5. Tag des 4. Monats
Angesichts der Küste von Eritrea
Unten ein grüner Streifen Meer,
In der Mitte ein gelber Streifen Sand,
Darüber ein blauer Streifen Himmel.
Das sind die Farben
Der Fahne von Afrika.
Dieser triviale Fünfzeiler ist die Frucht meiner anderthalbstündigen Bemühungen um seelische Harmonie. Die verdammte Harmonie wollte und wollte nicht zurückkehren.
Ich saß allein auf Deck, blickte auf das trostlose Gestade von Afrika und empfand schärfer als je zuvor meine grenzenlose Einsamkeit. Ein Glück, daß ich seit meiner Kindheit die schöne Gewohnheit habe, Tagebuch zu führen. Als ich vor sieben Jahren zum Studium in das ferne Land Furansu reiste, träumte ich insgeheim davon, daß mein Reisetagebuch eines Tages veröffentlicht wird und mir und dem ganzen Geschlecht der Aonos Ruhm einbringt. Doch leider ist mein Geist gar zu unvollkommen, und meine Gefühle sind gar zu gewöhnlich, als daß diese kläglichen Blätter mit der großen Tagebuchliteratur früherer Zeiten wetteifern könnten.
Gleichwohl hätte ich ohne diese täglichen Aufzeichnungen wohl schon längst den Verstand verloren.
Selbst hier auf dem Schiff, das nach Ostasien fährt, sind nur zwei Vertreter der gelben Rasse – ich und ein chinesischer Eunuch, Hofbeamter 11. Ranges, der nach Paris gereist war, um Parfümeriewaren und kosmetische Neuheiten für die Kaiserin Tz’u-Hsi einzukaufen. Aus Sparsamkeit reist er zweiter Klasse und geniert sich deswegen sehr, und unser Gespräch brach in dem Moment ab, als er mitbekam, daß ich in der ersten reise. Welche Schmach für China! Ich an Stelle des Beamten wäre sicherlich vor Demütigung gestorben. Jeder von uns beiden repräsentiert ja auf diesem europäischen Schiff eine asiatische Großmacht. Ich verstehe den Seelenzustand des Beamten, und doch tut es mir sehr leid, daß er aus Scham seine enge Kabine nicht verläßt – wir könnten miteinander reden. Das heißt natürlich, nicht reden, sondern uns mittels Pinsel und Papier verständigen. Zwar sprechen wir verschiedene Sprachen, aber die Hieroglyphen sind ja die gleichen.
Macht nichts, sage ich mir, halte durch. Es dauert ja nicht mehr lange. In knapp einem Monat sehe ich die Lichter von Nagasaki, und von dort ist es nur noch ein Katzensprung bis zu meiner Heimat Kagoshima. Und wenn auch meine Heimkehr mir Schande und Erniedrigung verheißt, und wenn ich auch zum Gespött meiner Freunde werde, Hauptsache, wieder zu Hause! Schließlich wird es niemand wagen, mich offen zu verachten, alle wissen ja, daß ich den Willen meines Vaters erfüllt habe, und über Befehle diskutiert man bekanntlich nicht. Ich tat, was ich tun mußte und wozu ich verpflichtet war. Mein Leben ist zugrunde gerichtet, aber wenn das für das Wohl Japans notwendig ist … Doch Schluß, genug davon!
Wer hätte denken können, daß die Rückkehr in die Heimat, die letzte Etappe siebenjähriger Prüfungen, so schwierig sein würde?
In Frankreich konnte ich wenigstens meine Nahrung in Einsamkeit zu mir nehmen, konnte meine Spaziergänge und die Natur genießen. Hier auf dem Dampfer dagegen komme ich mir vor wie ein Reiskorn, das irrtümlich in eine Schüssel Nudeln geraten ist. Sieben Jahre habe ich unter rothaarigen Barbaren gelebt und mich nicht an einige ihrer scheußlichen Gepflogenheiten gewöhnen können. Wenn ich sehe, wie die überfeinerte Kleber-san mit dem Messer ein blutiges Beefsteak zerschneidet und sich hinterher mit dem rosigen Zünglein die geschminkten Lippen leckt, wird mir schlecht. Und dann diese englischen Waschbecken, deren Abfluß man mit einem Korken verschließt, so daß man sich das Gesicht mit schmutzigem Wasser waschen muß! Und die alptraumhafte, von einem perversen Geist erfundene Kleidung! Darin fühlt man sich wie ein in Ölpapier gewickelter Karpfen, der auf Kohlenglut geröstet wird. Am meisten hasse ich die gestärkten Kragen, von denen man roten Ausschlag am Kinn bekommt, und die Lederschuhe, die Folterwerkzeuge sind. Mit dem Recht des wilden Asiaten erlaube ich mir, in einem leichten Yukata an Deck zu spazieren, doch meine unglücklichen Tischnachbarn schwitzen von früh bis spät in ihrer Kleidung. Meine sensible Nase leidet sehr unter dem scharfen, fettigen Geruch des europäischen Schweißes. Entsetzlich ist auch die Gepflogenheit der Rundäugigen, sich in Taschentücher zu schneuzen, diese mit dem Rotz wieder in die Tasche zu stecken, sie erneut hervorzuholen und nochmals zu benutzen. Zu Hause wird man mir das nicht glauben, sondern denken, ich hätte mir das ausgedacht. Sieben Jahre sind eine lange Zeit. Vielleicht tragen die Damen bei uns inzwischen auch schon die lächerlichen Turnüren auf dem Hintern und humpeln stolpernd auf hohen Absätzen. Es wäre interessant, Kyokosan in solchem Aufputz zu sehen. Sie ist ja schon groß, dreizehn Jahre. Ein-zwei Jährchen noch, dann wird man uns verheiraten. Vielleicht auch schon früher. Wenn ich nur bald zu Hause wäre!
Heute ist mir das Erlangen der seelischen Harmonie besonders schwergefallen, weil
1. ich entdeckte, daß aus meiner Reisetasche mein bestes Instrument verschwunden ist, mit dem sich selbst der dickste Muskel leicht durchtrennen läßt. Was mag dieser seltsame Raub bedeuten?
2. ich nach dem Mittagessen erneut in eine demütigende Lage geriet, noch deprimierender als nach meinen Worten über Karl den Kühnen (s. gestrige Aufzeichnung). Fandorin-san, der sich nach wie vor sehr für Japan interessiert, befragte mich nach dem Bushido und den Samuraitraditionen. Das Gespräch kam auf meine Familie und meine Vorfahren. Da ich mich als Offizier vorgestellt hatte, erkundigte sich der Russe nach der Bewaffnung, den Uniformen und dem Reglement der kaiserlichen Armee. Das war entsetzlich! Als sich herausstellte, daß ich noch nie vom Berdangewehr gehört hatte, sah Fandorin-san mich sehr seltsam an. Er ist sicherlich zu dem Schluß gekommen, in der japanischen Armee dienten komplette Ignoranten. Vor Scham vergaß ich die Höflichkeit und lief aus dem Salon, was alles noch ärger machte.
Ich konnte mich lange nicht beruhigen. Zuerst stieg ich hinauf zum Bootsdeck, wo die Sonne am heißesten brennt und es daher menschenleer ist. Ich entkleidete mich bis auf das Lendentuch und übte mich eine halbe Stunde lang in der Schlagtechnik Mawashi-giri. Als ich die nötige Kondition erlangt hatte und die Sonne mich rosa dünkte, nahm ich den Zazen-Sitz ein und versuchte vierzig Minuten zu meditieren. Erst danach zog ich mich wieder an und ging nach achtern, um eine Tanka zu schreiben.
Alle diese Übungen halfen. Ich weiß jetzt, wie ich mein Gesicht wahren kann. Beim Abendessen werde ich Fandorin-san sagen, daß es uns verboten ist, mit Ausländern über die kaiserliche Armee zu sprechen und daß ich aus dem Salon gelaufen bin, weil ich schrecklichen Durchfall habe. Ich meine, das klingt überzeugend, und ich werde in den Augen meiner Tischgenossen nicht mehr aussehen wie ein unerzogener Wilder.
Derselbe Tag, abends
Von wegen Harmonie! Etwas Katastrophales ist geschehen. Mir zittern vor Scham die Hände, aber ich muß jetzt gleich alle Einzelheiten notieren. Das wird mir helfen, mich zu konzentrieren und den richtigen Entschluß zu fassen. Vorerst nur die Fakten, die Schlußfolgerungen später.
Also.
Das Abendessen im Salon »Hannover« begann wie üblich um 20 Uhr. Obwohl ich Rote-Bete-Salat (red beet) bestellt hatte, brachte mir der Kellner halbrohes blutiges Rindfleisch. Er hatte red beef verstanden. Ich schob mit der Gabel das bluttriefende Fleisch hin und her und blickte mit heimlichem Neid zu dem Ersten Offizier, der ein sehr appetitliches Gemüseragout mit magerem Hühnerfleisch verzehrte.
Was war noch?
Nichts Besonderes. Kleber-san klagte wie immer über Migräne, aß aber mit großem Appetit. Sie sieht blühend aus, klassisches Beispiel für eine gut vertragene Schwangerschaft. Ich bin überzeugt: Wenn die Zeit heran ist, wird das Kind aus ihr herausspringen wie der Pfropfen aus einer Flasche französischen Schaumwein.
Gesprochen wurde über die Hitze, über die morgige Ankunft in Aden, über Edelsteine. Fandorin-san und ich verglichen die Vorzüge der japanischen und der englischen Gymnastik. Ich konnte mir erlauben, Nachsicht zu üben, denn auf diesem Gebiet liegt die Überlegenheit Asiens gegenüber dem Westen auf der Hand. Der Unterschied besteht darin, daß ihre physischen Übungen Sport, Spiel sind, die unsrigen dagegen ein Weg zur geistigen Selbstvervollkommnung. Ja, zur geistigen, denn die physische Vollkommenheit ist bedeutungslos und folgt der geistigen wie ein Eisenbahnzug der Lokomotive. Ich muß sagen, daß der Russe sich sehr für Sport interessiert und sogar von den Kampfschulen Japans und Chinas gehört hat. Heute morgen habe ich früher als sonst auf dem Bootsdeck meditiert und sah dort Fandorin-san. Wir wechselten nur eine Verbeugung, kamen aber nicht ins Gespräch, denn wir waren beschäftigt: Ich wusch meine Seele in dem Licht des neuen Tages, und er, mit einem Sporttrikot bekleidet, machte Kniebeugen und stemmte eine Zeitlang Hanteln, die sehr schwer aussahen.
Das gemeinsame Interesse an der Gymnastik machte unser abendliches Gespräch ungezwungen, und ich fühlte mich lockerer als gewöhnlich. Ich erzählte dem Russen von Jiu-Jitsu. Er hörte aufmerksam zu.
Etwa um halb neun (die genaue Zeit habe ich mir nicht gemerkt) klagte Kleber-san, die schon ihren Tee getrunken und zwei Stück Kuchen gegessen hatte, über Schwindel. Ich sagte ihr, das komme bei Schwangeren vor, wenn sie zu viel äßen. Aus irgendwelchen Gründen war sie darüber gekränkt, und mir ging auf, daß ich das nicht hätte sagen dürfen. Wie oft hatte ich mir geschworen, den Mund zu halten. Weise Erzieher hatten mich schließlich gelehrt: Wenn du in fremder Gesellschaft bist, sitze da, höre zu, lächle freundlich und nicke von Zeit zu Zeit – dann wirst du als wohlerzogener Mensch gelten und auf jeden Fall nichts Dummes sagen. Schöner »Offizier«, der anderen medizinische Ratschläge aufdrängt!
Regnier-san sprang sogleich auf und erbot sich, die Dame zu ihrer Kabine zu begleiten. Dieser Mann ist überhaupt sehr zuvorkommend, besonders zu Kleber-san. Er ist der einzige, der ihrer ewigen Launen noch nicht überdrüssig ist. Er wahrt die Ehre seiner Uniform.
Nachdem sie gegangen waren, wechselten die Männer in die Sessel und rauchten. Der italienische Schiffsarzt und seine englische Frau begaben sich zu einem Patienten, und ich versuchte, dem Kellner klarzumachen, daß ich mein Frühstücksomelett ohne Bacon und ohne Schinken wünsche. Das hätten sie in den vielen Tagen schon lernen können.
Es waren wohl zwei Minuten vergangen, da hörten wir plötzlich einen gellenden Frauenschrei.
Erstens begriff ich nicht gleich, daß es Kleber-san war, die da schrie. Zweitens ging mir nicht auf, daß das verzweifelte »Oskur! Oskur!« nichts anderes bedeutete als »Au secours! Au secours!«1 Aber das rechtfertigt nicht mein Verhalten. Ich habe mich schmählich benommen, unwürdig eines Samurai!
Aber der Reihe nach.
Als erster stürzte Fandorin-san zur Tür, gefolgt von dem Polizeikommissar, Milford-Stokes-san und Sweetchild-san, ich aber blieb wie angewurzelt stehen. Sie alle glauben jetzt gewiß, daß in der japanischen Armee klägliche Feiglinge dienen! In Wirklichkeit habe ich nur nicht gleich begriffen, was vorging.
Als ich es endlich begriffen hatte, war es zu spät – ich erreichte den Schauplatz als Letzter, sogar noch nach Stomp-san.
Die Kabine von Kleber-san liegt ganz in der Nähe des Salons, sie ist die fünfte rechts im Korridor.
Hinter den mir Zuvorgekommenen stehend, sah ich ein unwahrscheinliches Bild. Die Kabinentür stand sperrangelweit offen. Kleber-san lag stöhnend auf dem Fußboden, über ihr etwas Schwarzes, Blankes, Unbewegliches. Ich erkannte nicht gleich, daß es ein riesiger Neger war. Er trug eine weiße Leinenhose. Aus seinem Genick ragte der Griff eines Marinedolchs. An seiner Körperhaltung sah ich sofort, daß er tot war. Ein solcher Stoß gegen die Schädelbasis verlangt große Kraft und Präzision, tötet aber blitzartig.
Kleber-san zappelte, um unter dem schweren Leichnam hervorzukommen, doch vergeblich. Neben ihr bewegte sich hektisch Leutnant Regnier. Sein Gesicht war weißer als der Kragen seines Hemdes. Die Dolchscheide an seiner Hüfte war leer. Der Leutnant war ganz durcheinander – bald versuchte er, die unangenehme Last von der schwangeren Frau wegzuziehen, bald wandte er sich uns zu und erklärte verworren dem Kommissar, was geschehen war.
Fandorin-san bewahrte als einziger seine Kaltblütigkeit. Ohne erkennbare Anstrengung zerrte er den Toten beiseite (ich dachte sofort an seine Gymnastik mit den Hanteln), half Kleber-san in einen Sessel und gab ihr Wasser. Da kam auch ich zu mir und prüfte in aller Eile, ob Kleber-san verletzt sei, sie war es nicht. Ob sie innere Schäden davongetragen hatte, würde sich später zeigen. Alle waren so erregt, daß die von mir vorgenommene Untersuchung niemanden verwunderte. Die Weißen glauben ja, daß alle Asiaten ein bißchen Schamanen sind und sich auf die Heilkunst verstehen. Kleber-sans Puls lag bei 95, und das war vollauf erklärlich.
Sie und Regnier-san erzählten, einander ins Wort fallend, folgendes.
Der Leutnant: Er habe Madame Kleber zur Kabine begleitet, ihr einen angenehmen Abend gewünscht und sich verabschiedet. Doch er habe sich gerade zwei Schritte entfernt, da hörte er ihren verzweifelten Schrei.
Kleber-san: Sie sei eingetreten, habe die elektrische Lampe angeknipst und vor ihrem Toilettentisch einen gigantischen schwarzen Mann stehen sehen, der ihre Korallenkette in der Hand hielt (die sah ich in der Tat nachher auf dem Fußboden liegen). Der Neger habe sich schweigend auf sie gestürzt, sie zu Boden geworfen und mit seinen Riesenpranken nach ihrer Kehle gegriffen. Sie habe losgeschrien.
Der Leutnant: Er sei in die Kabine gestürzt, habe die entsetzliche (er sagte: »phantastische«) Szene gesehen und erst einmal den Kopf verloren. Dann habe er den riesigen Neger bei den Schultern gepackt, ihn jedoch keinen Zoll von der Stelle bewegen können. Darauf habe er ihn mit dem Stiefel gegen den Kopf getreten, wieder ohne Erfolg. Erst jetzt habe er, aus Furcht um das Leben von Madame Kleber und ihr Ungeborenes, den Dolch aus der Scheide gezogen und einen einzigen Stoß geführt.
Ich dachte mir, der Leutnant müsse seine stürmische Jugend in Tavernen und Bordellen verbracht haben, wo es von gekonnter Messerhandhabung abhängt, wer am nächsten Morgen mit einem Brummschädel aufwacht und wer auf dem Friedhof landet.
Kapitän Cliff und Doktor Truffo kamen angelaufen. In der Kabine wurde es eng. Niemand hatte eine Ahnung, wie der Afrikaner auf die »Leviathan« gekommen war. Fandorin-san betrachtete eingehend die Tätowierung auf der Brust des Toten und sagte, eine solche habe er schon gesehen. Während des jüngsten Balkankonflikts sei er in türkischer Gefangenschaft gewesen und habe dort dunkelhäutige Sklaven mit den gleichen Zickzackmarkierungen rund um die Brustwarzen gesehen. Es sei ein ritueller Schmuck des Ndanga-Stammes, den arabische Sklavenhändler erst kürzlich im Herzen von Äquatorialafrika entdeckt hätten. Die Ndanga-Männer genössen auf den Märkten des gesamten Orients große Nachfrage.
Ich hatte den Eindruck, daß Fandorin-san all das mit etwas seltsamer Miene sagte, so als ob ihn irgendwas befremdete. Aber ich kann mich auch irren, denn die Mimik der Europäer ist recht wunderlich und ähnelt nicht im geringsten der unsrigen.
Kommissar Coche hörte dem Diplomaten kaum zu. Er sagte, ihn als Vertreter des Gesetzes interessierten zwei Fragen: wie der Neger aufs Schiff gekommen sei und warum er Madame Kleber angefallen habe.
Nun stellte sich heraus, daß bei einigen der Anwesenden in letzter Zeit auf geheimnisvolle Weise Gegenstände aus den Kabinen verschwunden waren. Ich mußte an meinen Verlust denken, schwieg aber natürlich. Des weiteren kam zur Sprache, daß der eine oder andere sogar einen riesigen schwarzen Schatten gesehen hatte (Miss Stomp) oder ein durchs Fenster hereinlugendes schwarzes Gesicht (Mrs. Truffo). Nun ist klar, daß es keine Halluzinationen oder Auswüchse weiblicher Phantasie gewesen sind.
Alle fielen über den Kapitän her. Über jedem Passagier hatte in den letzten Tagen tödliche Gefahr geschwebt, und die Schiffsführung hatte nichts davon gewußt. Cliff-san war schamrot. Sein Ansehen hatte einen empfindlichen Schlag bekommen. Ich wandte mich taktvoll ab, um ihm die Schmach zu erleichtern.
Dann bat der Kapitän die Zeugen des Vorfalls in den Salon »Hannover« und hielt uns eine Ansprache voller Kraft und Würde. Vor allem entschuldigte er sich für das Vorkommnis. Er bat uns, niemandem von dem »bedauerlichen Vorfall« zu erzählen, denn sonst könne es auf dem Dampfer zu einer Massenpsychose kommen. Er versprach, unverzüglich die Laderäume, den Doppelboden, die Vorratsräume und sogar die Kohlebunker durchsuchen zu lassen. Und er versicherte, daß es auf seinem Schiff keine schwarzhäutigen Einbrecher mehr geben werde.
Der Kapitän ist ein guter Mann. Ein richtiger Seebär. Er spricht unbeholfen, in kurzen Sätzen, doch man sieht, daß er ein festes Herz hat und für seine Sache brennt. Ich hörte, wie Truffo-san einmal dem Kommissar erzählte, Kapitän Cliff sei Witwer und hänge mit großer Liebe an seiner einzigen Tochter, die in einem Schweizer Pensionat erzogen werde. Ich finde das sehr rührend.
Es scheint, daß ich ein wenig zu mir komme. Die Zeilen fließen gleichmäßiger, die Hand zittert nicht mehr. Ich kann zum Unangenehmsten übergehen.
Bei der oberflächlichen Untersuchung von Kleber-san war mir aufgefallen, daß sie keine Hämatome hatte. Ich stellte auch ein paar weitere Überlegungen an, die ich dem Kapitän und dem Kommissar mitteilen wollte. Vor allem aber wollte ich die schwangere Frau beruhigen, die nach der Erschütterung noch immer außer sich war und sich in eine Hysterie hineinsteigerte.
Ich sagte ihr in freundlichstem Ton: »Vielleicht wollte der Schwarze Sie gar nicht töten, Madame. Sie kamen so unerwartet herein und machten Licht, da ist er einfach erschrocken. Er ist ja …«
Sie ließ mich nicht ausreden.
»Erschrocken ist er?« zischte sie mit plötzlicher Wut. »Oder sind Sie vielleicht erschrocken, Monsieur Asiat? Meinen Sie, ich habe nicht gesehen, wie Sie sich mit Ihrer gelben Visage hinter dem Rücken anderer Leute versteckt haben?«
So hatte mich noch nie jemand beleidigt. Am schlimmsten war, daß ich nicht so tun konnte, als wären das die zänkischen Worte einer hysterischen dummen Gans, die sich mit einem verächtlichen Lächeln abtun ließen. Kleber-san hatte mich an der empfindlichsten Stelle getroffen!
Eine Antwort fiel mir nicht ein. Ich litt grausam, und sie sah mich mit einer vernichtenden Grimasse an. Wenn ich in diesem Moment in die berüchtigte Hölle der Christen hätte stürzen können, würde ich selbst den Lukenhebel gezogen haben. Am schrecklichsten war, daß sich der rote Schleier der Raserei über meine Augen legte, ein Zustand, den ich besonders fürchte. In diesem Zustand nämlich kann ein Samurai Taten begehen, die für sein Karma schädlich sind. Er muß dann sein Leben lang die Schuld sühnen, weil er für einen Moment die Selbstkontrolle verlor.
Ich verließ den Salon, aus Furcht, ich könnte mich nicht beherrschen und der schwangeren Frau etwas Entsetzliches antun. Ich weiß nicht, ob ich bei einem Mann so die Gewalt über mich behalten hätte.
Ich schloß mich in meiner Kabine ein und holte den Beutel mit den ägyptischen Kürbissen hervor, die ich in Port Said auf dem Basar gekauft hatte. Sie sind klein, kopfgroß und sehr hart. Fünfzig Stück hatte ich erstanden.
Um den roten Schleier vor den Augen wegzukriegen, trainierte ich den geraden Handkantenschlag. Da ich jedoch hocherregt war, mißlangen die Schläge: Die Kürbisse spalteten sich nicht in zwei Hälften, sondern zersprangen in sieben oder acht Stücke.
Es ist schwer.