Die Unannehmlichkeiten begannen schon früh am Morgen. Im Spiegel entdeckte Clarissa zwei neue Falten, kaum erkennbare feine Strahlen, die sich von den Augenwinkeln zu den Schläfen hinzogen. Das lag an der Sonne, die war in diesen Breiten so grell, daß weder der Schirm noch der Hut Schutz boten. Clarissa betrachtete sich lange in der gnadenlosen glatten Fläche und zog mit den Fingern die Haut straff, in der Hoffnung, die Falten könnten vom Schlaf rühren und würden sich wieder glätten. Dann drehte sie den Hals und erspähte hinterm Ohr ein weißes Haar. Da wurde sie ganz traurig. Ob das auch von der Sonne kam? Ob die das Haar ausbleichte? Nein, Miss Stomp, machen Sie sich nichts vor. Wie sagte doch der Dichter?
Und des Novembers kalter weißer Hauch
verströmte Leid, versilberte das Haar.
Sorgfältiger als gewöhnlich machte sie sich zurecht. Das weiße Haar wurde herausgerissen. Das war natürlich dumm. Es war wohl John Donne, der gesagt hatte, das Geheimnis des weiblichen Glücks bestehe in der Fähigkeit, den Übergang aus einem Alter in das andere rechtzeitig zu vollziehen, und die Frau habe drei Alter: Tochter, Gattin und Mutter. Wie aber sollte sie aus dem zweiten Status in den dritten gelangen, wenn sie noch nie verheiratet war?
Das beste Mittel gegen solche Gedanken war ein Spaziergang an der frischen Luft, und Clarissa begab sich an Deck. So gewaltig die »Leviathan« auch war, Clarissa hatte das Schiff längst mit gleichmäßigen bedächtigen Schritten ausgemessen, zumindest das Oberdeck, das für die Passagiere der ersten Klasse reserviert war. Es waren dreihundertfünfundfünfzig Schritte, die dauerten siebeneinhalb Minuten, wenn sie sich nicht in den Anblick der See vertiefte und nicht mit Bekannten schwatzte.
Zu der frühen Stunde waren noch keine Bekannten an Deck, und Clarissa wanderte ungehindert an Steuerbord nach achtern. Der Dampfer durchschnitt ruhig das braune Wasser des Roten Meeres, und von der mächtigen Schraube zog sich eine träge graue Furche bis zum Horizont. Uff, diese Hitze.
Clarissa beobachtete die Matrosen, die ein Deck tiefer das Messingblech der Reling blank putzten. Die hatten es gut in ihren Leinenhosen – kein Mieder, keine lange Unterhose, keine Strümpfe mit straffen Strumpfbändern, kein langes Kleid. Da konnte man neidisch werden auf den exotischen Mr. Aono, der in seinem japanischen Schlafrock herumspazierte, was niemanden verwunderte – ein Asiat eben.
Sie stellte sich vor, wie sie auf der mit Leinen bezogenen Chaiselongue lag und nichts anhatte. Doch, eine leichte Tunika wie eine Griechin der Antike. Und nichts wäre dabei. In hundert Jahren, wenn die Menschheit sich endgültig ihrer Vorurteile entledigt hätte, würde das völlig normal sein.
Ihr entgegen rollte auf seinem amerikanischen Dreirad mit raschelnden Kautschukreifen Mr. Fandorin. Es hieß, diese Übung eigne sich hervorragend dazu, die Muskeln elastisch zu halten und das Herz zu kräftigen. Der Diplomat trug einen leichten Sportanzug: karierte Hose, Guttaperchaschuhe mit Gamaschen, kurze Jacke, weißes Hemd mit offenem Kragen. Das von der Sonne goldbraune Gesicht erstrahlte in einem freundlichen Lächeln. Mr. Fandorin lüpfte ehrerbietig den Korkhelm und rauschte vorüber, ohne anzuhalten.
Clarissa seufzte. Die Idee mit dem Spaziergang war doch nicht so gut – sie war durchgeschwitzt und mußte in die Kabine zurückkehren und sich umziehen.
Das Frühstück vermieste ihr die quengelige Madame Kleber. Erstaunlich deren Fähigkeit, aus ihrer Schwäche ein Ausbeutungswerkzeug zu machen! Gerade als der Kaffee in Clarissas Tasse bis zur erwünschten Temperatur abgekühlt war, klagte die unleidliche Schweizerin, ihr sei zu heiß, und bat, ihr das Mieder zu lockern. Clarissa tat gewöhnlich so, als ob sie das Geningel der Kleber nicht hörte, und es fand sich auch stets ein Freiwilliger, doch für solch eine delikate Sache taugten Männer nicht, und Mrs. Truffo war ausgerechnet nicht da, sie half ihrem Mann, eine erkrankte Dame zu behandeln. Die langweilige Person war wohl früher Krankenschwester gewesen. Was für ein sozialer Aufstieg: Jetzt war sie Chefarztgattin, speiste in der ersten Klasse und gerierte sich als echte britische Lady, nur daß sie zu dick auftrug.
Clarissa mußte sich also mit den Schnürbändern der Madame Kleber abplagen, und derweil kühlte ihr Kaffee hoffnungslos ab. Das war natürlich eine Lappalie, aber eines kam zum anderen.
Nach dem Frühstück ging sie spazieren, drehte zehn Runden und ermüdete. Sie benutzte die Gelegenheit, daß kein Mensch in der Nähe war, und lugte vorsichtig ins Fenster der Kabine 18. Mr. Fandorin saß am Sekretär, angetan mit einem weißen Hemd, darüber rot-blau-weiße Hosenträger, eine Zigarre im Mundwinkel, und hämmerte mit den Fingern entsetzlich laut auf einen fremdartigen Apparat ein – schwarz, aus Eisen, mit einer Walze und zahlreichen Knöpfen. Clarissa war gefesselt und verlor die Wachsamkeit, und so wurde sie am Tatort ertappt. Der Diplomat sprang auf, verbeugte sich, warf das Jackett über und trat zum offenen Fenster.
»Das ist eine Sch-schreibmaschine, eine Remington«, erklärte er. »Das neueste Modell, eben erst in den Handel gekommen. Sehr gut zu handhaben, Miss Stomp, und ganz leicht. Zwei Lastträger können sie mühelos tragen. Unentbehrlich auf R-reisen. Ich übe mich eben im Schnellschreiben, indem ich etwas aus Hobbes exzerpiere.«
Clarissa, puterrot vor Verlegenheit, nickte flüchtig und ging.
Sie setzte sich in den Schatten einer gestreiften Markise. Eine Brise wehte. Clarissa schlug »Die Kartause von Parma« auf und las von der unerwiderten Liebe der schönen, doch alternden Herzogin Sanseverina zu dem jungen Fabrice del Dongo. Die Lektüre stimmte sie sentimental, und sie wischte mit dem Tüchlein eine Träne weg – und ausgerechnet da erschien an Deck Mr. Fandorin: weißer Anzug, breitkrempiger Panamahut, Rohrstock. Er sah außerordentlich gut aus.
Clarissa rief ihn an. Er trat näher, verbeugte sich und nahm neben ihr Platz. Nach einem Blick auf den Buchumschlag sagte er: »Ich w-wette, die Beschreibung der Schlacht bei Waterloo haben Sie ausgelassen. Schade, sie ist die beste Stelle bei Stendhal überhaupt. Eine exaktere Beschreibung des Krieges habe ich noch nirgendwo gelesen.«
Seltsam, Clarissa las »Die Kartause von Parma« zum zweitenmal und hatte tatsächlich die Schlachtszene beide Male überblättert.
»Woher wissen Sie das?« fragte sie neugierig. »Sind Sie Hellseher?«
»Frauen lassen Sch-schlachtszenen immer aus.« Fandorin zuckte die Achseln. »Jedenfalls Frauen Ihrer Art.«
»Was habe ich denn für eine Art?« fragte Clarissa einschmeichelnd und spürte dabei, daß sie zur Koketterie wenig taugte.
»Eine skeptische Einstellung zu sich selbst, eine romantische zur Umwelt.« Er sah sie mit leicht geneigtem Kopf an. »Außerdem läßt sich über Sie sagen, daß es in Ihrem Leben kürzlich eine jähe W-wendung zum Besseren gegeben hat und daß Sie eine Erschütterung überstanden haben.«
Clarissa zuckte zusammen und warf einen verstörten Blick auf ihren Gesprächspartner.
»Erschrecken Sie nicht«, sagte der erstaunliche Diplomat beruhigend. »Ich weiß rein g-gar nichts über Sie. Ich habe lediglich mit Hilfe spezieller Übungen meine Beobachtungsgabe und meine analytischen Fähigkeiten trainiert. Im allgemeinen genügt mir ein unbedeutendes Detail, um das ganze B-bild erstehen zu lassen. Zeigen Sie mir solch ein Scheibchen mit zwei Löchern« (er deutete taktvoll auf einen großen rosa Knopf, der ihre Jacke schmückte), »und ich sage Ihnen, wer es verloren hat.«
Clarissa fragte lächelnd: »Sie durchschauen also jeden?«
»Das nicht, aber vieles sehe ich schon. Was können Sie mir zum Beispiel über den Herrn dort sagen?«
Fandorin wies auf einen korpulenten Mann mit Schnauzbart, der durch ein Fernglas auf die Uferwüste blickte.
»Das ist Mr. Bubble, er …«
»Sprechen Sie nicht weiter«, fiel Fandorin ihr ins Wort. »Ich will selbst dahinterkommen.«
Er musterte Mr. Bubble kurz und sagte dann: »Er reist zum erstenmal in den Orient. Hat unlängst geheiratet. Ist Fabrikant. Seine G-geschäfte gehen nicht gut, er steht wohl kurz vor dem Bankrott. Hält sich die meiste Zeit im Billardzimmer auf, spielt aber schlecht.«
Clarissa war immer stolz auf ihre Beobachtungsgabe gewesen, und sie sah Mr. Bubble, den Industriellen aus Manchester, genauer an.
Fabrikant? Das ließ sich wohl erraten. Wenn er erster Klasse reiste, mußte er vermögend sein. Daß er kein Aristokrat war, stand ihm im Gesicht geschrieben. Wie ein Geschäftsmann sah er auch nicht aus, der Gehrock saß ihm wie ein Sack, und seine Züge zeigten keine Gewandtheit. Na schön.
Unlängst geheiratet? Nun, das war einfach – der Ring an seinem Finger glänzte nagelneu.
Er spielte oft Billard? Wieso? Aha, der Rock war voller Kreidestaub.
»Woher wissen Sie denn, daß er zum erstenmal in den Orient reist?« fragte sie. »Und wieso steht er kurz vor dem Bankrott? Und wie können Sie behaupten, daß er schlecht Billard spielt? Haben Sie ihn denn spielen sehen?«
»Nein, ich war nicht im B-billardzimmer, weil ich Glücksspiele nicht ausstehen kann, und überhaupt sehe ich den Gentleman jetzt zum erstenmal«, antwortete Fandorin. »Daß er diese Route zum erstenmal befährt, geht daraus hervor, mit welch stumpfsinniger Hartnäckigkeit er das kahle Ufer betrachtet. Sonst wüßte er, daß er auf dieser Seite bis Bab el Mandeb nichts Interessantes zu sehen bekommt. Erstens. Um die Geschäfte dieses Herrn muß es scheußlich stehen, sonst würde er sich um keinen Preis auf eine so langwierige Reise eingelassen haben, zumal so kurz nach der Hochzeit. Solch ein D-dachs verläßt seine Höhle erst vor dem Ende der Welt, eher nicht. Zweitens.«
»Und wenn er mit seiner Frau auf Hochzeitsreise ist?« fragte Clarissa, die wußte, daß Mr. Bubble allein reiste.
»Und dann drückt er sich einsam an Deck herum und ist dauernd im B-billardzimmer? Dabei spielt er schlecht, sein Jackett ist vorn ganz weiß. Nur miese Spieler fahren so mit dem Bauch an der Billardkante entlang. Drittens.«
»Nun gut, und was sagen Sie zu der Dame dort?«
Clarissa, von dem Spiel gefesselt, zeigte auf Mrs. Blackpool, die Arm in Arm mit einer Begleiterin vorüberschritt.
Fandorin warf einen desinteressierten Blick auf die ehrenwerte Dame.
»Ihr steht alles im Gesicht geschrieben. Sie kehrt aus England zu ihrem Mann zurück. Von einem Besuch bei ihren erwachsenen Kindern. Ihr Mann ist Offizier. Oberst.«
Mr. Blackpool war tatsächlich Oberst und befehligte eine Garnison in einer nordindischen Stadt. Das war zuviel.
»Erklären Sie!« verlangte Clarissa.
»Solche Damen reisen nicht einfach so nach Indien, sondern nur zum Dienstort ihres Gatten. Und sie ist schon aus dem Alter heraus, in dem man erstmals solch eine R-reise unternimmt – also ist sie auf der Rückfahrt. Was wollte sie in England? Ihre Kinder wiedersehen. Ihre Eltern, will ich mal annehmen, sind schon im Jenseits. Ihrer entschlossenen und herrischen Miene ist anzumerken, daß diese Frau gewöhnt ist zu kommandieren. Genauso sehen die ersten Damen einer Garnison oder eines Regiments aus. Sie haben gewöhnlich mehr Autorität als der Kommandeur. Und warum gerade Oberst? Ganz einfach – wäre sie die Frau eines G-generals, so würde sie erster Klasse fahren, aber sie, schauen Sie, trägt das Abzeichen in Silber. Doch verschwenden wir nicht unsere Zeit für Lappalien.« Fandorin beugte sich vor und flüsterte: »Ich erzähle Ihnen lieber etwas über den Orang-Utan dort. Ein interessantes Subjekt.«
Neben Mr. Bubble war der affenartige Monsieur Boileau stehengeblieben, der früher auch in dem unglückseligen Salon »Hannover« gespeist, ihn aber rechtzeitig verlassen hatte und so den Netzen des Kommissars Coche entschlüpft war.
Der Diplomat raunte Clarissa ins Ohr: »Der Mann dort ist ein Verbrecher. Wahrscheinlich handelt er mit O-opium. Lebt in Hongkong. Verheiratet mit einer Chinesin.«
Clarissa lachte schallend.
»Jetzt haben Sie aber danebengeschossen! Das ist Monsieur Boileau aus Lyon, ein Philantrop und Vater von elf ganz und gar französischen Kindern. Und handeln tut er nicht mit Opium, sondern mit Tee.«
»Von wegen«, antwortete Fandorin ungerührt. »Schauen Sie, seine Manschette ist verrutscht, und auf dem Handgelenk ist ein tätowierter blauer Ring zu sehen. Solch einen habe ich in einem Buch über China gesehen. Es ist das Erkennungszeichen einer Hongkonger Triade, einer k-kriminellen Geheimgesellschaft. Wenn ein Europäer Mitglied der Triade werden will, muß er schon ein Verbrecher von erheblicher Größenordnung sein. Und natürlich mit einer Chinesin verheiratet. Sehen Sie sich nur die Physiognomie dieses ›Philantropen‹ an, dann ist Ihnen alles klar.«
Clarissa wußte nicht recht, ob sie das glauben sollte, doch Fandorin sagte mit ernster Miene: »Das ist kinderleicht, Miss Stomp. Ich kann Ihnen sogar mit v-verbundenen Augen vieles über einen Menschen erzählen – nach seinen Geräuschen, nach seinem Geruch. Überzeugen Sie sich.«
Er nahm die weiße Atlaskrawatte ab und reichte sie Clarissa.
Sie befühlte das Gewebe, es war fest und undurchsichtig, und verband damit dem Diplomaten die Augen. Wie zufällig berührte sie dabei seine Wange, die war glatt und heiß.
Gleich darauf kam von achtern her eine ideale Kandidatin, die bekannte Suffragette Lady Campbell, die nach Indien reiste, um Unterschriften für eine Petition zu sammeln, die für verheiratete Frauen das Wahlrecht verlangte. Maskulin, kompakt, mit kurzgeschnittenem Haar, stampfte sie über das Deck wie ein Lastgaul. Wie sollte man da erraten, ob eine Lady kam oder ein Bootsmann?
»Nun, wer kommt da?« fragte Clarissa und bog sich schon vor Lachen.
Aber sie lachte nicht lange.
Fandorin runzelte die Stirn und sagte abgehackt: »Raschelnder Rock. Eine Frau. Sch-schwerer Gang. Starker Charakter. Nicht mehr jung. Nicht schön. Raucht Tabak. Kurzgeschnittenes Haar.«
»Wieso kurzgeschnitten?« kreischte Clarissa, hielt sich die Augen zu und horchte auf den Elefantengang der Suffragette. Wie konnte er das nur alles wissen?
»Wenn eine Frau raucht, hat sie kurzgeschnittenes Haar und ist fortschrittlich«, sagte Fandorin gelassen. »Diese v-verachtet auch noch die Mode, sie trägt ein sackartiges Gewand von giftgrüner Farbe, aber mit einem grellroten Gürtel.«
Clarissa erstarrte. Unglaublich! In abergläubischem Entsetzen nahm sie die Hände vom Gesicht und sah, daß Fandorin den Schlips schon wieder mit einem eleganten Knoten um den Hals trug. Seine hellblauen Augen funkelten fröhlich.
All das war ja ganz nett, aber das Gespräch nahm ein schlechtes Ende. Als Clarissa genug gelacht hatte, brachte sie die Unterhaltung raffiniert auf den Krimkrieg, der eine Tragödie für Europa und für Rußland gewesen sei. Vorsichtig streifte sie ihre Erinnerungen an jene Zeit und gab vor, damals noch ein Kind gewesen zu sein. Danach erwartete sie von ihm ähnliche Eröffnungen, denen sie zu entnehmen hoffte, wie alt er sei. Ihre schlimmsten Befürchtungen trafen ein.
»Ich w-war damals noch nicht auf der Welt«, gestand er treuherzig und beschnitt ihr damit die Flügel.
Nun lief alles verquer. Clarissa versuchte es mit der Malerei, verhedderte sich aber und konnte nicht erklären, warum die Präraffaeliten sich Präraffaeliten nannten. Er mußte sie für eine komplette Idiotin halten. Aber was machte das jetzt noch aus!
Traurig kehrte sie zu ihrer Kabine zurück, und da passierte etwas Schreckliches.
In einer halbdunklen Ecke des Korridors wogte ein gigantischer schwarzer Schatten. Clarissa quiekte unanständig auf, griff sich ans Herz und stürzte Hals über Kopf zu ihrer Tür. In der Kabine kam ihr rasend hämmerndes Herz lange nicht zur Ruhe. Was war das gewesen? Kein Mensch, kein Tier. Ein Klumpen böser, zerstörerischer Energie. Das schlechte Gewissen. Ein Phantom des Pariser Alpdrucks.
Sogleich rief sie sich selbst zur Ordnung: Schluß jetzt, das ist vorbei! Gar nichts war. Eine Sinnestäuschung. Sie nahm sich fest vor, sich nicht länger Vorwürfe zu machen. Jetzt war das neue Leben da, licht und freudvoll.
Um sich zu beruhigen, zog sie ihr teuerstes Tageskleid an, das sie noch nie getragen hatte (weiße Chinaseide mit einer blaßgrünen Schleife hinten), und legte das Smaragdkollier um. Sie liebäugelte mit dem Glanz der Steine.
Gut, jung war sie nicht mehr, schön war sie auch nicht. Dafür war sie nicht dumm und hatte Geld.
Den Salon »Hannover« betrat Clarissa um punkt zwei, doch alle waren schon beisammen. Merkwürdig, die gestrige umwerfende Bekanntmachung des Kommissars hatte die Gesellschaft nicht entzweit, sondern eher zusammengeschweißt. Ein gemeinsames Geheimnis, das niemandem mitgeteilt werden darf, bindet dauerhafter als eine gemeinsame Aufgabe oder ein gemeinsames Interesse. Clarissa stellte fest, daß ihre Tischgenossen sich jetzt schon vor der festgesetzten Zeit zu den Mahlzeiten einfanden und daß sie danach noch zusammensaßen, was bisher kaum vorgekommen war. Selbst der Erste Offizier, der nur indirekt mit dieser Geschichte zu tun hatte, eilte nicht zu seinen dienstlichen Obliegenheiten, sondern blieb mit den übrigen lange im »Hannover« (wozu er möglicherweise vom Kapitän beauftragt war). Die »Hannoveraner« waren nun gleichsam Mitglieder eines Eliteklubs, der Uneingeweihten verschlossen war. Clarissa fing mehr als einmal verstohlene Blicke auf. Diese konnten nur zweierlei bedeuten: entweder »Sind Sie die Mörderin?« oder »Haben Sie erraten, daß ich der Mörder bin?« Jedesmal, wenn dies geschah, spürte sie tief im Bauch einen wohligen Krampf, ein Gemisch von Angst und Erregung. Vor ihren Augen erschien die Rue de Grenelle, so wie sie abends aussah: schmeichlerisch still und menschenleer, und schwarze Kastanienbäume wiegten ihre kahlen Zweige. Es fehlte bloß noch, daß der Kommissar die Geschichte im »Ambassadeur« ausschnüffelte. Allein bei dem Gedanken gruselte es Clarissa, und sie warf heimliche Blicke auf den Polizisten.
Coche thronte an der Tafel wie der Oberpriester dieser Geheimsekte. Alle waren sich seiner Anwesenheit ständig bewußt, sie beobachteten aus den Augenwinkeln seinen Gesichtsausdruck, doch Coche schien das nicht zu bemerken. Er spielte den gutmütigen Schwadroneur und erzählte bereitwillig seine Geschichten, die mit gespannter Aufmerksamkeit angehört wurden.
Nach stillschweigender Übereinkunft wurde über DAS nur im Salon und nur in Gegenwart des Kommissars gesprochen. Wenn zwei »Hannoveraner« zufällig auf neutralem Boden zusammentrafen – im Musiksalon, an Deck, im Lesesaal –, wurde nie DARÜBER geredet. Auch im Salon kam das verführerische Thema nicht jedesmal zur Sprache. Und wenn, dann geschah es irgendwie von selbst, ausgelöst durch eine ganz abseitige Bemerkung.
Heute früh zum Beispiel war eine allgemeine Unterhaltung nicht zustandegekommen, doch als Clarissa jetzt Platz nahm, war die Erörterung bereits in vollem Gange. Mit gelangweilter Miene studierte sie die Speisekarte, wie um zu memorieren, was sie zum Mittagessen bestellt hatte, doch die wohlbekannte Erregung war schon da.
»Was mir keine Ruhe läßt«, sagte Doktor Truffo, »ist die unerhörte Sinnlosigkeit dieses Verbrechens. So viele Menschen mußten sterben für nichts und wieder nichts. Der goldene Schiwa landete in der Seine, und der Mörder steht mit leeren Händen da.«
Fandorin, der sich nur selten an den Debatten beteiligte, hielt es diesmal für nötig, sich zu äußern.
»Nicht ganz. Ein T-tuch hat er behalten.«
»Was für ein Tuch?« fragte der Doktor verständnislos.
»Ein indisches, bunt bemalt. Darin hatte der Mörder, wenn man den Zeitungen glauben darf, den geraubten Schiwa eingewickelt.«
Der Scherz wurde mit nervösem Gelächter aufgenommen.
Der Arzt breitete theatralisch die Arme aus.
»Ein Tuch, was ist das schon.«
Plötzlich fuhr Professor Sweetchild zusammen und riß die Brille von der Nase, bei ihm ein Zeichen starker Erregung.
»Lachen Sie nicht! Ich habe mich dafür interessiert, welches der Tücher geraubt wurde. Oh, meine Herrschaften, das ist ein ungewöhnliches Stück Stoff, daran hängt eine ganze Geschichte. Haben Sie mal von dem Smaragdenen Radscha gehört?«
»Ist das nicht ein legendärer indischer Nabob?« fragte Clarissa.
»Nicht legendär, sondern ganz real, Madame. So wurde der Radscha Bagdassar genannt, der Herrscher des Fürstentums Brahmapur. Das Fürstentum liegt in einem weiten fruchtbaren Tal und ist ringsum von Bergen umschlossen. Die Radschas führen ihre Herkunft auf den großen Babur zurück und bekennen sich zum Islam, doch das hat sie nicht gehindert, ihr kleines Land dreihundert Jahre lang friedlich zu regieren, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung aus Hindus besteht. Trotz der Religionsunterschiede zwischen der herrschenden Kaste und den Untertanen gab es in dem Fürstentum niemals Aufstände oder Zwistigkeiten, die Radschas wurden immer reicher, und in der Regierungszeit Bagdassars galt das Herrscherhaus von Brahmapur als das reichste von ganz Indien nach dem Nizam von Haidarabad, dessen Reichtum, wie Sie natürlich wissen, denjenigen aller Monarchen in den Schatten stellt, eingeschlossen Königin Victoria und den russischen Imperator Alexander.«
»Die Größe unserer Königin mißt sich nicht an ihrer Schatzkammer, sondern an dem Reichtum ihrer Untertanen«, sagte Clarissa streng, ein wenig pikiert über die Bemerkung Sweetchilds.
»Zweifellos«, pflichtete der Professor ihr bei und war nicht mehr zu bremsen. »Aber der Reichtum der Radschas von Brahmapur war von ganz besonderer Art. Sie häuften kein Gold, kein Silber, bauten keine Paläste aus rosa Marmor. O nein, diese Herrscher kannten dreihundert Jahre lang nur eine Leidenschaft – Edelsteine. Wissen Sie, was der ›Brahmapurer Standard‹ ist?«
»Ist das nicht ein Brillantschliff?« fragte Doktor Truffo unsicher.
»Der ›Brahmapurer Standard‹ ist ein Juwelierausdruck. Damit bezeichnet man Diamanten, Saphire, Rubine oder Smaragde, die auf besondere Weise geschliffen sind und die Größe einer Walnuß haben, das entspricht achtzig Karat Gewicht.«
»Aber das ist sehr groß«, sagte Regnier verwundert. »Solche Steine kommen äußerst selten vor. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, ist selbst der Diamant ›Regent‹, Juwel des französischen Staatsschatzes, nur wenig größer.«
»Nein, Leutnant, der Diamant ›Pitt‹, auch ›Regent‹ genannt, ist fast doppelt so groß«, korrigierte der Professor den Seeman mit autoritärer Miene, »aber achtzig Karat, namentlich bei Steinen reinen Wassers, das ist sehr viel. Also, meine Herrschaften, stellen Sie sich vor, Bagdassar hatte von solchen Steinen, noch dazu in makelloser Qualität, fünfhundertzwölf Stück!«
»Ausgeschlossen!« rief Milford-Stokes.
Und Fandorin fragte: »Warum gerade f-fünfhundertzwölf?«
»Wegen der heiligen Zahl 8«, erklärte Sweetchild bereitwillig. »512 – das ist 8 x 8 x 8, das heißt, eine Acht in der dritten Potenz, eine Kubikzahl, eine sogenannte Idealzahl. Hier zeigt sich ohne Zweifel der Einfluß des Buddhismus, der die Acht besonders verehrt. Im nordöstlichen Teil von Indien, wo Brahmapur liegt, sind die Religionen aufs wunderlichste miteinander verquickt. Aber am interessantesten ist, wo und wie dieser Schatz aufbewahrt wurde.«
»Nämlich?« fragte Renate Kleber.
»In einer einfachen, schmucklosen irdenen Schatulle. 1852 war ich als junger Archäologe in Brahmapur und hatte mehrere Begegnungen mit dem Radscha Bagdassar. Auf dem Territorium des Fürstentums waren im Dschungel die Ruinen eines alten Tempels entdeckt worden, und Seine Hoheit luden mich ein, den Fund zu begutachten. Ich führte die notwendigen Untersuchungen durch, und was meinen Sie? Ich stellte fest, daß dieser Tempel schon in der Zeit des Herrschers Sandragupta gebaut worden war, als …«
»Stop-stop-stop!« unterbrach der Kommissar den Gelehrten. »Von der Archäologie können Sie uns ein andermal erzählen. Zurück zu dem Radscha.«
»Na gut.« Der Professor blinzelte. »Das ist wirklich besser. Also, der Radscha war mit mir zufrieden und zeigte mir als Zeichen besonderen Wohlwollens seine legendäre Schatulle. Oh, diesen Anblick werde ich nie vergessen!« Sweetchild kniff die Augen zu. »Stellen Sie sich ein unterirdisches Gewölbe vor. Neben der Tür brennt eine einzige Fackel, die in einem bronzenen Halter steckt. Wir waren zu zweit – der Radscha und ich, seine Vertrauten waren vor der massiven Tür zurückgeblieben, die von einem Dutzend Wächter bewacht wurde. Ich konnte die Einrichtung der Schatzkammer nicht erkennen, meine Augen hatten sich noch nicht an das Halbdunkel gewöhnt. Ich hörte nur, wie Seine Hoheit klirrende Schlösser öffnete. Dann wandte sich Bagdassar mir zu, und ich sah in seinen Händen einen erdfarbenen Kubus, der sehr schwer zu sein schien. Die Größe …« Sweetchild öffnete die Augen und blickte sich um. Alle hörten wie verzaubert zu, Renate Kleber sogar mit kindlich geöffnetem Mund. »Ich weiß nicht recht. Vielleicht so groß wie der Hut von Miss Stomp, wenn man ihn in eine quadratische Schachtel legt.« Alle starrten wie auf Kommando den Tiroler Hut mit der Fasanenfeder an. Clarissa Stomp ertrug die allgemeine Musterung mit einem würdevollen Lächeln, wie man es ihr als Kind beigebracht hatte. »Der Kubus ähnelte einem gewöhnlichen Lehmziegel, wie sie dort zum Bauen verwendet werden. Später erklärte mir der Radscha, daß die derbe, monotone Lehmoberfläche das prachtvolle Licht- und Farbenspiel der Edelsteine bedeutend besser hervorhebt als Gold oder Elfenbein. Davon konnte ich mich überzeugen. Bagdassar legte langsam die mit Ringen übersäte Hand auf den Deckel der Schatulle, hob ihn mit einer schnellen Bewegung, und … Ich war geblendet, meine Herrschaften!« Die Stimme des Professors zitterte. »Das … Das läßt sich nicht mit Worten beschreiben! Ein geheimnisvoller, funkelnder, vielfarbiger Glanz brach aus dem dunklen Kubus und warf bunte Blinklichter auf die düsteren Gewölbe des Kellers. Die runden Steine lagen in acht Schichten, deren jede aus vierundsechzig geschliffenen Quellen des unglaublichen Strahlens bestand. Der Effekt wurde zweifellos verstärkt durch die flackernde Flamme der einzigen Fackel. Noch immer sehe ich vor mir das Gesicht von Radscha Bagdassar, angestrahlt von dem Zauberlicht …«
Der Gelehrte schloß wieder die Augen und verstummte.
»Wieviel sind denn diese bunten Steinchen wert?« fragte der Kommissar mit knarrender Stimme.
»Ja, wirklich, wieviel wohl?« griff Madame Kleber die Frage auf. »Sagen wir, in englischen Pfund.«
Clarissa hörte Mrs. Truffo vernehmlich ihrem Mann zuflüstern: »She’s so vulgar!«
»Wissen Sie«, sagte Sweetchild mit gutmütigem Lächeln, »die Frage habe ich mir auch gestellt. Sie zu beantworten ist nicht einfach, denn der Preis von Edelsteinen schwankt je nach den Marktbedingungen, und der heutige Stand …«
»Ja, ja, der heutige, nicht der des Herrschers Sandragupta«, knurrte Coche.
»Hm … Ich weiß nicht genau, wieviel Brillanten, wieviel Saphire und wieviel Rubine der Radscha besaß. Aber mir ist bekannt, daß er am meisten Smaragde schätzte, was ihm auch seinen Beinamen eintrug. In den Jahren seiner Regierung wurden sieben brasilianische und vier Uralsmaragde erworben: für jeden gab Bagdassar einen Brillanten her und zahlte noch drauf. Schauen Sie, jeder seiner Vorfahren hatte seinen Lieblingsstein, den er allen anderen vorzog und vor allen anderen zu erwerben trachtete. Die magische Zahl 512 wurde schon unter Bagdassars Großvater erreicht, und seitdem war es nicht das Ziel des Herrschers, die Zahl der Steine zu vermehren, sondern die Qualität zu verbessern. Steine, die nicht ganz vollkommen waren oder aus anderen Gründen nicht das Wohlwollen des regierenden Fürsten fanden, wurden verkauft – daher der Ruhm des ›Brahmapurer Standards‹, der sich nach und nach in der Welt verbreitet hat. Dafür kamen dann andere, wertvollere Steine in die Schatulle. Diese Besessenheit brachte Bagdassars Vorfahren um den Verstand. Einer von ihnen kaufte dem persischen Schah Abbas dem Großen einen gelben Saphir von hundertfünfzig Karat ab und bezahlte für dieses Wunderding zehn Karawanen Elfenbein, aber der Stein war größer als vorgeschrieben, darum haben die Juweliere des Radschas alles Überflüssige abgeschnitten.«
»Das ist natürlich furchtbar«, sagte der Kommissar, »kehren wir dennoch zu dem Preis zurück.«
Aber diesmal ließ sich der Indologe nicht so einfach in die gewünschte Richtung drängen.
»So warten Sie doch!« wehrte er den Kommissar unhöflich ab. »Geht es denn um den Preis? Wenn von einem Edelstein dieser Größe und Qualität die Rede ist, denkt man nicht an Geld, sondern an die Zauberkräfte, die ihm seit alters zugeschrieben werden. Der Diamant etwa gilt als Symbol der Reinheit. Unsere Vorfahren prüften die Treue ihrer Frauen so: Sie legten der schlafenden Gattin einen Diamanten unters Kissen. War sie treu, so wandte sie sich sogleich, ohne aufzuwachen, ihrem Manne zu und umarmte ihn. Betrog sie ihn aber, so wälzte sie sich hin und her, bis der Stein zu Boden fiel. Außerdem galt der Diamant als Garant der Unbesiegbarkeit. Die alten Araber glaubten, in einer Schlacht werde derjenige Feldherr siegen, der den größeren Diamanten besitze.«
»Die alten Alabel illten sich«, fiel plötzlich Gintaro Aono dem eifrigen Redner ins Wort.
Alle blickten verblüfft den Japaner an, der sich sehr selten an der allgemeinen Unterhaltung beteiligte und noch nie jemanden unterbrochen hatte. Der Asiat aber fuhr hastig mit seinem lustigen Akzent fort: »In del Akademie von Saint-Cyr haben sie uns beigeblacht, daß del bulgundische Helzog Kall del Kühne in die Schlacht gegen die Eidgenossen den liesigen Diamanten ›Flolentinel‹ mitnahm, was ihn jedoch nicht vol del Niedellage bewahlte.«
Der Ärmste tat Clarissa leid, er hatte mit seinen Kenntnissen glänzen wollen und das so unpassend.
Der Einwurf des Japaners wurde mit Grabesschweigen aufgenommen, und Aono errötete qualvoll.
»Ja, gewiß, Karl der Kühne.« Der Professor nickte mißmutig und sprach ohne den bisherigen Schwung weiter: »Der Saphir symbolisiert Treue und Beständigkeit, der Smaragd verleiht Weitsicht, der Rubin schützt vor Krankheiten und dem bösen Blick … Aber Sie fragten nach dem Wert der Schätze Bagdassars?«
»Ich verstehe, daß die Summe märchenhaft hoch ist, aber könnten Sie nicht wenigstens annähernd sagen, wie viele Nullen das sind?« sagte Madame Kleber, als spräche sie zu einem dummen Schüler, ein übriges Mal demonstrierend, daß sie eine Bankiersgattin war.
Clarissa hätte mit Vergnügen mehr über die Zauberkräfte der Edelsteine erfahren. Das Thema Geld interessierte sie nicht, das war ihr zu vulgär.
»Also, dann wollen wir mal schätzen.« Sweetchild zückte einen Bleistift und schrieb auf einer Papierserviette. »Früher galt der Diamant als der teuerste Stein, doch seit der Entdeckung der südafrikanischen Lagerstätten ist der Preis spürbar gesunken. Große Saphire werden öfter gefunden als andere Edelsteine, darum sind sie im Schnitt viermal weniger wert als Diamanten, doch das gilt nicht für gelbe und für Sternsaphire, und gerade die waren in Bagdassars Sammlung überwiegend vertreten. Reine Rubine und Smaragde von Übergröße sind äußerst selten und werden höher bewertet als Brillanten gleichen Gewichts … Gut, stellen wir uns der Einfachheit halber vor, alle 512 Steine wären Brillanten. Jeder wiegt, wie gesagt, 80 Karat. Nach der Formel von Tavernier, nach der sich die Juweliere der ganzen Welt richten, wird der Wert eines Steins folgendermaßen errechnet: Der Marktpreis eines einkarätigen Diamanten wird multipliziert mit dem Quadrat der Karatzahl des Steins. Das ergibt … Ein einkarätiger Diamant kostet an der Antwerpener Börse cirka fünfzehn Pfund. Das Quadrat von achtzig ist sechstausendvierhundert. Multipliziert mit fünfzehn … Hm … Sechsundneunzigtausend Pfund Sterling – das ist der Wert eines mittleren Steins aus Bagdassars Schatulle … Multipliziert mit fünfhundertzwölf … Ungefähr fünfzig Millionen Pfund Sterling. In Wirklichkeit noch mehr, denn wie ich Ihnen erklärte, werden farbige Steine dieser Größenordnung höher als Diamanten bewertet«, schloß Sweetchild feierlich seine Bilanz.
»Fünfzig Millionen? So viel?« fragte Regnier heiser. »Aber das sind ja anderthalb Milliarden Francs!«
Clarissa verschlug es den Atem, sie dachte nicht mehr an die romantischen Eigenschaften der Steine, sondern war erschüttert von der astronomischen Summe.
»Fünfzig Millionen! Das ist ja das halbe Jahresbudget des gesamten britischen Empire!« ächzte sie.
»Dreimal der Suezkanal!« murmelte der rothaarige Milford-Stokes. »Sogar noch mehr!«
Der Kommissar nahm auch eine Serviette und vertiefte sich in Berechnungen.
»Das ist mein Gehalt für dreihunderttausend Jahre«, sagte er verwirrt. »Haben Sie nicht zu dick aufgetragen, Professor? Ein kleiner regionaler Herrscher soll derartige Schätze besitzen?«
Stolz, als gehörten ihm alle Reichtümer Indiens persönlich, antwortete Sweetchild: »Das ist noch gar nichts! Die Kostbarkeiten des Nizam von Haidarabad werden auf dreihundert Millionen geschätzt, nur passen die nicht in eine kleine Schatulle. An Kompaktheit aber war der Schatz Bagdassars wirklich einzigartig.«
Fandorin berührte den Indologen vorsichtig am Ärmel.
»Gleichwohl nehme ich a-an, daß diese Summe einen etwas abstrakten Charakter trägt. Es würde schwerlich jemandem gelingen, eine solche Menge g-gigantischer Edelsteine mit einem Schlag zu verkaufen. Das würde ja den Marktpreis drücken.«
»Ihre Überlegung ist unzutreffend, Monsieur Diplomat«, erwiderte der Gelehrte lebhaft. »Das Prestige des ›Brahmapurer Standards‹ ist so hoch, daß man sich vor Kaufinteressenten nicht retten könnte. Ich bin überzeugt, daß mindestens die Hälfte der Steine in Indien bliebe – einheimische Fürsten würden sie aufkaufen, in erster Linie der erwähnte Nizam. Um die restlichen Steine würden die Bankhäuser von Europa und Amerika sich prügeln, und auch die europäischen Monarchen würden kaum die Gelegenheit versäumen, ihre Schatzkammern mit den Brahmapurer Meisterwerken zu schmücken. Oh, wenn Bagdassar gewollt hätte, würde er den Inhalt seiner Schatulle in wenigen Wochen losgeschlagen haben.«
»Sie reden über diesen Mann immer nur in der V-vergangenheit«, bemerkte Fandorin. »Ist er tot? Was ist aus der Schatulle geworden?«
»Das weiß leider niemand. Bagdassar nahm ein tragisches Ende. Während des Sepoy-Aufstands beging der Radscha die Unvorsichtigkeit, mit den Empörern Geheimverhandlungen aufzunehmen, und der Vizekönig erklärte Brahmapur zum feindlichen Territorium. Böse Zungen behaupteten, Britannien habe einfach die Schätze Bagdassars an sich bringen wollen, aber das stimmt natürlich nicht, solcher Methoden bedienen wir Engländer uns nicht.«
»O doch.« Regnier nickte mit bösem Lächeln und wechselte einen Blick mit dem Kommissar.
Clarissa sah Fandorin unauffällig an – war der etwa auch vom Bazillus der Anglophobie infiziert? Aber der russische Diplomat saß mit unbewegter Miene da.
»Eine Schwadron Dragoner wurde in den Palast Bagdassars entsandt. Der Radscha versuchte, nach Afghanistan zu fliehen, aber die Kavallerie holte ihn bei einer Furt über den Ganges ein. Sich verhaften zu lassen, das war unter Bagdassars Würde, und er nahm Gift. Die Schatulle hatte er nicht bei sich, nur ein Bündel mit einer Notiz in englischer Sprache. Sie war an die britischen Behörden gerichtet. Darin beschwor der Radscha seine Unschuld und bat, das Bündel seinem einzigen Sohn zukommen zu lassen. Der Junge wurde irgendwo in Europa in einem privaten Internat erzogen. Bei den indischen Würdenträgern neuerer Denkart ist das ganz normal. Ich muß erwähnen, daß Bagdassar sich keineswegs gegen die Einflüsse der Zivilisation sperrte. Er war mehrmals nach London und Paris gereist und hatte sogar eine Französin geehelicht.«
»Ach, wie ungewöhnlich!« rief Clarissa. »Mit einem indischen Radscha verheiratet zu sein! Was ist aus ihr geworden?«
»Zum Teufel mit ihr, erzählen Sie lieber von dem Bündel!« sagte der Kommissar ungeduldig. »Was war darin?«
»Rein gar nichts von Interesse.« Der Professor zuckte bedauernd die Achseln. »Ein Koran-Bändchen. Die Schatulle blieb spurlos verschwunden, obwohl sie überall gesucht wurde.«
»War es ein gewöhnlicher Koran?« fragte Fandorin.
»Ein ganz gewöhnlicher. In einer Bombayer Offizin gedruckt, mit frommen Randbemerkungen des Verblichenen. Der Schwadronskommandeur glaubte den Koran bestimmungsgemäß expedieren zu dürfen und behielt zur Erinnerung das Tuch, in das der Koran gewickelt war. Später wurde das Tuch von Lord Littleby erworben und in seine Sammlung indischer Seidenmalerei aufgenommen.«
Der Kommissar präzisierte: »Das Tuch, in das der Mörder den Schiwa eingewickelt hat?«
»Genau. Es ist in der Tat ein ungewöhnliches Tuch. Aus hauchdünner, federleichter Seide. Die Zeichnung ist recht trivial – ein lieblich singender Paradiesvogel, aber es gibt zwei einzigartige Besonderheiten, die ich noch auf keinem anderen indischen Tuch gesehen habe. Erstens hat der Vogel statt des Auges ein Löchlein, dessen Ränder in feinster Juwelierarbeit mit Brokatfaden umsäumt sind. Zweitens hat das Tuch eine interessante Form – ein unregelmäßiges Dreieck: zwei Seiten gewellt, eine vollkommen gerade.«
»Ist das Tuch sehr w-wertvoll?« fragte Fandorin.
»Na, das Tuch ist ganz uninteressant«, sagte Madame Kleber mit launisch vorgeschobener Unterlippe. »Erzählen Sie lieber von den Juwelen! Man hätte gründlicher suchen sollen.«
Sweetchild lachte.
»Oh, Madame, Sie haben keine Vorstellung, wie sorgfältig der neue Radscha gesucht hat! Er hatte uns während des Sepoy-Kriegs unschätzbare Dienste geleistet und erhielt als Belohnung den Thron von Brahmapur. Dem Ärmsten trübte sich vor Habgier das Urteilsvermögen. Ein Schlaukopf flüsterte ihm ein, Bagdassar habe die Schatulle in die Wand eines der Häuser eingemauert. Da die Schatulle tatsächlich nach Größe und Aussehen einem gewöhnlichen Lehmziegel glich, befahl der neue Radscha, alle Gebäude, die aus diesem Baumaterial errichtet waren, auseinanderzunehmen. Die Häuser wurden eines nach dem anderen abgetragen, und jeder Ziegel wurde unter der persönlichen Aufsicht des Herrschers zerschlagen. Da in Brahmapur neunzig Prozent aller Bauten aus Lehmziegeln bestanden, verwandelte sich die blühende Stadt binnen weniger Monate in einen Trümmerhaufen. Der wahnsinnige Radscha wurde von seinen eigenen Angehörigen vergiftet, da sie einen Aufstand der Bevölkerung befürchteten, ärger als die Empörung der Sepoys.«
»Das hat er verdient, der Judas«, sagte Regnier gefühlvoll. »Es gibt nichts Schlimmeres als Verrat.«
Fandorin wiederholte geduldig seine Frage: »Also, ist das Tuch sehr w-wertvoll, Professor?«
»Ich glaube nicht. Es ist eher eine Rarität, ein Kuriosum.«
»Und warum wurde immer wieder etwas darin eingewickelt, mal der Koran, mal der Schiwa? Hat das Stück Seide vielleicht eine sakrale Bedeutung?«
»Das habe ich nie gehört. Zufall.«
Kommissar Coche stand ächzend auf und reckte die Schultern.
»Tja, interessante Geschichte, aber für unsere Untersuchung gibt sie leider nichts her. Der Mörder wird diesen Lappen kaum als sentimentales Souvenir mit sich herumtragen.« Träumerisch fügte er hinzu: »Das wäre nicht schlecht. Einer von Ihnen, verehrte Verdächtige, holt das Seidentuch mit dem Paradiesvogel aus Zerstreutheit hervor und schneuzt hinein. Dann wüßte der alte Coche, was er zu tun hätte.«
Der Fahnder lachte, er schien seinen Scherz für geistreich zu halten. Clarissa sah den Grobian mißbilligend an. Der fing ihren Blick auf und verengte die Augen.
»Apropos, Mademoiselle Stomp, Ihr hübscher Hut ist der letzte Pariser Schrei. Wann waren Sie das letztemal in Paris?«
Clarissa straffte sich innerlich und antwortete in eisigem Ton: »Den Hut habe ich in London gekauft, Kommissar. Und in Paris war ich noch nie.«
Wo guckte denn Fandorin so gebannt hin? Clarissa folgte seinem Blick und erbleichte.
Der Diplomat hatte ihren Fächer aus Straußenfedern betrachtet, auf dessen Elfenbeingriff mit Goldbuchstaben stand: Meilleurs Souvenirs! Hotel »Ambassadeur«. Rue de Grenelle, Paris.
Welch unverzeihlicher Fehler!