7. Tag des 4. Monats
In Aden
Der russische Diplomat ist ein Mann von tiefem, fast japanischem Verstand. Fandorin-san besitzt die uneuropäische Fähigkeit, eine Erscheinung in ihrer Ganzheit zu sehen, ohne in kleinen Details und technischen Einzelheiten steckenzubleiben. Die Europäer sind unübertroffene Experten in allem, was die Fertigkeiten betrifft, sie kennen bestens das Wie. Wir Asiaten dagegen besitzen Weisheit, denn wir wissen Warum. Für die Behaarten ist der Prozeß der Bewegung wichtiger als das Endziel, wir dagegen lassen kein Auge von dem in der Ferne flimmernden Leitstern, darum finden wir recht häufig nicht die Muße, nach rechts und links zu schauen. Deshalb sind die Weißen fast immer Sieger in kleinen Gefechten, während die gelbe Rasse unerschütterliche Ruhe bewahrt, da sie zuverlässig weiß, daß all das kleinliche Geschäftigkeit ist, die keine Aufmerksamkeit verdient. Im Wesentlichen, einzig Existenziellen wird der Sieg jedenfalls unser sein.
Unser Kaiser hat sich zu einem großen Experiment entschlossen: die Weisheit des Ostens mit dem Verstand des Westens zusammenzubringen. Wir Japaner eignen uns demütig die europäische Wissenschaft der täglichen Errungenschaften an, verlieren aber dabei nicht das Endziel der menschlichen Existenz aus dem Auge – den Tod und die darauf folgende höhere Form des Daseins. Die Rothaarigen sind zu individualistisch, ihr kostbares »Ich« verschließt ihnen die Augen, verzerrt das Bild der sie umgebenden Welt und erlaubt ihnen nicht, ein Problem aus verschiedenen Gesichtswinkeln zu betrachten. Die Seele des Europäers ist mit eisernen Nägeln an seinem Körper befestigt, und es ist ihr nicht gegeben, sich emporzuschwingen.
Wenn Fandorin-san zur Erleuchtung befähigt ist, so verdankt er das dem halbasiatischen Wesen seiner Heimat. Rußland ähnelt in vielem Japan: Osten mit einem Hang zum Westen. Nur vergessen die Russen, im Unterschied zu uns, den Leitstern, auf den das Schiff Kurs hält, und drehen den Hals gar zu sehr nach rechts und links. Sein »Ich« herauskehren oder es in dem mächtigen »Wir« auflösen – darin besteht der Gegensatz zwischen Europa und Asien. Ich glaube, Rußland hat eine gute Chance, vom ersten auf den zweiten Weg umzuschwenken.
Aber ich bin übermäßig ins Philosophieren geraten. Es wird Zeit, daß ich auf Fandorin-san und die Klarheit seines Verstandes komme. Ich beschreibe das Geschehen der Reihe nach.
Es war noch dunkel, als die »Leviathan« in Aden einlief. Über diesen Hafen steht in meinem Reiseführer: »Der Hafen von Aden, ein Gibraltar des Orients, dient England als Verbindungsglied zu Ost-Indien. Hier bunkern die Schiffe Kohle und ergänzen ihre Trinkwasservorräte. Die Bedeutung Adens ist seit der Eröffnung des Suezkanals unwahrscheinlich gestiegen. Die Stadt selbst ist nicht groß. Es gibt ausgedehnte Hafenspeicher, Werften, ein paar Faktoreien, Kontore, Gasthäuser. Die Stadt ist symmetrisch gebaut. Die Trockenheit des Bodens wird durch 30 uralte Zisternen ausgeglichen, in denen sich das Regenwasser aus den Bergen sammelt. Aden hat 34 000 Einwohner, vornehmlich indische Muselmanen.« Einstweilen muß ich mich mit dieser knappen Beschreibung zufriedengeben, denn die Schiffstreppe wird nicht heruntergelassen, und niemand darf an Land. Als Grund wird eine Sanitäts- und Quarantäne-Inspektion angegeben, aber wir Vasallen des Fürstentums Hannover kennen den wahren Sinn des Durcheinanders: Matrosen und Küstenpolizei durchkämmen das ganze gewaltige Schiff nach Negern.
Nach dem Frühstück blieben wir noch im Salon und warteten auf die Resultate der Durchsuchung. Hier kam es zwischen dem Polizeikommissar und dem russischen Diplomaten zu einem wichtigen Gespräch, dem alle Unsrigen beiwohnten (jetzt sind sie für mich schon die »Unsrigen«).
Es wurde zunächst über den Tod des Negers gesprochen, dann kam die Unterhaltung wie gewöhnlich auf die Pariser Morde. Ich beteiligte mich nicht daran, hörte aber sehr aufmerksam zu, obwohl es anfangs wieder so aussah, als wolle man einen grünen Affen im Bambusdickicht und eine schwarze Katze im dunklen Zimmer fangen.
Stomp-san sagte: »Also, Rätsel über Rätsel. Unbegreiflich, wie der Schwarze an Bord gekommen ist, unbegreiflich, warum er Madame Kleber ermorden wollte. Genau wie in der Rue de Grenelle. Die reinste Mystik.«
Da sagte Fandorin-san plötzlich: »Da gibt es keine Mystik. Mit dem Neger ist in der Tat noch manches unklar, aber was den Vorfall in der Rue de Grenelle betrifft, so ist das Bild, wie ich finde, mehr oder weniger klar.«
Alle starrten ihn verdattert an, und der Kommissar lächelte giftig. »Wirklich? Na, dann lassen Sie mal hören.«
Fandorin-san: »Ich denke, es war so. Am Abend kam jemand zur Villa in der Rue de Grenelle …«
Der Kommissar (mit gespielter Begeisterung): »Bravo! Eine geniale Idee!«
Einige lachten, doch die meisten hörten aufmerksam zu, denn der Diplomat ist keiner, der sinnlos die Luft bewegt.
Fandorin-san (unerschütterlich): »… jemand, dessen Erscheinen bei der Dienerschaft keinerlei Verdacht aufkommen ließ. Es war ein Arzt, möglicherweise im weißen Kittel und gewiß mit einer Arzttasche. Der unerwartete Gast sagte, alle im Hause Anwesenden müßten sich unverzüglich in einem Raum versammeln, denn auf Anordnung der Municipalité hätten sich alle Pariser einer prophylaktischen Impfung zu unterziehen.«
Der Kommissar (mit beginnender Verärgerung): »Was sind das für Phantastereien? Eine Impfung? Warum sollten die Bediensteten dem erstbesten Spitzbuben glauben?«
Fandorin-san (heftig): »Daß Sie nur nicht in nächster Zeit vom ›Ermittlungsführer in besonders wichtigen Fällen‹ degradiert werden zum ›Ermittlungsführer in nicht besonders wichtigen Fällen‹, Monsieur Coche. Sie studieren Ihre eigenen Materialien nicht aufmerksam genug, und das ist unverzeihlich. Werfen Sie doch nochmals einen Blick in den Artikel aus dem ›Soir‹, in dem von der Bekanntschaft Lord Littlebys mit der internationalen Abenteurerin Marie Sansfond die Rede ist.«
Der Kommissar kramte in seiner schwarzen Mappe, holte den Zeitungsausschnitt hervor und überflog ihn.
Der Kommissar (achselzuckend): »Na und?«
Fandorin-san (zeigte mit dem Finger): »Da unten. Schauen Sie, der Anfang der folgenden Notiz: CHOLERAEPIDEMIE IM ABKLINGEN. Da ist die Rede von ›energischen prophylaktischen Maßnahmen der Pariser Ärzte‹.«
Truffo-san: »Tatsächlich, meine Herrschaften. Paris hat den ganzen Winter über gegen das wiederholte Aufflackern der Cholera gekämpft. In Dover wurde sogar ein sanitärer Kontrollpunkt für die Kanalfähren aus Calais eingerichtet.«
Fandorin-san: »Darum weckte das Erscheinen eines Arztes bei der Dienerschaft keinerlei Verdacht. Der Besucher trat gewiß sehr sicher auf und sprach überzeugend. Möglicherweise sagte er, es sei schon spät, und er müsse noch mehrere Häuser aufsuchen, oder etwas in der Art. Den Hausherrn mochten die Diener wohl nicht behelligen, da sie von seinem Podagraanfall wußten, doch die Wächter aus dem ersten Stock haben sie natürlich gerufen. Eine Injektion ist schließlich Minutensache.«
Ich war begeistert von dem Scharfsinn des Diplomaten, der die schwierige Aufgabe so leicht gelöst hatte. Auch Kommissar Coche wurde nachdenklich.
»Mal angenommen, es war so«, sagte er mißmutig. »Aber wie wollen Sie den sonderbaren Umstand erklären, daß Ihr Arzt, nachdem er die Diener vergiftet hatte, nicht die Treppe zum ersten Stock hinaufstieg, sondern hinausging, über den Zaun in den Garten kletterte und das Fenster in der Orangerie zerschlug?«
Fandorin-san: »Ich habe darüber nachgedacht. Ist Ihnen noch nicht in den Sinn gekommen, daß es ja auch zwei Verbrecher gewesen sein können? Der eine beseitigte die Diener, und der andere drang derweil durchs Fenster ins Haus ein.«
Der Kommissar (triumphierend): »Doch, es ist mir in den Sinn gekommen, Herr Klugschwätzer. Zu dieser Schlußfolgerung wollte der Mörder uns ja verleiten. Er versuchte die Spur zu verwischen, das liegt auf der Hand! Nachdem er im Anrichteraum die Diener vergiftet hatte, stieg er die Treppe hinauf und stieß auf den Hausherrn. Wahrscheinlich hatte er das Glas der Vitrine mit Getöse zerschmettert, da er annahm, daß niemand weiter im Haus wäre. Der Lord kam auf den Lärm hin aus dem Schlafzimmer und wurde getötet. Nach diesem außerplanmäßigen Vorfall entwich der Täter eiligst, doch nicht durch die Tür, sondern durchs Fenster der Orangerie. Warum? Um uns zu verwirren und die Sache so darzustellen, als wären sie zu zweit gewesen. Und darauf sind Sie hereingefallen. Aber der alte Coche ist so billig nicht zu kaufen.«
Die Worte des Kommissars wurden beifällig aufgenommen. Regnier-san sagte sogar: »Verdammt, Kommissar, mit Ihnen ist nicht gut Kirschen essen.« (Dieser bildhafte Ausdruck kommt in verschiedenen europäischen Sprachen vor. Er ist nicht wörtlich zu nehmen. Der Leutnant will sagen, daß Coche-san ein sehr kluger und erfahrener Fahnder ist.)
Fandorin-san wartete ein wenig und fragte dann: »Sie haben also die Fußabdrücke unterm Fenster genau studiert und befunden, daß der Mann heruntergesprungen und nicht aufs Fensterbrett gestiegen ist?«
Darauf gab der Kommissar keine Antwort, sah aber den Russen verdrossen an.
Da machte Stomp-san eine Äußerung, die dem Gespräch eine neue, noch schärfere Note verlieh.
»Ein Verbrecher, zwei Verbrecher – ich verstehe noch immer nicht das Wichtigste: Wozu das alles?« sagte sie. »Nicht wegen des Schiwa, klar. Also wozu? Doch wohl nicht wegen des Tuchs, so herrlich es auch sein mag.«
Darauf sagte Fandorin-san, als verstünde sich das von selbst: »Doch, Mademoiselle, eben wegen des Tuchs. Der Schiwa wurde nur zur Ablenkung mitgenommen und gleich von der nächsten Brücke in die Seine geworfen, weil er nicht mehr benötigt wurde.«
Der Kommissar bemerkte: »Für russische Bojaren« (ich habe vergessen, was dieses Wort bedeutet, muß nachschlagen) »ist eine halbe Million Francs vielleicht eine Bagatelle, aber die meisten Menschen rechnen anders. Zwei Kilogramm reinen Goldes wurden also nicht mehr benötigt! Sie haben sich ganz ordentlich vergaloppiert, Herr Diplomat!«
Fandorin-san: »Nicht doch, Kommissar, was ist eine halbe Million Francs gegen die Schätze des Bagdassar?«
»Meine Herrschaften, Schluß mit dem Streit!« rief die verhaßte Madame Kleber launisch. »Ich wäre fast ermordet worden, und Sie reden schon wieder von dieser Geschichte. Während Sie in dem alten Verbrechen kramen, Kommissar, wäre ums Haar ein neues passiert, ohne daß Sie es merken.«
Diese Frau kann es einfach nicht ertragen, wenn sie nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Nach dem gestrigen Vorfall bemühe ich mich, sie möglichst wenig anzusehen – hätte ich doch größte Lust, ihr den Mittelfinger in das pulsierende blaue Äderchen an ihrem weißen Hals zu stoßen. Ein Stoß würde völlig ausreichen, diese Viper zu töten. Aber das gehört natürlich in den Bereich der bösen Gedanken, die ein willensstarker Mensch unterdrücken muß. Nun sind sie in das Tagebuch eingegangen, und der Haß hat ein wenig nachgelassen.
Der Kommissar wies Madame Kleber zurecht. »Schweigen Sie, gnädige Frau«, sagte er streng. »Wir wollen hören, was sich der Herr Diplomat noch ausgedacht hat.«
Fandorin-san: »Die ganze Geschichte macht nur dann einen Sinn, wenn das geraubte Tuch einen besonderen Wert hat. Erstens. Nach den Worten des Professors ist der Wert nicht so groß, also geht es nicht um das Stück Seide, sondern um etwas anderes. Zweitens. Wie wir wissen, hat das Tuch mit dem letzten Willen von Radscha Bagdassar zu tun, dem Besitzer der Schätze von Brahmapur. Drittens. Sagen Sie, Professor, war der Radscha ein treuer Diener des Propheten?«
Sweetchild-san (nach kurzem Überlegen): »Das kann ich nicht genau sagen. Moscheen hat er nicht gebaut, Allah hat er in meinem Beisein nicht erwähnt. Der Radscha kleidete sich gern europäisch, rauchte Kuba-Zigarren, las französische Romane. Ach ja, zum Mittagessen trank er Kognak! Mithin hat er die religiösen Verbote nicht allzu ernst genommen.«
Fandorin-san: »Also viertens: Der nicht allzu fromme Bagdassar hinterläßt dem Sohn als letzte Gabe nicht irgendwas, sondern einen Koran, in ein Tuch gewickelt. Ich vermute, gerade das Tuch war der wichtigste Teil der Sendung. Der Koran diente nur als Vorwand. Vielleicht aber enthielten die Randnotizen von der Hand Bagdassars Instruktionen, wie der Schatz mit Hilfe des Tuches zu finden sei.«
Sweetchild-san: »Warum unbedingt mit Hilfe des Tuches? Der Radscha konnte doch sein Geheimnis in den Marginalien verstecken.«
Fandorin-san: »Er konnte, tat es aber nicht. Warum nicht? Ich verweise Sie auf mein Argument Nummer eins: Wenn das Tuch nicht einen ganz außerordentlichen Wert hätte, wären seinetwegen kaum zehn Menschen ermordet worden. Das Tuch ist der Schlüssel zu den 500 Millionen Rubeln oder, wenn Ihnen das lieber ist, zu den 50 Millionen Pfund, was auf dasselbe hinausläuft. Meines Wissens hat es in der Geschichte der Menschheit noch keinen Schatz dieser Größenordnung gegeben. Übrigens muß ich Sie warnen, Kommissar: Wenn Sie recht haben und der Mörder tatsächlich an Bord der ›Leviathan‹ ist, sind weitere Opfer möglich. Was um so wahrscheinlicher wird, je näher Sie Ihrem Ziel kommen. Gar zu hoch ist der Einsatz und gar zu hoch der Preis, der für den Schlüssel zum Geheimnis gezahlt worden ist.«
Nach diesen Worten herrschte Totenstille. Die Logik von Fandorin-san schien unwiderleglich, und ich bin sicher, daß es allen kalt den Rücken hinunterlief. Außer einem Menschen.
Als erster kam der Kommissar wieder zu sich. Er sagte mit nervösem Lachen: »Sie haben eine blühende Phantasie, Monsieur Fandorin. Was jedoch die Gefahr betrifft, so haben Sie recht. Doch Sie, meine Herrschaften, brauchen nicht zu zittern. Wenn einer in Gefahr ist, dann der alte Coche, und das weiß er sehr gut. So ist nun mal mein Beruf. Aber mit bloßen Händen kriegt mich keiner.« Er ließ den Blick drohend über uns alle gleiten, und es war wie eine Forderung zum Duell.
Komischer alter Dickwanst. Er könnte allenfalls gegen die schwangere Madame Kleber antreten. In meinem Gehirn entstand ein verlockendes Bild: Der rot angelaufene Kommissar wirft die junge Hexe zu Boden und würgt sie mit seinen haarigen Wurstfingern, und Madame Kleber verendet mit vorquellenden Augen und herausgestrecker widerlicher Zunge.
»Darling, I am scared!«1 piepste Mrs. Truffo mit dünnem Stimmchen. Ihr Mann streichelte ihr begütigend die Schulter.
Eine interessante Frage stellte der rothaarige und häßliche M.-S.-san (der Name ist zu lang zum Ausschreiben): »Professor, beschreiben Sie doch das Tuch ausführlicher. Na gut, ein Vogel mit einem Löchlein statt des Auges, na gut, ein Dreieck. Hat das Tuch sonst noch etwas Bemerkenswertes?«
Ich muß erwähnen, daß dieser sonderbare Herr sich fast ebenso selten an den allgemeinen Gesprächen beteiligt wie ich. Und wenn er mal etwas sagt, schießt er wie der Autor dieser Zeilen daneben. Um so bemerkenswerter die überraschend gute Frage.
Sweetchild-san: »Soweit ich mich erinnere, ist außer dem leeren Auge und der einmaligen Form nichts Besonderes an dem Tuch. So groß wie ein ansehnlicher Fächer, läßt sich aber in einem Fingerhut verstecken. In Brahmapur ist solch hauchdünnes Gewebe keine Seltenheit.«
»Also liegt der Schlüssel in dem leeren Auge und in der Dreiecksform«, resümierte Fandorin-san mit bewundernswerter Sicherheit.
Er ist wirklich großartig.
Je länger ich über seinen Triumph und über die ganze Geschichte nachdenke, desto stärker wächst in mir der unwürdige Wunsch, ihnen allen zu demonstrieren, daß auch Gintaro Aono etwas wert ist und sie alle verblüffen kann. Ich könnte zum Beispiel Kommissar Coche etwas Interessantes über den gestrigen Vorfall mit dem schwarzen Wilden erzählen. Im übrigen hat der weise Fandorin-san zugegeben, daß ihm in dieser Sache noch nicht alles klar ist. Ihm ist etwas unklar, und plötzlich kommt der »wilde Japaner« und – zack! – löst das Rätsel. Das wäre doch was!
Gestern habe ich, durch die Beleidigung aus dem Gleis geworfen, vorübergehend die Nüchternheit des Denkens eingebüßt. Nachdem ich mich beruhigt hatte, kam die Überlegung wieder, und in meinem Kopf formte sich eine logische Gedankenkette, die ich dem Polizisten stecken will. Die Schlußfolgerungen mag er sich selber zurechtlegen. Folgendes werde ich ihm sagen.
Zuerst erinnere ich ihn an die groben Worte der Madame Kleber mir gegenüber. Es war eine schwere Beleidigung, noch dazu öffentlich. Und sie geschah genau in dem Moment, als ich meine Beobachtungen mitteilen wollte. Ob Madame Kleber die Absicht verfolgte, mir den Mund zu stopfen? Ist das nicht verdächtig, Herr Kommissar?
Weiter. Warum stellt sie sich schwach, wenn sie so gesund ist wie ein Sumo-Ringer? Sie werden sagen, Unsinn, Lappalie. Darauf antworte ich Ihnen, Herr Fahnder, daß ein Mensch, der sich ständig verstellt, ganz sicher etwas zu verbergen hat. Nehmen Sie zum Beispiel mich. (Ha-ha, das werde ich natürlich nicht sagen.)
Dann lenke ich die Aufmerksamkeit des Kommissars darauf, daß europäische Frauen eine sehr zarte weiße Haut haben. Wieso haben die mächtigen Finger des Negers nicht den kleinsten Abdruck auf ihrer Haut hinterlassen? Ist das nicht auffällig?
Und wenn der Kommissar dann meint, ich hätte nichts vorgebracht außer den müßigen Mutmaßungen eines rachsüchtigen asiatischen Verstandes, sage ich ihm das Wichtigste, was den Herrn Fahnder sogleich überzeugen wird.
»Monsieur Coche«, sage ich dann mit höflichem Lächeln, »ich besitze nicht Ihren glänzenden Verstand und versuche nicht, mich in die Untersuchung einzumischen (wie sollte ich Unwissender das tun?), aber ich halte es für meine Pflicht, Ihre Aufmerksamkeit auf einen weiteren Umstand zu lenken. Sie sagen selber, der Mörder aus der Rue de Grenelle befinde sich unter uns. Monsieur Fandorin hat uns eine überzeugende Theorie vorgetragen, auf welche Weise die Dienerschaft von Lord Littleby getötet wurde. Eine Choleraimpfung – das ist eine ausgezeichnete Finte. Also konnte der Mörder mit der Spritze umgehen. Und wenn nun die Villa in der Rue de Grenelle nicht von einem Arzt, sondern von einer Frau, einer Krankenschwester, aufgesucht wurde? Sie würde ja noch weniger Verdacht erregt haben als ein Mann, nicht wahr? Stimmen Sie mir zu? Dann rate ich Ihnen, einmal unauffällig einen Blick auf die Arme von Madame Kleber zu werfen, wenn sie dasitzt, ihr Schlangenköpfchen nachdenklich in die Hand stützt und der weite Ärmel dabei bis zum Ellbogen heruntergleitet. In der Beuge werden Sie kaum erkennbare Pünktchen bemerken. Das sind die Einstiche von Injektionsnadeln, Herr Kommissar. Fragen Sie Doktor Truffo, ob er ihr irgendwelche Spritzen gibt, und der geehrte Arzt wird Ihnen dasselbe antworten wie heute mir: Nein, das tue er nicht, und überhaupt sei er ein prinzipieller Gegner der intravenösen Verabreichung. Dann zählen Sie zwei und zwei zusammen, o weiser Coche-san, und Sie werden etwas haben, worüber Sie sich Ihren grauen Kopf zerbrechen können.« Das werde ich ihm sagen, und dann wird er sich Madame Kleber vornehmen.
Ein europäischer Ritter würde mein Vorgehen wohl häßlich finden, und darin würde sich seine Beschränktheit kundtun. Eben darum gibt es in Europa keine Ritter mehr, doch die Samurai leben. Zwar hat der Kaiser die Standesunterschiede aufgehoben und uns verboten, zwei Schwerter am Gürtel zu tragen, aber das bedeutet nicht die Abschaffung des Samuraititels, sondern im Gegenteil die Erhebung der ganzen japanischen Nation in den Samuraistand, damit wir uns nicht voreinander mit unserm Stammbaum brüsten. Wir halten zusammen, und die übrige Welt steht gegen uns. Oh, edler europäischer Ritter (der gewiß nur in Romanen existiert)! Wenn du mit Männern kämpfst, so benutze männliche Waffen, und wenn du mit Frauen kämpfst, dann weibliche. Das ist der Ehrenkodex des Samurai, und daran ist nichts Häßliches, denn Frauen verstehen nicht schlechter zu kämpfen als Männer. Gegen die Ehre eines Samurai würde es verstoßen, gegen Frauen männliche Waffen anzuwenden und gegen Männer weibliche. So weit würde ich mich nie erniedrigen.
Ich zögere noch, das geplante Manöver zu unternehmen, aber mein Geisteszustand ist erheblich besser als gestern. So erheblich, daß ich ohne Mühe den ganz passablen Dreizeiler zustande brachte:
Als eisiger Funke
blitzte der Mond
auf stählerner Klinge.