, und es gab einen ohrenbetäubenden Knall. Geläut, Gekreisch, Pulverqualm.

Coche taxierte schnell die Situation: Der Arrestant wich zurück zum Stuhl, Mrs. Truffo lag in Ohnmacht, andere Opfer waren nicht zu sehen, der Big Ben hatte unterhalb des Zifferblatts ein Loch, und die Zeiger standen still, dennoch läutete er. Die Damen kreischten. Aber die Situation war unter Kontrolle.

Als der Japaner wieder auf seinem Stuhl saß, sicherheitshalber mit Handschellen gefesselt, als die Arztfrau ins Leben zurückgeholt war und alle Platz genommen hatten, lächelte der Kommissar und sagte, mit seiner Kaltblütigkeit kokettierend: »Soeben, meine Herren Geschworenen, haben Sie einem aufrichtigen Geständnis beigewohnt, das freilich in nicht ganz gewöhnlicher Form gemacht wurde.«

Er hatte sich mit den »Geschworenen« wieder versprochen, doch er korrigierte sich nicht, es war eben eine Probe.

»Es war der letzte Beweis, und einen direkteren kann es nicht geben«, schloß Coche zufrieden. »Und Ihnen, Jackson, muß ich einen Tadel aussprechen. Ich hatte Sie gewarnt, daß der Mann gefährlich ist.«

Der Inspektor war krebsrot. Das hatte er verdient.

Aber alles lief vorzüglich. Der Japaner saß vor drei Pistolenmündungen, die gefesselten Hände an die Brust gedrückt. Seine Augen waren wieder geschlossen.

»Das wär’s, Inspektor. Sie können ihn mitnehmen. Soll er einstweilen bei Ihnen im Kittchen sitzen. Später, wenn die Formalitäten erledigt sind, nehme ich ihn mit nach Frankreich. Meine Damen und Herren, leben Sie wohl. Der alte Coche geht an Land. Ihnen noch eine glückliche Reise.«

»Ich fürchte, Kommissar, Sie werden mit uns w-weiterfahren müssen«, sagte der Russe in ganz alltäglichem Ton.

Coche glaubte, sich verhört zu haben.

»Hä?«

»Herr Aono ist gänzlich unschuldig, so daß die U-untersuchung weitergehen muß.«

Coche machte ein überaus dummes Gesicht: die Augen quollen hervor, die Wangen liefen rot an.

Der Russe, ohne die Explosion abzuwarten, sagte mit wahrhaft unnachahmlicher Selbstsicherheit: »Herr Kapitän, auf dem Sch-schiff haben Sie die oberste Gewalt. Der Kommissar hat uns soeben die Imitation einer gerichtlichen Untersuchung vorgespielt, wobei er die Rolle des Staatsanwalts übernahm und sie sehr überzeugend vortrug. Aber vor einem zivilisierten Gericht erhält nach dem Ankläger der V-verteidiger das Wort. Wenn Sie gestatten, möchte ich diese Mission übernehmen.«

»Wozu Zeit verlieren?« fragte der Kapitän verwundert. »Ich finde, es ist auch so alles klar. Der Herr Polizist hat alles sehr gut erklärt.«

»Einen Passagier an Land zu setzen ist eine höchst e-ernste Angelegenheit. Letzten Endes fällt die ganze Verantwortung auf den Kapitän. Überlegen Sie, welchen Schaden Sie dem Ruf der Schiffahrt z-zufügen, wenn sich herausstellt, daß es ein Irrtum war. Und ich versichere Ihnen«, Fandorin hob etwas die Stimme, »daß der Kommissar sich irrt.«

»Quatsch!« rief Coche. »Aber ich habe nichts dagegen. Das kann sogar interessant werden. Sprechen Sie, Monsieur, ich höre mit Vergnügen zu.«

Wirklich, es war eine Probe. Dieser Junge war nicht dumm, vielleicht hatte er in der Logik der Anklage irgendwelche Löcher entdeckt, die geflickt werden mußten. Wenn während des Prozesses der Staatsanwalt in Bedrängnis geriet, konnte Coche ihm zu Hilfe kommen.

Fandorin schlug ein Bein übers andere und verschränkte die Finger vor dem Knie.

»Sie haben eine beeindruckende und beweiskräftige R-rede gehalten. Auf den ersten Blick erscheint Ihre Argumentation unumstößlich. Ihre logische Kette wirkt fast makellos, obwohl die sogenannten indirekten Umstände natürlich nichts w-wert sind. Ja, Herr Aono war am 15. März in Paris. Ja, Herr Aono war zu dem Zeitpunkt, als der P-professor ermordet wurde, nicht im Salon. Für sich betrachtet, bedeuten diese beiden Fakten rein gar nichts, darum können wir sie außer acht lassen.«

»Einverstanden«, sagte Coche spöttisch. »Kommen wir gleich zu den Indizien.«

»Bitte sehr. An mehr oder weniger gewichtigen Indizien habe ich fünf gezählt. Monsieur Aono ist Arzt, hat diesen Umstand aber aus irgendwelchen Gründen geheimgehalten. Erstens. Monsieur Aono kann mit einem Schlag einen sehr harten Gegenstand spalten, einen Kürbis, vielleicht auch einen Kopf. Zweitens. Monsieur Aono hat kein ›Leviathan‹-Abzeichen. Drittens. In der Arzttasche des Beschuldigten fehlt das Skalpell, mit dem möglicherweise Professor Sweetchild ermordet wurde. Viertens. Und schließlich fünftens: Eben hat der Beschuldigte vor unseren Augen einen Fluchtversuch unternommen, womit er sich endgültig entlarvte. Habe ich etwas vergessen?«

»Ja, sechstens«, warf der Kommissar ein. »Er kann keinen dieser Punkte erklären.«

»Gut, also sechs«, stimmte der Russe leichthin zu.

Coche lachte auf.

»Mehr als genug, damit jedes Schwurgericht den Braven auf die Guillotine schickt.«

Inspektor Jackson schüttelte plötzlich den Kopf und knurrte: »To the gallows.«

»Nein, an den Galgen«, übersetzte Regnier.

Ach, der Engländer, diese schwarze Seele, dachte Coche. Ich habe eine Schlange am Busen genährt.

»Aber erlauben Sie mal«, fuhr er hoch. »Die Ermittlung ist von französischer Seite durchgeführt worden. Also kommt der Bursche auf die Guillotine!«

»Aber das entscheidende Indiz, das Fehlen des Skalpells, hat die britische Seite entdeckt. Er kommt an den Galgen«, übersetzte der Leutnant.

»Das Hauptverbrechen wurde in Paris verübt! Guillotine!«

»Aber Lord Littleby war britischer Untertan. Professor Sweetchild auch. Galgen.«

Der Japaner schien diese Diskussion nicht zu hören, die in einen internationalen Konflikt auszuarten drohte. Seine Augen waren noch immer geschlossen, das Gesicht war ohne jeden Ausdruck. Diese Gelben sind eben doch anders als wir, dachte Coche. Wozu der ganze Aufwand: Staatsanwalt, Advokat, Geschworene, Richter im Talar. Na schön, alles richtig, Demokratie ist Demokratie, aber im Volksmund heißt das »Perlen vor die Säue werfen«.

Nach einer Pause sagte Fandorin: »Sind die Streitereien beendet? Kann ich f-fortfahren?«

»Los«, sagte Coche finster, im Kopf die bevorstehenden Schlachten mit den Briten.

»Wir wollen auch die gespaltenen Kürbisse nicht d-diskutieren. Sie beweisen gar nichts.«

Die ganze Komödie hing dem Kommissar allmählich zum Halse heraus.

»Gut. Keine Kleinkrämerei.«

»A-ausgezeichnet. Bleiben nur fünf Punkte: verheimlicht, daß er Arzt ist; das fehlende Abzeichen; das fehlende Skalpell; der Fluchtversuch; er gibt keine Erklärungen.«

»Aber jeder Punkt reicht aus, ihn aufs … Schafott zu schicken.«

»Die Sache ist die, Kommissar, daß Sie europäisch denken. Herr Aono hat eine andere L-logik, eine japanische, und Sie haben sich nicht die Mühe gemacht, in sie einzud-dringen. Ich hingegen hatte mehr als einmal die Ehre, mich mit dem Mann zu unterhalten, und ich habe von seiner seelischen Struktur eine bessere Vorstellung als Sie. Monsieur Aono ist nicht einfach Japaner, er ist ein Samurai, noch dazu aus einem a-alten und einflußreichen Geschlecht. Das ist in diesem Falle wichtig. Über fünf Jahrhunderte waren die Männer des Geschlechts Aono nur Krieger, alle anderen Berufe galten als unwürdig für die Mitglieder einer so vornehmen S-sippe. Der Beschuldigte ist der dritte Sohn in der Familie. Als Japan sich dafür entschied, Europa einen Schritt entgegenzukommen, schickten viele angesehene Familien ihre Söhne zum Studium ins Ausland. Das tat auch der Vater von Herrn Aono. Den ältesten Sohn ließ er in England zum Marineoffizier ausbilden. Das Fürstentum Satsuma, in dem das Geschlecht der Aonos lebt, liefert nämlich die Kader für Japans Kriegsmarine, und der Dienst auf See hat in Satsuma das größte Prestige. Den zweiten Sohn schickte Aono senior nach Deutschland, an die Militärakademie. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870 beschlossen die Japaner, das deutsche Armeemodell zu übernehmen; ihre Militärberater sind durchweg Deutsche. Diese Angaben über die Familie Aono habe ich von dem Beschuldigten persönlich.«

»Und was zum Teufel nützen uns die aristokratischen Details?« fragte Coche gereizt.

»Mir ist aufgefallen, daß der Beschuldigte von seinen Vorfahren und seinen älteren B-brüdern mit Stolz redet und über sich selbst am liebsten schweigt. Ich habe längst bemerkt, daß er für einen Saint-Cyr-Absolventen in militärischen Dingen erstaunlich unwissend ist. Und warum hätte man ihn an die französische Militärakademie schicken sollen, wenn die japanische Armee, wie er selber sagt, nach deutschem Muster organisiert wird? Meine Mutmaßung läuft auf folgendes hinaus: Aono senior hatte, den Zeichen der Zeit nachgebend, beschlossen, seinen dritten Sohn einen friedlichen Beruf erlernen zu lassen, den des Arztes. Wie ich aus Büchern weiß, ist es in Japan nicht ü-üblich, einen Beschluß des Familienoberhauptes anzufechten, und der Beschuldigte bezog gehorsam die medizinische Fakultät. Aber dabei fühlte er sich höchst unglücklich und sogar entwürdigt. Er, der Sproß des kriegerischen Geschlechts der Aonos, sollte mit Binden und K-klistierspritzen umgehen! Das ist der Grund, warum er sich als Militär ausgab. Er schämte sich einfach, seinen unkriegerischen Beruf publik zu machen. Vom europäischen Standpunkt mag das absurd sein, aber versuchen Sie, es mit seinen Augen zu s-sehen. Wie hätte sich Ihr Landsmann d’Artagnan gefühlt, wenn man ihn gezwungen hätte, nicht Musketier, sondern Arzt zu werden?«

Coche sah, wie mit dem Japaner eine Veränderung geschah. Er hatte die Augen geöffnet und sah Fandorin mit deutlicher Erregung an; auf seine Wangen traten rote Flecke. Errötete er etwa? Unsinn!

»Ach, was für Feinheiten«, fauchte der Kommissar. »Aber lassen wir das dahingestellt sein. Erzählen Sie mir lieber, Herr Verteidiger, wo Ihr schüchterner Klient das goldene Abzeichen gelassen hat. Hat er sich geschämt, es zu tragen?«

»Genauso ist es.« Der selbsternannte Advokat nickte unerschütterlich. »Ja, er hat sich geschämt. Was steht denn auf dem Abzeichen geschrieben?«

Coche linste hinunter auf sein Revers.

»Gar nichts steht da geschrieben. Nur die drei Anfangsbuchstaben der Schiffahrtsgesellschaft ›Jasper-Arthaud Partnership‹.«

»Eben.« Fandorin zeichnete die drei Großbuchstaben in die Luft. »J-A-P. Also ›Jap‹. Das klingt wie ›Japs‹, der verächtliche Spitzname, mit dem die Ausländer die Japaner bezeichnen. Würden Sie, Kommissar, auf der Brust ein Abzeichen tragen, auf dem ›Froschfresser‹ geschrieben steht?«

Kapitän Cliff warf den Kopf zurück und lachte schallend. Sogar der sauertöpfische Jackson und die affektierte Miss Stomp lächelten. Die roten Flecke im Gesicht des Japaners wurden größer.

Coches Herz verkrampfte sich in einer unguten Vorahnung. Seine Stimme klang heiser: »Hätte er das nicht selbst erklären können?«

»Ausgeschlossen. Schauen Sie, soweit ich es aus den Büchern weiß, liegt der wesentliche Unterschied zwischen Europäern und Japanern in der sittlichen Grundlage des sozialen Verhaltens.«

»Sehr geklügelt«, bemerkte der Kapitän.

Der Diplomat wandte sich ihm zu.

»Keineswegs. Die christliche Kultur beruht auf dem Schuldgefühl. Sündigen ist schlecht, weil man sich hinterher mit Reue plagt. Um Schuldgefühle zu vermeiden, bemüht sich ein normaler Europäer um ein sittliches Verhalten. Genauso trachten die Japaner, nicht gegen ethische Normen zu verstoßen, aber aus einem anderen Grund. In ihrer Gesellschaft spielt die Scham die Rolle des moralischen Wächters. Am schlimmsten ist es für einen Japaner, in eine schmähliche L-lage zu kommen, von der Gesellschaft verurteilt oder, noch übler, verlacht zu werden. Darum haben die Japaner große Angst, etwas Ungehöriges zu tun. Ich versichere Ihnen: Als gesellschaftlicher Zivilisationsfaktor ist die Scham wirksamer als das Gewissen. Vom Standpunkt des Herrn Aono war es gänzlich undenkbar, von etwas ›Beschämendem‹ laut zu sprechen, noch dazu Fremden gegenüber. Arzt zu sein statt Militär ist beschämend. Eine Lüge einzugestehen ist noch beschämender. Und einzuräumen, daß er, ein japanischer Samurai, einem beleidigenden Spitznamen irgendeine Bedeutung beimessen könnte, ist ausgeschlossen.«

»Danke für die Lektion.« Coche machte eine ironische Verbeugung. »Und der Fluchtversuch Ihres Klienten, geschah der auch aus Scham?«

»That’s the point«, sagte Jackson beifällig, er wurde wieder vom Feind zum Freund. »The yellow bastard almost broke my wrist.«1

»Sie haben es wieder erraten, K-kommissar. Vom Schiff zu fliehen ist unmöglich, wohin auch? Mein Klient (wenn Sie ihn schon so nennen wollen) hielt seine Lage für aussichtslos und sah nur weitere Erniedrigungen voraus, darum wollte er sich sicherlich in seiner Kabine einschließen und seinem Leben nach Samuraibrauch ein Ende setzen. Ist es nicht so, Monsieur Aono?« Zum erstenmal sprach Fandorin den Japaner direkt an.

Der gab keine Antwort, senkte aber den Kopf.

»Sie würden eine Enttäuschung erlebt haben«, sagte ihm der Diplomat sanft. »Wahrscheinlich haben Sie es überhört: Ihr ritueller D-dolch ist von der Polizei bei der Durchsuchung beschlagnahmt worden.«

»Ah, Sie sprechen von diesem, wie heißt es gleich, Hirakira, Harikari.« Coche griente in seinen Schnauzbart. »Blödsinn, ich glaube nicht, daß ein Mensch sich selbst den Bauch aufschlitzt. Ammenmärchen. Wenn man schon ins Jenseits will, dann lieber mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Aber darüber will ich mich nicht mit Ihnen streiten. Ich habe ein Indiz, gegen das nicht anzukommen ist – das fehlende Skalpell. Was sagen Sie dazu? Daß der eigentliche Verbrecher es beizeiten Ihrem Klienten gestohlen hat, um den Mord vorzubereiten und die Verantwortung auf Aono abzuwälzen? Das geht nicht auf! Woher sollte der Mörder wissen, daß der Professor uns seine Entdeckung beim Mittagessen mitteilen wollte? Sweetchild war ja selber gerade erst dahintergekommen, wie sich das mit dem Tuch verhielt. Erinnern Sie sich, wie zerrauft er in den Salon gelaufen kam?«

»Nun, für das Fehlen des Skalpells kann ich Ihnen eine höchst einfache Erklärung g-geben. Und nicht als Vermutung, sondern als F-faktum. Erinnern Sie sich, wie nach Port Said plötzlich auf rätselhafte Weise Gegenstände aus den Kabinen verschwanden? Die geheimnisvolle Epidemie hörte so plötzlich wieder auf, wie sie begonnen hatte. Und wissen Sie wann? Nach dem Tod unseres dunkelhäutigen blinden P-passagiers. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie und warum er auf die ›Leviathan‹ geriet. Hier meine Theorie. Der Neger ist höchstwahrscheinlich von arabischen Sklavenhändlern aus Afrika verschleppt und auf dem Wasserweg nach Port Said gebracht worden. Warum ich das annehme? Weil er, nachdem er seinen Besitzern entflohen war, nicht irgendwohin lief, sondern auf ein Schiff. Er mag geglaubt haben, wenn ihn ein Schiff von zu Hause weggeschafft habe, könne ihn ein Schiff auch wieder zurückbringen.«

»Was hat das mit unserer Angelegenheit zu tun?« fragte Coche aufgebracht. »Ihr Neger starb am 5. April, und Sweetchild ist gestern ermordet worden! Und überhaupt, gehen Sie doch zum Teufel mitsamt Ihren Märchen! Jackson, führen Sie den Verhafteten ab!«

Er wandte sich entschlossen dem Ausgang zu, aber der Diplomat umklammerte auf einmal den Ellbogen des Kommissars und sagte mit widerwärtiger Höflichkeit: »Lieber Monsieur Coche, ich möchte meine Argumentation zu Ende b-bringen. Gedulden Sie sich noch ein wenig, es dauert nicht mehr lange.«

Coche versuchte sich loszureißen, doch die Finger des Milchbarts waren wie aus Stahl. Er zerrte ein paarmal vergeblich, wollte sich aber nicht lächerlich machen und drehte sich zu Fandorin um.

»Gut, noch fünf Minuten«, knurrte er und blickte haßerfüllt in die ungerührten blauen Augen des Frechlings.

»D-danke. Um Ihren letzten Beweis zu widerlegen, sind fünf Minuten vollauf genug. Ich wußte, daß der Flüchtling auf dem Dampfer irgendwo einen Unterschlupf haben mußte. Im Unterschied zu Ihnen, Kapitän, habe ich nicht in den Schiffsräumen und Kohlenbunkern zu suchen begonnen, sondern auf dem O-oberdeck. Den ›schwarzen Mann‹ hatten ja nur Passagiere der ersten Klasse gesehen. Da lag es nahe, anzunehmen, daß er sich hier versteckte. Und richtig, steuerbords im dritten Boot von vorn fand ich, was ich suchte: Speisereste und ein Bündel Sachen: ein paar bunte Tücher, eine Perlenschnur und etliche blanke G-gegenstände – ein kleiner Spiegel, ein Sextant, ein Kneifer und auch ein großes Skalpell.«

»Warum soll ich Ihnen glauben?« brüllte Coche. Sein Fall zerbröselte zusehends zu Staub.

»Weil ich kein persönliches Interesse habe und b-bereit bin, meine Aussagen zu beeiden. Darf ich fortfahren?« Der Russe lächelte widerlich. »Danke. Der arme Neger wollte wohl nicht mit leeren Händen nach Hause zurückkehren.«

»Stop mal!« Regnier runzelte die Stirn. »Monsieur Fandorin, warum haben Sie Ihre Entdeckung nicht dem Kapitän oder mir gemeldet? Welches Recht hatten Sie, das zu verheimlichen?«

»Ich habe es nicht verheimlicht. Das Bündel habe ich dort l-liegenlassen. Und als ich nach ein paar Stunden wieder in das Boot schaute, das war schon nach der D-durchsuchung des Schiffs, war es verschwunden. Ich dachte mir, Ihre Matrosen hätten es gefunden. Jetzt zeigt sich, daß der Mörder des Professors Ihnen zuvorgekommen ist. Die Beutestücke des Negers, auch das Skalpell von Monsieur Aono, sind in seinem Besitz. Der Verbrecher hat wohl die Möglichkeit … extremer Maßnahmen vorausgesehen und das Skalpell für alle Fälle bei sich getragen – um die Untersuchung auf eine falsche Spur zu führen. Monsieur Aono, Ihnen ist doch ein Skalpell gestohlen worden?«

Der Japaner zögerte und nickte dann.

»Und Sie haben nicht darüber gesprochen, weil ein Offizier der kaiserlichen Armee ja kein Skalpell haben k-kann, nicht wahr?«

»Der Sextant gehört mir!« erklärte der rothaarige Baronet. »Ich dachte … Aber unwichtig. Also dieser Wilde hat ihn gestohlen. Meine Herrschaften, wenn einem von Ihnen mit dem Sextanten der Schädel eingeschlagen wird – ich habe nichts damit zu tun.«

Es war eine totale Pleite. Coche schielte verwirrt zu Jackson.

»Tut mir leid, Kommissar, aber Sie müssen die Reise fortsetzen«, sagte der Inspektor auf französisch und verzog mitfühlend die schmalen Lippen. »My apologies, Mr. Aono. If You just stretch Your hands … Thank You.«2

Die Handschellen klirrten kläglich.

In die eingetretene Stille hinein tönte schallend die erschrockene Stimme von Renate Kleber: »Erlauben Sie, meine Herren, aber wer ist dann der Mörder?«