CLARISSA STOMP

 

 

Clarissa drehte sich mit gelangweilter Miene um, ob nicht jemand guckte, erst danach linste sie um die Ecke des Deckhauses.

Der Japaner saß allein achtern auf dem Bootsdeck, die Beine untergeschlagen. Sein Kopf war hoch erhoben, zwischen den halbgeschlossenen Lidern glitzerte gespenstisch das Weiß der Augäpfel, ein entrücktes und leidenschaftsloses Gesicht.

Brrr! Clarissa schüttelte sich. Dieser Mr. Aono war schon ein seltenes Exemplar. Hier auf dem Bootsdeck, eine Etage über dem Erste-Klasse-Deck, gab es keine Flaneure, nur ein Schwarm kleiner Mädchen vergnügte sich mit dem Springseil, und im Schatten eines schneeweißen Rettungsboots hockten zwei von der Hitze zermürbte Gouvernanten. Wer außer Kindern und dem halbverrückten Asiaten konnte sich in dieser Sonnenglut aufhalten? Über dem Bootsdeck gab es nur noch das Ruderhaus, die Kapitänsbrücke und natürlich Schornsteine, Masten und Segel. Die weißen Leinwände blähten sich unter dem Druck des Windes, die »Leviathan« eilte, Qualmwolken ausstoßend, auf den quecksilbrigen Streifen des Horizonts zu, und ringsum blinkte und schillerte das leicht zerknitterte flaschengrüne Tuch des Indischen Ozeans. Von hier oben war zu erkennen, daß die Erde tatsächlich rund war, denn der Horizont lag deutlich tiefer als die »Leviathan«.

Aber Clarissa setzte sich der schweißtreibenden Hitze keineswegs aus Liebe zu Meereslandschaften aus. Sie wollte sehen, was Mr. Aono dort oben trieb. Wohin entfernte er sich jedesmal nach dem Frühstück mit solch beneidenswerter Beständigkeit?

Und sie interessierte sich zu Recht. Hier zeigte der ewig lächelnde Asiat sein wahres Gesicht. Ein Mensch mit so erstarrten, erbarmungslosen Zügen ist zu allem fähig. Die Vertreter der gelben Rasse sind eben doch anders als wir, und nicht nur wegen des Augenschnitts. Äußerlich sehen sie Menschen sehr ähnlich, aber sie sind eine ganz andere Art. Wölfe sehen ja auch aus wie Hunde, haben jedoch eine völlig andere Natur. Gewiß, die Gelbhäutigen haben ihre eigene sittliche Basis, doch die ist dem Christentum dermaßen fremd, daß ein normaler Mensch sie nicht begreifen kann. Besser wär’s, sie trügen keine europäische Kleidung und wären unfähig, mit Messer und Gabel zu essen – damit schaffen sie nur die gefährliche Illusion, sie wären zivilisierte Menschen, dabei verbergen sich unter ihrem geleckten schwarzen Scheitel und ihrer glatten Stirn Dinge, die wir uns nicht vorstellen können.

Der Japaner regte sich, machte die Augen auf, und Clarissa retirierte eilig. Natürlich benahm sie sich wie eine dumme Gans, aber sie mußte doch etwas tun! Dieser Alpdruck konnte ja nicht ewig dauern. Sie mußte den Kommissar in die richtige Richtung schieben, sonst war ganz ungewiß, wie das alles enden würde. Trotz der Hitze bewegte sie fröstelnd die Schultern.

Mr. Aonos Aussehen und Benehmen bargen eindeutig ein Geheimnis. Wie das Verbrechen in der Rue de Grenelle. Sonderbar, daß Coche noch nicht begriffen hatte, daß allen Anzeichen nach der Japaner der Hauptverdächtige war.

Er wollte ein Offizier sein, ein Absolvent von Saint-Cyr, und hatte keine Ahnung von Pferden? Clarissa hatte einmal aus reiner Menschenliebe den schweigsamen Asiaten an der allgemeinen Unterhaltung beteiligen wollen und das Gespräch auf ein Thema gelenkt, das einen Militär interessieren mußte – Reiten, Pferderennen, die Vorzüge und Nachteile der Norfolktraber. Schöner Offizier! Auf die harmlose Frage, ob er schon einmal an einem Steeplechase teilgenommen habe, antwortete er, den Offizieren der kaiserlichen Armee sei es strengstens verboten, sich mit Politik zu befassen. Er weiß nicht, was ein Steeplechase ist! Natürlich ist unbekannt, was Japan für Offiziere hat – vielleicht reiten sie auf Bambusstecken, aber daß ein Absolvent von Saint-Cyr solche Unwissenheit bekundet? Ausgeschlossen.

Das mußte sie Coche verklickern. Oder sollte sie abwarten, bis sie noch etwas Verdächtiges herausfand?

Und der gestrige Vorfall? Clarissa war durch den Korridor gegangen, als aus Mr. Aonos Kabine höchst seltsame Geräusche drangen – ein trockenes Krachen, als ob jemand methodisch Möbelstücke zertrümmerte. Clarissa faßte sich ein Herz und klopfte.

Die Tür wurde aufgerissen. In der Öffnung stand der Japaner – nackt bis auf das Lendentuch! Der dunkle Körper glänzte schweißig, die Augen waren blutunterlaufen.

Als er Clarissa erblickte, stieß er einen Pfeiflaut aus.

Die zurechtgelegte Frage («Monsieur Aono, könnten Sie mir vielleicht ein paar der wundervollen Gravüren zeigen, von denen ich so viel gehört habe?«) war ihr entfallen, und sie stand starr. Gleich würde er sie in die Kabine zerren und sich über sie hermachen! Dann würde er sie in Stücke zerlegen und die ins Meer werfen. Das war ganz einfach. Und dann gäbe es Miss Clarissa Stomp nicht mehr, die wohlerzogene englische Lady, die nicht besonders glücklich war, aber noch so viel vom Leben erwartete.

Clarissa stammelte, sie habe sich in der Tür geirrt. Aono sah sie schweigend an und atmete schwer. Ein saurer Geruch ging von ihm aus.

Sie mußte wohl doch mit dem Kommissar sprechen.

 

Vor dem Five o’clock tea paßte sie an der Tür des Salons »Hannover« den Kommissar ab und teilte ihm ihre Überlegungen mit, doch der Kerl nahm das irgendwie sonderbar auf – er sah sie spöttisch und stechend an, als erwarte er ein unanständiges Geständnis. Zwischendurch brummte er in den Bart: »Wie sie doch alle erpicht sind, sich gegenseitig anzuschwärzen.«

Als sie fertig war, fragte er aus dem Nichts: »Die Herren Eltern sind hoffentlich wohlauf?«

»Wessen, von Monsieur Aono?«

»Nein, Mademoiselle, die Ihrigen.«

»Ich bin schon als Kind Waise geworden«, antwortete sie mit einem erschrockenen Blick auf den Kommissar.

»Was festzustellen war.« Coche nickte zufrieden und ging, ein Clarissa unbekanntes Liedchen trällernd, als erster in den Salon. Eine Flegelei!

Dieses Gespräch hinterließ einen unguten Bodensatz. Die Franzosen sind ja doch trotz all ihrer gepriesenen Galanterie keine Gentlemen. Natürlich sind sie imstande, einer Frau blauen Dunst vorzumachen und den Kopf zu verdrehen, ihr hundert rote Rosen aufs Hotelzimmer zu schicken (hier verzog Clarissa schmerzlich das Gesicht), aber glauben darf man ihnen nicht. Ein englischer Gentleman ist vielleicht etwas langweilig, dafür weiß er, was Pflicht und Anstand ist. Ein Franzose dagegen schleicht sich ins Vertrauen und übt dann Verrat.

Diese Verallgemeinerungen hatten freilich nicht direkt mit Kommissar Coche zu tun. Überdies lieferte er beim Mittagessen eine Erklärung für sein Benehmen, und das auf beunruhigende Weise.

Beim Dessert warf Coche, der bislang ein ungewohntes enervierendes Schweigen bewahrt hatte, plötzlich einen durchdringenden Blick auf Clarissa und sagte: »Übrigens, Mademoiselle Stomp, Sie fragten neulich nach Marie Sansfond, der Dame, die angeblich mit Lord Littleby kurz vor seinem Tode gesehen wurde.«

Clarissa fuhr vor Überraschung zusammen, alle verstummten und guckten neugierig den Kommissar an; sie kannten schon die besondere Intonation, mit der er seine »Geschichten« zu beginnen pflegte.

»Ich hatte versprochen, Ihnen später von dieser Frau zu erzählen. Jetzt ist die Zeit gekommen.« Coche sah nur Clarissa an, und dieser Blick gefiel ihr immer weniger. »Es wird eine lange Geschichte, aber langweilig ist sie nicht, denn es geht um eine außergewöhnliche Frau. Und wir haben ja Zeit, oder? Wir sitzen bequem, essen Käse, trinken Orangeade. Doch wenn jemand anderes zu tun hat, soll er in Gottes Namen gehen, der alte Coche ist nicht beleidigt.«

Niemand rührte sich vom Fleck.

»Also, soll ich von Marie Sansfond erzählen?« fragte er gespielt treuherzig.

»Ja, unbedingt!« riefen alle.

Nur Clarissa schwieg, sie wußte, daß das Gespräch nicht von ungefähr begonnen worden war und ausschließlich ihr galt. Coche machte auch keinen Hehl daraus.

Er schmatzte genüßlich und holte die Pfeife hervor, ohne die Damen um Erlaubnis zu fragen.

»Ich erzähle der Reihe nach. Es lebte einmal in der belgischen Stadt Brügge ein kleines Mädchen namens Marie. Ihre Eltern waren wohlanständige Bürger der Stadt, gingen regelmäßig in die Kirche und vergötterten ihr goldlockiges Kind. Als Marie fast sechs war, bekam sie ein Brüderchen, den künftigen Erben der Bierbrauerei ›Sansfond & Sansfond‹. Die glückliche Familie war nun noch glücklicher, doch plötzlich geschah ein Unglück. Der Säugling, kaum einen Monat alt, stürzte aus dem Fenster und war tot. Erwachsene waren nicht im Hause, nur die beiden Kinder und ihre Bonne. Aber die hatte sich für eine halbe Stunde entfernt, um sich mit ihrem Liebsten, einem Feuerwehrmann, zu treffen. Während ihrer Abwesenheit drang ein Unbekannter in schwarzem Umhang und mit schwarzem Hut ins Haus ein. Die kleine Marie konnte sich unterm Bett verstecken, doch ihr Brüderchen nahm der schwarze Mann aus der Wiege und warf es aus dem Fenster. Dann verschwand er.«

»Was erzählen Sie da für Scheußlichkeiten!« rief Madame Kleber und griff nach ihrem Bauch.

»Das ist noch gar nichts.« Coche winkte mit der Pfeife ab. »Das Beste kommt erst noch. Die wie durch ein Wunder gerettete Marie erzählte ihren Eltern von dem furchtbaren ›schwarzen Onkel‹. Auf der Suche nach dem Übeltäter wurde die ganze Umgebung auf den Kopf gestellt und im Eifer des Gefechts sogar der örtliche Rabbiner verhaftet, zumal der Ärmste immer in Schwarz herumlief. Aber dem Vater ließ ein merkwürdiges Detail keine Ruhe: Warum hatte der Verbrecher einen Hocker ans Fenster geschoben?«

»O Gott!« stöhnte Clarissa und faßte sich ans Herz. »Sollte etwa …«

»Sie sind unglaublich scharfsinnig, Mademoiselle Stomp«, sagte der Kommissar auflachend. »Ja, die kleine Marie hatte ihr Brüderchen aus dem Fenster geworfen.«

»How terrible!« rief Mrs. Truffo entsetzt. »But why?«1

»Das Mädchen konnte es nicht ertragen, daß alles sich nur noch um den Kleinen drehte und sie ganz vergessen war. Sie dachte, wenn sie das Brüderchen aus der Welt schafft, ist sie wieder der Liebling von Mama und Papa«, erklärte Coche unbewegt. »Aber es war das erste und letzte Mal, daß Marie Sansfond ein Beweisstück hinterließ und entlarvt wurde. Das liebe Kind hatte noch nicht gelernt, Spuren zu verwischen.«

»Und was geschah mit der minderjährigen Verbrecherin?« fragte Leutnant Regnier sichtlich erschüttert. »Sie konnte doch wohl nicht vor Gericht gestellt werden?«

»Nein, vor Gericht wurde sie nicht gestellt.« Der Kommissar lächelte Clarissa verschmitzt zu. »Aber die Mutter konnte den Schicksalsschlag nicht verwinden, ihr Verstand trübte sich, und sie kam ins Irrenhaus. Monsieur Sansfond mochte sein Töchterchen, das die Familie ins Unglück gestürzt hatte, nicht mehr sehen und gab sie ins Kloster der Vinzentinerinnen, der grauen Schwestern, wo sie erzogen wurde. Sie war in allem die Erste – im Lernen, in Gott gefälligen Werken. Am liebsten aber soll sie Bücher gelesen haben. Als die Novizin siebzehn war, ereignete sich im Kloster ein höchst unangenehmer Skandal.« Coche warf einen Blick in seine Mappe und nickte. »Da hab ich’s. 17. Juli 1866. Die Barmherzigen Schwestern erhielten Besuch vom Brüsseler Erzbischof, und es geschah, daß aus dem Schlafgemach des angesehenen Prälaten der uralte erzbischöfliche Ring mit dem riesigen Amethysten verschwand, der Ludwig dem Heiligen gehört haben sollte. Am Abend zuvor hatte Monsignore die beiden besten Novizinnen zu einer Unterredung in sein Gemach gebeten, unsere Marie und ein Mädchen aus Arles. Auf die beiden fiel natürlich der Verdacht. Die Äbtissin fand unter der Matratze der Arlesierin das Samtfutteral des Rings. Die Diebin fiel in Erstarrung, antwortete nicht auf Fragen und wurde in den Karzer gebracht. Als eine Stunde später die Polizei eintraf, konnte die Verbrecherin nicht mehr verhört werden, sie hatte sich mit der Gürtelschnur ihrer Kutte erhängt.«

»Das hat diese garstige Marie Sansfond gefingert, ich errate es!« rief Milford-Stokes. »Scheußlich, die Geschichte, scheußlich!«

»Das weiß niemand ganz genau, nur wurde der Ring nie gefunden.« Der Kommissar breitete die Arme aus. »Zwei Tage später kam Marie, in Tränen aufgelöst, zu der Äbtissin, sagte, daß alle sie scheel ansähen, und bat, sie aus dem Kloster zu entlassen. Die Mutter Äbtissin, die seltsamerweise gegen ihre Lieblingsnovizin abgekühlt war, hielt sie nicht.«

»Man hätte das Täubchen am Tor durchsuchen müssen«, sagte Dr. Truffo bedauernd. »Der Amethyst war bestimmt unter ihren Röcken versteckt.«

Als er diese Worte seiner Gattin übersetzt hatte, stieß sie ihm den spitzen Ellbogen in die Seite, denn sie hielt die Bemerkung wohl für anstößig.

»Ob man sie nicht durchsuchte oder doch, aber nichts fand, weiß ich nicht. Marie jedenfalls fuhr vom Kloster nach Antwerpen, das bekanntlich die Welthauptstadt für Edelsteine ist. Dort wurde die Ex-Nonne plötzlich reich und lebte fortan auf großem Fuß. Manchmal saß sie auch mit leeren Händen da, doch nicht lange – ihr scharfer Verstand, ihre glänzenden schauspielerischen Fähigkeiten und das gänzliche Fehlen moralischer Skrupel« (der Kommissar hob belehrend die Stimme und machte sogar eine Pause) »halfen ihr immer wieder, die Mittel für ein elegantes Leben aufzutreiben. Die Polizei von Belgien, Frankreich, England, den Vereinigten Staaten, Brasilien, Italien und einem weiteren Dutzend Länder nahm Marie Sansfond mehr als einmal fest und verdächtigte sie der verschiedensten Verbrechen, aber eine Anklage wurde ihr nie präsentiert: Mal gab es keine Anhaltspunkte, mal reichten die Indizien nicht aus. Wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen ein paar Episoden aus ihrer Dienstliste. Sie langweilen sich doch nicht, Mademoiselle Stomp?«

Clarissa hielt es für unter ihrer Würde, darauf zu antworten. Aber ihr war sorgenvoll zumute.

»Das Jahr 1870«, sagte Coche nach einem weiteren Blick in seine Mappe. »Das kleine, aber reiche Städtchen Fettburg in der deutschsprachigen Schweiz. Schokoladen- und Schinkenproduktion. Auf viertausend Einwohner kommen achteinhalbtausend Schweine. Eine Region der fetten Idioten – Pardon, Madame Kleber, ich wollte Ihre Heimat nicht beleidigen«, besann sich der Kommissar verspätet.

»Macht nichts.« Madame Kleber zuckte lässig die Achseln. »Ich komme aus der französischsprachigen Schweiz. In dem Teil, wo Fettburg liegt, leben tatsächlich nur Dummköpfe. Ich glaube, ich kenne die Geschichte, sie ist lustig. Erzählen Sie nur.«

»Lustig für manch einen vielleicht.« Coche seufzte vorwurfsvoll und zwinkerte plötzlich Clarissa zu, was schon über die Hutschnur ging. »Eines Tages gerieten die ehrlichen Bürger des Städtchens in unbeschreibliche Erregung. Ein Bauer namens Möbius, der in Fettburg als Faulpelz und Tölpel galt, prahlte, er habe am Vorabend sein Land verkauft, einen schmalen Streifen steiniger Brache, und zwar an eine hochgestellte Dame, die sich Gräfin de Sansfond nenne. Für 30 Acre unfruchtbaren Bodens, auf dem nicht mal Disteln wuchsen, habe ihm die dumme Gräfin 3 000 Franken bezahlt. Aber in der Stadtverwaltung gab es Leute, die klüger waren als Möbius, und denen kam die Geschichte spanisch vor. Was wollte die Gräfin mit 30 Acre Sand und Steinen? Irgendwas stimmte da nicht. Für alle Fälle wurde ein gewiefter Mitbürger nach Zürich entsandt, und der fand heraus, daß die Gräfin de Sansfond eine bekannte Person sei. Sie führe ein fröhliches Leben in Luxus, und das Interessanteste – sie zeige sich häufig in Begleitung des Herrn Goldsilber, des Direktors der staatlichen Eisenbahngesellschaft. Wie erzählt wurde, hatte der Herr Direktor mit der Gräfin ein Techtelmechtel. Und da reimten die Bürger sich alles zusammen. Ich muß erwähnen, daß das Städtchen Fettburg seit langem von einem Eisenbahnanschluß träumte, um Schokolade und Schinken billiger ausführen zu können. Das Ödland, das die fröhliche Gräfin erworben hatte, zog sich von der nächstgelegenen Bahnstation zu dem Wald, wo das Gemeindeland anfing. Den Stadtvätern dämmerte: Die Gräfin hatte von ihrem Liebhaber erfahren, daß der Streckenbau in Vorbereitung war, und hatte den Schlüsselabschnitt gekauft, um tüchtig zu kassieren. Und da reifte in den Köpfen der Bürger ein dreister Plan. Sie entsandten zu der Gräfin eine Deputation, die Ihre Erlaucht überreden sollte, das Landstück der ruhmreichen Stadt Fettburg abzutreten. Die Schöne sträubte sich zunächst und behauptete, von dem Streckenbau nichts zu wissen, doch als der Bürgermeister andeutete, die Sache rieche nach einer Absprache zwischen Ihrer Erlaucht und Seiner Exzellenz dem Herrn Direktor, und das sei strafbar, schluchzte die schwache Frau und willigte ein. Das Ödland wurde in dreißig gleich große Grundstücke aufgeteilt und auf einer Auktion versteigert. Die Fettburger schlugen sich beinahe, und einzelne Grundstücke erzielten einen Preis von 15 000. Insgesamt verdiente die Gräfin …« Der Kommissar fuhr mit dem Finger über die Zeile. »… fast 280 000 Franken.«

Madame Kleber prustete los und bedeutete Coche mit einer Geste: Ich sage nichts, erzählen Sie weiter.

»Wochen, Monate gingen ins Land, doch der Baubeginn blieb aus. Die Fettburger schickten eine Anfrage an die Regierung und erhielten die Antwort, in den nächsten fünfzehn Jahren sei für ihre Stadt kein Bahnanschluß vorgesehen. Sie liefen zur Polizei: so und so, Raub am hellichten Tag. Die Polizei hörte die Geschädigten voller Mitgefühl an, konnte aber nicht helfen, denn Madame Sansfond hatte ja selbst gesagt, daß sie von einem Bahnbau nichts wisse und ihr Land nicht abtreten wolle. Alles sei rechtmäßig und nicht anfechtbar. Nun, und daß sie sich als Gräfin ausgebe, sei natürlich nicht schön, aber leider auch nicht strafbar.

»Schlau!« lachte Regnier. »Wirklich, nicht anfechtbar.«

»Noch etwas.« Der Kommissar blätterte in seinen Papieren. »Es gibt da eine ganz phantastische Geschichte. Schauplatz ist der amerikanische Wilde Westen im Jahr 1873. In den Goldminen Californiens traf die weltbekannte Nekromantin und Großdrakonesse des Malteserordens Miss Kleopatra Frankenstein ein, laut Paß Marie Sansfond. Sie verkündete den Goldsuchern, die Stimme von Zarathustra habe sie in diese wilde Gegend geführt, und sie habe den Auftrag, in dem Städtchen Golden Nugget ein großes Experiment durchzuführen. Genau an diesem Längen- und Breitengrad konzentriere sich die kosmische Energie auf so einzigartige Weise, daß es möglich sei, in einer sternklaren Nacht mit Hilfe kabbalistischer Formeln Menschen, die bereits die Große Scheide zwischen dem Reich der Lebenden und dem Reich der Toten überschritten hätten, wieder auferstehen zu lassen. Sie, Kleopatra, wolle dieses Wunder in der kommenden Nacht vollbringen, in Anwesenheit von Publikum und gänzlich gratis, denn sie sei keine Zirkuskünstlerin, sondern ein Medium der Höheren Sphären. Und was glauben Sie?« Coche machte eine wirkungsvolle Pause. »Vor den Augen von fünfhundert bärtigen Zuschauern zauberte die Drakonesse über dem Grabhügel von Roter Coyote, einem legendären Indianerhäuptling, der vor hundert Jahren gestorben war, und plötzlich kam die Erde in Bewegung, man kann sagen, sie tat sich auf, und heraus stieg der indianische Krieger mit Federschmuck, Tomahawk und bemalter Physiognomie. Die Zuschauer erbebten, und Kleopatra, ganz im Banne der mystischen Trance, schrie gellend: ›Ich fühle in mir die Kraft des Kosmos! Wo ist euer städtischer Friedhof? Gleich mache ich alle, die dort liegen, wieder lebendig!‹ An dieser Stelle schreibt die Zeitung, daß der Friedhof von Golden Nugget sehr groß war, weil in den Goldminen tagtäglich jemand ins Jenseits befördert wurde. Es gab dort mehr Gräber, als die Stadt Einwohner hatte. Die Goldsucher malten sich aus, was geschehen würde, wenn all die Schlagetots, Trunkenbolde und Galgenvögel ihren Gräbern entstiegen, und verfielen in Panik. Der Friedensrichter rettete die Situation. Er trat vor und fragte die Drakonesse höflich, ob sie nicht bereit sei, dieses große Experiment abzubrechen, wenn die Einwohner der Stadt ihr eine volle Tasche Goldstaub spendeten, als bescheidenes Opfer für die Bedürfnisse der okkulten Wissenschaft.«

»Na und, hat sie eingewilligt?« fragte lachend der Leutnant.

»Ja. Für zwei Taschen.«

»Und der Indianerhäuptling?« fragte Fandorin lächelnd. Er hat ein schönes Lächeln, nur sehr jungenhaft, dachte Clarissa. Nein, Teuerste, schlage ihn dir aus dem Kopf. Wie man in Suffolk sagt: Lecker und rund, aber nicht für deinen Mund.

»Den Indianerhäuptling nahm Kleopatra Frankenstein mit«, antwortete Coche mit ernster Miene. »Für wissenschaftliche Untersuchungen. Er soll später in einem Bordell zu Denver im Suff erstochen worden sein.«

»Tatsächlich, eine interessante P-person, diese Marie Sansfond«, sagte Fandorin nachdenklich. »Erzählen Sie mehr von ihr. Von diesen geschickten Gaunereien bis zum kaltblütigen Massenmord ist es noch ein g-ganzes Ende.«

»Oh, please, it’s more than enough«, protestierte Mrs. Truffo und wandte sich an ihren Mann. »My darling, it must be awfully tiresome for You to translate all this nonsense.«2

»Madame, es zwingt Sie ja niemand, hier zu sitzen«, antwortete der Kommissar beleidigt.

Mrs. Truffo klapperte empört mit den Augen, dachte aber nicht daran zu gehen.

»Der Herr Kosak hat recht«, sagte Coche. »Ich will mal ein etwas böseres Beispiel raussuchen.«

Madame Kleber prustete mit einem Blick auf Fandorin, und auch Clarissa konnte sich trotz ihrer Nervosität eines Lächelns nicht enthalten, so wenig ähnelte der Diplomat einem wilden Sohn der russischen Steppe.

»Also, das Negerbaby, hören Sie zu. Hier haben wir auch einen letalen Ausgang. Die Sache liegt noch nicht lange zurück, zwei Jahre.« Der Kommissar sah ein paar zusammengeklammerte Blätter durch, um seine Erinnerung aufzufrischen. Er griente. »In gewisser Hinsicht ein Meisterwerk. Ich habe so allerhand in meiner Mappe, meine Damen und Herren.« Liebevoll klopfte er mit seiner kurzfingrigen Plebejertatze auf den schwarzen Kalikodeckel. »Der alte Coche hat sich gründlich auf die Reise vorbereitet und kein Papierchen vergessen, das ihm zupaß kommen könnte. Die Geschichte, die ich Ihnen jetzt erzähle, ist der Presse noch nicht zur Kenntnis gelangt, doch ich habe hier den Polizeibericht. Also, in einem deutschen Fürstentum (in welchem, sage ich nicht, denn es ist eine heikle Sache) wartete eine durchlauchte Sippe auf Familienzuwachs. Es wurde eine schwere Geburt. Zugegen war der angesehene Leibarzt Doktor Vogel. Endlich erfüllte ein Quäken das Schlafzimmer. Als die Großherzogin, die vor Schmerzen minutenlang das Bewußtsein verloren hatte, die Augen aufschlug und mit schwacher Stimme bat: ›Ach, Herr Professor, zeigen Sie mir mein Kind‹, reichte Doktor Vogel Ihrer Hoheit mit überaus verlegener Miene einen zauberhaften Schreihals von hellkaffeebrauner Farbe. Die Großherzogin verlor wieder das Bewußtsein. Der Doktor sah zur Tür hinaus und winkte mit dem Finger den Großherzog herbei, eine flagrante Verletzung der Hofetikette.«

Dem Kommissar war anzusehen, daß es ihm ein besonderes Vergnügen bereitete, den prüden »Hannover« diese Geschichte zu erzählen. In dem Polizeibericht dürften kaum solche Einzelheiten gestanden haben – Coche phantasierte also. Er lispelte, wenn er die Großherzogin zitierte, und wählte absichtlich hochtrabende Wörter, damit es komischer wirkte. Clarissa sah sich nicht als Aristokratin, aber sie verzog das Gesicht, denn den Hohn gegen adlige Persönlichkeiten empfand sie als schlechten Ton. Auch Milford-Stokes, Baronet und Sproß eines alten Geschlechts, runzelte die Stirn. Doch diese Reaktion schien den Kommissar noch mehr zu beflügeln.

»Seine Hoheit nahmen es dem Leibarzt nicht übel, denn es war ein erhebender Moment. Von seinen Gefühlen als Vater und Gatte überwältigt, stürmte der Großherzog ins Schlafzimmer … Die nun folgende Szene können Sie sich selber ausmalen: ein soldatenmäßig fluchender Landesherr, eine Großherzogin, die bald schluchzte, bald Rechtfertigungen stammelte, bald in Ohnmacht fiel, ein lauthals brüllendes Negerbaby und der in wohligem Entsetzen erstarrte Leibmedikus. Zu guter Letzt faßten sich Seine Hoheit und beschlossen, über das Schicksal der erlauchten Gattin später zu befinden. Einstweilen galt es, die Spuren zu verwischen. Bloß wie? Den Säugling heimlich in den Abtritt werfen?« Coche hielt schelmisch die Hand vor den Mund. »Bitte um Vergebung, meine Damen, das ist mir so herausgerutscht. Sich des Säuglings zu entledigen war unmöglich – das ganze Herzogtum wartete auf die Geburt. Es wäre ja auch eine Sünde gewesen. Die Berater zusammenrufen? Gott behüte, sie würden es ausplaudern. Was tun? Und da unterbreitete Doktor Vogel, ergebenst hüstelnd, einen Vorschlag zur Rettung der Situation. Er habe eine Bekannte, Fräulein von Sansfond, die Wunder vollbringe und nicht nur einen neugeborenen weißhäutigen Säugling beschaffen, sondern sogar einen Phönix vom Himmel holen könne. Sie verstehe zu schweigen, Geld für ihre Gefälligkeit werde sie als adliges Fräulein natürlich nicht nehmen, aber sie liebe altertümliche Kostbarkeiten … Kurz und gut, ein paar Stunden später ruhte in der Atlaswiege ein prächtiges Jungchen, heller als ein Milchferkel und sogar mit weißblondem Haar, und das arme Negerbaby war in unbekannter Richtung aus dem Palast getragen worden. Im übrigen hatte man der Großherzogin versichert, das unschuldige Kind werde in südliche Gefilde gebracht und dort von guten Menschen aufgezogen. Also, alles war aufs beste geregelt. Der dankbare Großherzog übergab dem Doktor für Fräulein von Sansfond eine wundervolle brillantbesetzte Tabaksdose mit Monogramm, dazu ein Dankschreiben, und er ließ ihr ausrichten, sie möge das Herzogtum ein für allemal verlassen. Was das taktvolle Fräulein auch ungesäumt tat.« Coche konnte ein Prusten nicht unterdrücken. »Am nächsten Morgen wollte der Großherzog endlich seinen Erben in Augenschein nehmen. Angewidert hob er den Jungen aus der Wiege, drehte ihn hin und her – und sah plötzlich auf dem rosigen Popo ein herzförmiges Muttermal. Genau solch ein Muttermal hatten an der gleichen Stelle Seine Hoheit, der verblichene Vater Seiner Hoheit, der Großvater und so fort bis ins siebte Glied. Der Großherzog, gänzlich irritiert, schickte nach dem Leibarzt, doch nun stellte sich heraus, daß Doktor Vogel letzte Nacht in unbekannter Richtung abgereist war, unter Zurücklassung seiner Frau und seiner acht Kinder.« Coche brach in ein heiseres Lachen aus, hustete, fuchtelte mit den Händen. Einer kicherte verlegen, Madame Kleber hielt sich keusch die Hand vor den Mund.

»Eine sogleich anberaumte Untersuchung ergab, daß sich der Leibarzt in letzter Zeit sonderbar benommen hatte und sogar im Spielcasino des benachbarten Baden-Baden gesehen worden war, noch dazu in Begleitung einer fröhlichen jungen Dame, die der Beschreibung nach Ähnlichleit mit Fräulein von Sansfond hatte.« Der Kommissar wurde ernst. »Der Arzt wurde zwei Tage später in einem Straßburger Hotel aufgefunden. Tot. Er hatte eine tödliche Dosis Laudanum genommen und einen Brief hinterlassen: ›An allem bin ich allein schuld.‹ Eindeutig Selbstmord. Wer in Wirklichkeit schuld war, lag auf der Hand, aber das beweise mal. Die Tabaksdose war ein allerhöchstes Geschenk, und dann war da noch der Brief. Ein Gerichtsprozeß wäre die Hoheiten teuer zu stehen gekommen. Am rätselhaftesten war, auf welche Weise der neugeborene Prinz gegen das Negerbaby vertauscht und wo im Reich der blauäugigen Blondköpfe überhaupt der schokoladenbraune Säugling hergekommen war. Allerdings hatte nach etlichen Informationen Marie Sansfond einige Zeit vor der beschriebenen Geschichte ein Stubenmädchen aus Senegal in ihren Diensten gehabt.«

»Sagen Sie, K-kommissar«, fragte Fandorin, als das Gelächter verstummt war (vier hatten gelacht: Leutnant Regnier, Doktor Truffo, Professor Sweetchild und Madame Kleber), »ist Marie Sansfond denn so schön, daß sie jedem Mann den Kopf verdrehen kann?«

»In allen Berichten steht, daß sie ganz alltäglich aussieht und keine besonderen Kennzeichen hat.« Coche warf einen frechen Blick auf Clarissa. »Die Haarfarbe, das Benehmen, den Akzent, den Kleidungsstil wechselt sie mühelos. Aber es scheint doch etwas an ihr dran zu sein. Ich habe in meinem Dienst alles Erdenkliche gesehen. Die verhängnisvollsten Herzensbrecherinnen sind selten schön. Wenn man ihr Photo betrachtet, gleitet der Blick ab, doch bei persönlicher Begegnung verspürt man ein Kribbeln auf der Haut. Ein Mann fliegt schließlich nicht auf eine gerade Nase und auf lange Wimpern, sondern auf einen besonderen Geruch.«

»Pfui, Kommissar«, wies Clarissa Coche zurecht. »Sie sind in Gesellschaft von Damen.«

»Ich bin in Gesellschaft von Verdächtigen«, parierte er gelassen. »Und Sie sind eine von ihnen. Woher soll ich wissen, ob Mademoiselle Sansfond nicht hier mit am Tisch sitzt?«

Seine Augen saugten sich an Clarissas Gesicht fest. Das erinnerte mehr und mehr an einen bösen Traum. Das Atmen fiel ihr schwer.

»Wenn ich richtig gerechnet h-habe, ist diese Dame jetzt 29 Jahre alt?«

Fandorins ruhige, sogar etwas indolente Stimme half Clarissa, sich wieder in die Gewalt zu bekommen. Für weibliche Eitelkeit war hier nicht der Platz, und sie rief: »Was starren Sie mich so an, Herr Schnüffler? Sie machen mir da ein unverdientes Kompliment. Ich bin älter als Ihre Abenteurerin, fast zehn Jahre! Auch die übrigen Damen taugen kaum für die Rolle der Mademoiselle Sansfond. Madame Kleber ist zu jung, und Madame Truffo spricht, wie Sie wissen, nicht französisch!«

»Für die gewiefte Marie Sansfond ist es eine Kleinigkeit, zehn Jahre mehr oder weniger zu spielen«, antwortete der Kommissar gemächlich, wobei er Clarissa nach wie vor durchdringend ansah. »Besonders wenn so viel Geld auf dem Spiel steht und im Falle des Scheiterns die Guillotine droht. Waren Sie wirklich nicht in Paris, Mademoiselle Stomp? Irgendwo in der Nähe der Rue de Grenelle?«

Clarissa wurde totenbleich.

»Na, hier muß ich mich als Vertreter der Schiffahrtsgesellschaft ›Jasper & Arthaud Partnership‹ einmischen«, unterbrach Regnier gereizt den Polizisten. »Meine Damen und Herren, ich versichere Ihnen, Gauner mit internationaler Reputation hatten keinen Zugang zu unserm Schiff. Unsere Gesellschaft garantiert, daß sich auf der ›Leviathan‹ keine Falschspieler, keine Kokotten und erst recht keine polizeibekannten Abenteurerinnen befinden. Verstehen Sie, wir sind auf Jungfernfahrt und tragen eine besondere Verantwortung. Skandale können wir uns nicht leisten. Kapitän Cliff und ich haben immer wieder die Passagierlisten durchgesehen und in Zweifelsfällen Erkundigungen eingezogen. Auch bei der französischen Polizei, Herr Kommissar. Ich und der Kapitän sind bereit, für jeden der Anwesenden zu bürgen. Wir werden Sie nicht hindern, Ihrer Berufspflicht nachzukommen, Monsieur Coche, aber Sie verschwenden Ihre Zeit. Und das Geld der französischen Steuerzahler.«

»Na-na«, knurrte Coche. »Wir werden ja sehen.«

Worauf Mrs. Truffo zur allgemeinen Erleichterung das Gespräch auf das Wetter brachte.