Sie erwachte in glänzender Laune, lächelte über einen Sonnenfleck, der über ihre vom Kissen zerdrückte rundliche Wange kroch, und horchte auf ihren Bauch. Das Kind verhielt sich still, aber sie hatte schrecklichen Hunger. Bis zum Frühstück waren es noch fünfzig Minuten, doch sie war gewohnt, sich zu gedulden, und Langeweile war ihr fremd. Der Schlaf verließ sie morgens ebenso schnell, wie er sie abends überkam – sie bettete den Kopf auf die zusammengelegten Hände, und schon im nächsten Moment hatte sie einen lieblichen und fröhlichen Traum.
Renate trällerte ein frivoles Liedchen von der armen Georgette, die sich in einen Schornsteinfeger verliebt, dabei verrichtete sie ihre Morgentoilette, rieb das frische Gesicht mit Lavendelwasser ab, frisierte sich flink und geschickt: toupierte über der Stirn einen kleinen Pony, steckte das volle kastanienbraune Haar zu einem glatten Knoten und ließ an den Schläfen zwei gewundene Löckchen herabhängen. Nun sah sie so aus, wie sie es wollte – hübsch und bescheiden. Sie guckte durch das Bullauge. Immer dasselbe: das gleichmäßige Kanalufer, der gelbe Sand, die weißen Lehmhütten eines ärmlichen Dorfes. Ein heißer Tag stand bevor. Also das weiße Spitzenkleid, der Strohhut mit dem roten Band und, nicht zu vergessen, der Sonnenschirm, denn nach dem Frühstück war ein Spaziergang fällig. Doch fand sie es lästig, sich mit dem Schirm abzuschleppen. Irgendwer würde ihn ihr schon holen.
Renate drehte sich mit sichtlichem Vergnügen vor dem Spiegel, stellte sich seitlich hin, zog das Kleid über dem Bauch straff. Um die Wahrheit zu sagen – noch war nichts zu sehen.
Mit dem Recht der Schwangeren fand sie sich vor der Zeit zum Frühstück ein, die Kellner waren noch beim Eindecken. Renate bestellte sogleich Orangensaft, Tee, Hörnchen mit Butter und alles übrige. Als der erste Tischnachbar erschien, der dicke Monsieur Coche, auch ein Frühaufsteher, hatte die werdende Mutter schon drei Hörnchen verdrückt und machte sich eben über ein Omelett mit Pilzen her. Auf der »Leviathan« gab es kein Kontinentalfrühstück, sondern ein richtiges englisches Breakfast: mit Rostbeef, erlesenen Eierspeisen, Pudding und Porridge. Französisch waren hier nur die Croissants. Dafür dominierte mittags und abends die französische Küche. Konnte man im Salon »Hannover« etwa Nierchen mit Bohnen servieren?
Der Erste Offizier erschien wie stets um punkt zehn. Fürsorglich erkundigte er sich nach Madame Klebers Befinden. Renate schwindelte, sie habe schlecht geschlafen und fühle sich zerschlagen, weil sich das Bullauge schwer öffnen lasse und es in ihrer Kabine stickig sei. Leutnant Regnier war bestürzt und versprach, persönlich vorbeizukommen und den Defekt zu beheben. Eier und Rostbeef aß er nicht, er hielt sich an eine ausgeklügelte Diät und ernährte sich hauptsächlich von Grünzeug. Er tat Renate leid.
Allmählich fanden sich auch die übrigen ein. Das Gespräch am Frühstückstisch kam gewöhnlich nur schleppend in Gang – die Älteren waren zerknittert nach einer schlecht verbrachten Nacht, und die Jüngeren schliefen noch halb. Es war amüsant, zu beobachten, wie die zickige Clarissa Stomp den stotternden Diplomaten umgarnte. Renate schüttelte den Kopf: Wie konnte die sich solche Blöße geben! Meine Liebe, der könnte dein Sohn sein, trotz der imposanten weißen Schläfen. Meinst du, der Beau wäre was für so eine alternde Jungfer wie dich?
Als letzter kam der rothaarige Psychopath (so nannte Renate im stillen den englischen Baronet). Storre Zotteln, rote Augen, zuckende Mundwinkel – ein Graus. Aber Madame Kleber fürchtete ihn kein bißchen und ließ keine Gelegenheit aus, sich über ihn lustig zu machen. So reichte sie ihm jetzt mit unschuldig-freundlichem Lächeln das Milchkännchen. Milford-Stokes (schon der Name!) schob erwartungsgemäß angewidert seine Tasse zurück. Renate wußte aus Erfahrung, daß er das Milchkännchen nicht anrühren, sondern seinen Kaffee lieber schwarz trinken würde.
»Warum wenden Sie sich ab?« lispelte sie mit bebender Stimme. »Keine Bange, Schwangerschaft ist nicht ansteckend.« Und sie schloß schon ohne Beben: »Jedenfalls nicht für Männer.«
Der Psychopath schickte ihr einen sengenden Blick, der jedoch an ihrem strahlenden und friedlichen Gegenblick abprallte. Leutnant Regnier verdeckte mit der Hand ein Schmunzeln, der Rentier ließ ein »hm« hören. Selbst der Japaner lächelte über Renates Ausfall. Allerdings lächelte dieser Monsieur Aono immer, auch ohne jeden Anlaß. Womöglich bedeutete ja das Lächeln bei den Japanern gar nicht Heiterkeit, sondern etwas ganz anderes. Zum Beispiel Langeweile oder Abscheu.
Nachdem Monsieur Aono zur Genüge gelächelt hatte, leistete er sich wieder das gewohnte Stückchen, von dem es seinen Tischnachbarn immer ganz übel wurde: Er schneuzte geräuschvoll in eine Papierserviette, knüllte sie zusammen und legte das nasse Päckchen sorgsam auf seinem schmutzigen Teller ab. Mochten sich die anderen am Anblick dieser Ikebana erbauen. Von Ikebana hatte Renate bei Pierre Loti gelesen, und das wohlklingende Wort war ihr haftengeblieben. Interessante Idee, Blumensträuße nicht einfach so zu binden, sondern mit philosophischem Sinn. Sie müßte es mal probieren.
»Welche Blumen mögen Sie?« fragte sie Doktor Truffo.
Er übersetzte die Frage seiner Schreckschraube, dann antwortete er: »Stiefmütterchen.«
Und er übersetzte auch die Antwort: »Pansies.«
»Ich vergöttere Blumen!« rief Miss Stomp (die sich als jugendliche Naive aufspielte). »Aber nur lebendige. Wie gern gehe ich über eine Blumenwiese! Es zerreißt mir das Herz, wenn ich sehe, wie die armen Schnittblumen welken und ihre Blütenblätter verlieren! Darum lasse ich mir auch von niemandem Blumen schenken.« Schmachteblick auf den schönen Russen.
Welch ein Jammer, sonst würden sie dich bestimmt mit Sträußen zuschütten, dachte Renate, laut aber sagte sie: »Ich finde, Blumen sind die Krönung von Gottes Schöpfung, und eine blühende Wiese zu zertrampeln ist ein Verbrechen.«
»In den Parkanlagen von Paris gilt es auch als Verbrechen«, verlautbarte Monsieur Coche. »Es kostet zehn Francs Strafe. Und wenn die Damen einem alten Flegel gestatten wollen, seine Pfeife zu rauchen, möchte ich Ihnen ein spannendes Geschichtchen zu diesem Thema erzählen.«
»Oh, meine Damen, üben Sie Nachsicht!« rief der bebrillte Indologe Sweetchild und schüttelte sein Disraeli-Bärtchen. »Monsieur Coche ist ein fabelhafter Erzähler.«
Alle wandten sich der schwangeren Renate zu, die das letzte Wort hatte, und sie rieb sich vielsagend die Schläfe. Nein, Kopfschmerzen hatte sie nicht, es machte ihr nur Spaß, den angenehmen Moment zu verlängern. Aber das »Geschichtchen« wollte sie auch gern hören, darum nickte sie mit Leidensmiene.
»Gut, rauchen Sie nur. Aber dann soll mir jemand Luft zufächeln.«
Da die garstige Clarissa, die einen üppigen Fächer aus Straußenfedern besaß, so tat, als ginge es sie nichts an, mußte der Japaner das übernehmen. Gintaro Aono setzte sich neben die Leidende und fuchtelte ihr mit seinem Fächer voller bunter Schmetterlinge so eifrig vor der Nase herum, daß ihr bald schwindlig wurde von dem Farbengeflirre. Der Japaner bezog für seinen Übereifer einen Verweis.
Coche nahm mit Genuß einen Zug, stieß ein Wölkchen duftenden Qualms aus und begann seine Erzählung: »Ob Sie’s glauben oder nicht, aber dies ist eine wahre Geschichte. Im Jardin du Luxembourg arbeitete ein Gärtner, der alte Picard. Vierzig Jahre lang goß und pflegte er Blumen, und bis zur Pensionierung hatte er nur noch drei Jahre. Eines Morgens kam er mit seiner Gießkanne in den Park, da sah er auf einem Tulpenbeet einen schicken Herrn mit Frack liegen. Der Mann hatte es sich in der Morgensonne bequem gemacht und lag behaglich da. Er mußte wohl ein Nachtschwärmer sein, der bis in den Morgen gezecht, es nicht bis nach Hause geschafft und hier schlappgemacht hatte.« Coche kniff ein Auge ein und maß die Anwesenden mit verschmitztem Blick. »Picard wurde natürlich böse, seine Tulpen waren zerdrückt, und er sagte: ›Stehen Sie auf, Monsieur, in unserm Park darf man nicht auf den Beeten liegen. Dafür kassieren wir zehn Francs Strafe.‹ Der Nachtschwärmer öffnete ein Auge und holte ein Goldstück hervor. ›Nimm, Alter, und laß mich in Ruhe. Ich habe lange nicht so schön geruht.‹ Na, der Gärtner nahm das Geld, ging aber nicht weg. ›Die Strafe haben Sie bezahlt, aber ich darf Sie trotzdem nicht hier liegen lassen. Stehen Sie bitte auf.‹ Da öffnete der Herr im Frack auch sein zweites Auge, hatte es aber nicht eilig, sich zu erheben. ›Wieviel muß ich berappen, damit du mir aus der Sonne gehst? Ich zahle jeden Preis, wenn du mich hier ein Stündchen schlummern läßt.‹ Picard kratzte sich den Hinterkopf, rechnete, bewegte die Lippen. ›Gut‹, sagte er, ›wenn Sie ein Liegestündchen in einem Beet des Jardin du Luxembourg erwerben wollen, kostet es Sie vierundachtzigtausend Francs und keinen Sou weniger.‹« Der Kommissar lachte vergnügt und schüttelte den Kopf, gleichsam hingerissen von der Frechheit des Gärtners. »Nicht einen Sou weniger, soso. Nun muß ich Ihnen aber sagen, der beschwipste Herr war nicht irgendwer, sondern der Bankier Laffitte, der reichste Mann von Paris. Der redete nicht in den Wind, er hatte gesagt ›jeden Preis‹, und das galt. Er hätte es als schmählich empfunden, zu kneifen und sein Bankierswort zurückzunehmen. Aber einem hergelaufenen Frechling solch eine Summe zu geben hatte er auch keine Lust. Was tun?« Coche zuckte die Achseln, um die knifflige Lage des Bankiers zu illustrieren. »Laffitte sagt also: ›Na schön, du alter Spitzbube, du sollst deine vierundachtzigtausend haben, aber unter einer Bedingung: Beweise mir, daß ein Schlummerstündchen auf deinem schäbigen Beet tatsächlich diesen Betrag wert ist. Wenn du das nicht kannst, stehe ich jetzt auf und verbleue dich mit meinem Stock, dann komme ich wegen geringfügigem Rowdytum mit vierzig Francs Strafe davon.‹« Der bescheuerte Milford-Stokes lachte laut und schüttelte begeistert seine rötliche Mähne, Coche aber hob den gelbgeräucherten Finger: Freu dich nicht zu früh, es ist noch nicht zu Ende. »Und was meinen Sie, meine Damen und Herren? Der alte Picard, kein bißchen verlegen, rechnete vor: ›In einer halben Stunde, punkt acht, kommt der Herr Direktor des Parks, sieht Sie in dem Beet liegen und brüllt mich an, ich soll Sie wegbringen. Das kann ich aber nicht, denn Sie haben nicht für eine halbe, sondern für eine ganze Stunde bezahlt. Ich streite also mit dem Herrn Direktor, da jagt er mich aus dem Dienst, ohne Entschädigung und Pension. Dabei habe ich nur noch drei Jahre bis zur Pensionierung. Die Pension beträgt tausendzweihundert Francs im Jahr. Mein Leben im Ruhestand veranschlage ich auf zwanzig Jahre, macht vierundzwanzigtausend Francs. Aus der Dienstwohnung wird man uns raussetzen, meine Alte und mich. Wo soll ich dann wohnen? Ich muß ein Haus kaufen. Ein bescheidenes Häuschen mit Garten irgendwo an der Loire kostet mindestens zwanzigtausend. Und jetzt, mein Herr, denken Sie auch mal an meine Reputation. Vierzig Jahre habe ich in diesem Park auf Treu und Glauben meine Arbeit getan, und jeder wird sagen, daß Picard ein redlicher Mensch ist. Und nun solche Schande auf mein graues Haupt. Das ist ja Schmiergeld, Bestechung! Ich finde, für jedes Jahr untadeligen Dienstes sind tausend Francs nicht zuviel als moralischer Ausgleich. Insgesamt ergibt das vierundachtzigtausend.‹ Laffitte lachte, streckte sich behaglich auf dem Beet aus und schloß wieder die Augen. ›Komm in einer Stunde‹, sagte er. ›Da kriegst du dein Geld, alter Affe.‹ Ist das nicht eine hübsche Geschichte, meine Damen und Herren?«
»Also t-tausend Francs für ein untadeliges Jahr?« sagte der russische Diplomat auflachend. »Ein bißchen wenig. Wahrscheinlich Mengenrabatt.«
Die Anwesenden erörterten lebhaft die Geschichte und äußerten durchaus gegensätzliche Meinungen, Renate aber starrte neugierig Monsieur Coche an, der mit zufriedener Miene seine schwarze Mappe aufschlug, an der erkalteten Schokolade nippte und mit Papieren raschelte. Ein Original, dieser Opa. Was mochte er da für Geheimnisse haben? Warum hielt er den Ellbogen drüber?
Diese Frage ließ Renate keine Ruhe. Ein paarmal versuchte sie, Coche über die Schulter zu linsen, aber der boshafte Rentier klappte die Mappe unverfroren vor ihrer Nase zu und drohte ihr sogar mit dem Finger – nicht doch.
Aber heute geschah etwas Bemerkenswertes. Als Monsieur Coche wie üblich vor den anderen aufstand, entglitt seiner geheimnisvollen Mappe ein Blatt und segelte still zu Boden. Der Rentier bemerkte es nicht; in unfrohe Gedanken vertieft, verließ er den Salon. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, schnellte Renate vom Stuhl hoch. Aber sie war nicht die einzige mit guter Beobachtungsgabe. Die wohlerzogene Miss Stomp, so eine Fixe, erreichte das Blatt als erste.
»Ach, Monsieur Coche hat wohl was verloren!« rief sie, hob rasch das Papier auf und bohrte die scharfen Augen hinein. »Ich bring’s ihm.«
Aber Madame Kleber hatte schon mit zähen Fingern zugeschnappt und dachte nicht daran, loszulassen.
»Was ist es?« fragte sie. »Ein Zeitungsausschnitt? Wie interessant!«
Im nächsten Moment umstanden alle Anwesenden die beiden Damen, nur der stoische Japaner wedelte noch immer mit seinem Fächer, und Mrs. Truffo beäugte indigniert dieses ungehörige Eindringen in die Privatsphäre eines anderen.
Der Zeitungsausschnitt beinhaltete folgendes:
DAS VERBRECHEN DES JAHRHUNDERTS: EINE NEUE WENDE?
Die teuflische Ermordung von zehn Menschen in der Rue de Grenelle bewegt weiterhin die Gemüter der Pariser Bürger. Bislang gab es hauptsächlich zwei Theorien: die von einem manisch besessenen Arzt und die von einer Sekte blutgieriger fanatischer Hindus, Anhängern des Gottes Schiwa. Aber wir vom »Soir« haben unabhängige Recherchen angestellt und konnten einen Umstand ermitteln, der möglicherweise dem Fall eine Wende gibt. Wie wir herausfanden, wurde der verstorbene Lord Littleby in den letzten Wochen mindestens zweimal in Gesellschaft der internationalen Abenteurerin Marie Sansfond gesehen, die der Polizei in vielen Ländern bestens bekannt ist. Der Baron de M., ein enger Freund des Ermordeten, hat mitgeteilt, Milord habe für eine gewisse Dame geschwärmt, und er habe sich am Abend des 15. März nach Spa begeben wollen, zu einem romantischen Stelldichein. Ob es wohl Madame Sansfond war, die ihn zu diesem Treffen bestellt hatte? Es kam nicht zustande, da der arme Kollektionär in einem so unpassenden Moment von einem Podagraanfall heimgesucht wurde. Die Redaktion unterfängt sich nicht, eine eigene Theorie aufzustellen, hält es jedoch für ihre Pflicht, Kommissar Coche auf diesen bemerkenswerten Umstand hinzuweisen. Weitere Mitteilungen zu diesem Thema demnächst.
CHOLERAEPIDEMIE IM ABKLINGEN
Das städtische Gesundheitsamt teilt mit, daß die Herde der Cholera, derer man seit dem Sommer Herr zu werden versucht, endgültig lokalisiert sind. Die energischen prophylaktischen Maßnahmen der Pariser Ärzte haben gegriffen, und man darf hoffen, daß die Epidemie dieser gefährlichen Krankheit, die schon im Juli ausbrach, endlich
»Was soll das?« Renate zog verblüfft die Stirn kraus. »Ein Mord, eine Epidemie.«
»Nun, die Cholera ist in dem Zusammenhang unwichtig«, erklärte Professor Sweetchild. »Die Nachricht ist zufällig mit ausgeschnitten worden. Es geht natürlich um den Mord in der Rue de Grenelle. Haben Sie nicht davon gehört? Von dem Fall haben doch alle Zeitungen berichtet.«
»Ich lese keine Zeitungen«, erklärte Madame Kleber würdevoll. »In meinem Zustand ist das zu enervierend. Ich muß nicht über jede Scheußlichkeit informiert sein.«
»Kommissar Coche?« Leutnant Regnier kniff die Augen ein, nachdem er die Notiz nochmals überflogen hatte. »Das wird doch nicht unser Monsieur Coche sein?«
Miss Stomp ächzte auf.
»Das gibt’s doch nicht!«
Die Frau des Doktors trat herzu. Die Sensation war perfekt, und alle redeten durcheinander: »Polizei, hier ist französische Polizei im Spiel!« rief Milford-Stokes aufgeregt.
Regnier murmelte: »Der Kapitän fragt mich dauernd nach dem Salon ›Hannover‹ aus.«
Der Doktor übersetzte wie immer für seine Frau. Der Russe bemächtigte sich des Ausschnitts und studierte ihn aufmerksam.
»Das mit den indischen Fanatikern ist völliger Unsinn«, erklärte Sweetchild. »Ich habe das von Anfang an gesagt. Erstens gibt es keine blutgierige Sekte von Schiwa-Anhängern. Und zweitens hat sich die Statuette bekanntlich wohlbehalten wieder angefunden. Hätte ein religiöser Fanatiker sie etwa in die Seine geworfen?«
»Ja, das mit dem goldenen Schiwa ist ein Rätsel.« Miss Stomp nickte. »Sie schreiben, er sei die Perle in der Sammlung von Lord Littleby gewesen. Stimmt das, Herr Professor?«
Der Indologe zuckte nachsichtig die Achseln.
»Wie soll ich’s Ihnen sagen, gnädige Frau. Die Sammlung von Lord Littleby ist erst kürzlich entstanden, vor zwanzig Jahren. In solcher Frist ist es schwer, Herausragendes zusammenzutragen. Der Tote soll sich während der Niederschlagung des Sepoy-Aufstands 1857 sehr bereichert haben. Den berüchtigten Schiwa zum Beispiel soll ihm ein Maharadscha ›geschenkt‹ haben, dem wegen Verbindung zu den Meuterern ein militärisches Feldgericht drohte. Zweifelsohne enthielt Lord Littlebys Sammlung etliche Kostbarkeiten, aber die Auswahl war ziemlich chaotisch.«
»Nun erzählen Sie mir doch endlich, warum dieser Lord ermordet wurde«, verlangte Renate. »Monsieur Aono weiß es auch nicht, stimmt’s?« wandte sie sich an den Japaner, der abseits stand.
Der Japaner lächelte nur mit den Lippen und verbeugte sich. Der Russe tat, als applaudiere er.
»Bravo, Madame Kleber. Sie fragen genau auf den Punkt. Ich habe den Fall in der Presse verfolgt. Das Motiv für das Verbrechen ist meiner Meinung nach hier w-wichtiger als alles andere. Da liegt der Schlüssel für die Lösung. Ja, warum? Zu welchem Zweck wurden zehn Menschen ermordet?«
»Ach, grade das ist einfach!« sagte Miss Stomp. »Der Plan war, die wertvollsten Stücke der Sammlung zu rauben, aber der Verbrecher verlor die Nerven, als er unvermittelt auf den Hausherrn traf. Er hatte ja angenommen, der Lord wäre verreist. Es ist wohl ein Unterschied, ob man jemandem eine Spritze gibt oder ob man ihm den Schädel einschlägt. Aber das weiß ich nicht, ich habe es noch nie versucht.« Sie ruckte mit den Schultern. »Die Nerven des Verbrechers haben nachgegeben, und so hat er die Sache nicht zu Ende geführt. Und was den weggeworfenen Schiwa angeht …« Miss Stomp überlegte. »Vielleicht ist das der schwere Gegenstand, mit welchem dem armen Littleby der Kopf zerschmettert wurde. Es ist durchaus denkbar, daß dem Verbrecher menschliche Gefühle nicht fremd waren und er sich einfach ekelte, vielleicht auch fürchtete, das blutbespritzte Mordwerkzeug in der Hand zu halten. Darum ging er zum Fluß und warf den Schiwa in die Seine.«
»Das mit dem Mordwerkzeug ist sehr wahrscheinlich«, bemerkte der Diplomat. »Ich bin der gleichen M-meinung.«
Die alte Jungfer erglühte vor Freude, wurde jedoch gleich darauf verlegen, als sie Renates spöttischen Blick auffing.
»You are saying outrageous things«, sagte die Frau des Doktors vorwurfsvoll zu Clarissa Stomp, nachdem sie die Übersetzung angehört hatte. »Shouldn’t we find a more suitable subject for table talk?«1
Aber der Appell der farblosen Person verhallte ungehört.
»Ich meine, am rätselhaftesten ist der Tod der Bediensteten!« mischte sich der langschlaksige Indologe in die kriminalistische Diskussion. »Wieso haben die sich die Injektionen geben lassen? Unter ihnen waren immerhin zwei Wächter, und beide hatten einen Revolver umgeschnallt. Da liegt der Hund begraben.«
»Ich habe meine eigene Hypothese«, sagte Regnier mit wichtiger Miene. »Und ich bin bereit, sie wo auch immer zu vertreten. Das Verbrechen in der Rue de Grenelle wurde von einem Menschen verübt, der außergewöhnliche mesmeristische Fähigkeiten besitzt. Die Bediensteten befanden sich in mesmeristischer Trance, das ist die einzig mögliche Erklärung! Der ›tierische Magnetismus‹ ist eine furchtbare Kraft. Ein erfahrener Manipulator kann mit Ihnen machen, was er will. Jaja, Madame«, wandte er sich an die ungläubig guckende Mrs. Truffo. »Wirklich alles.«
»Not if he is dealing with a lady«2, antwortete sie streng.
Der vom Dolmetschen strapazierte Dr. Truffo wischte sich mit dem Taschentuch die schweißnasse Stirn und trat zur Verteidigung der wissenschaftlichen Weltanschauung an.
»Ich erlaube mir, anderer Meinung zu sein«, sagte er auf französisch mit starkem Akzent. »Die Lehre des Herrn Mesmer gilt seit langem als wissenschaftlich unbegründet. Die Kraft des Mesmerismus oder, wie er jetzt genannt wird, der Hypnose, wird stark übertrieben. Der angesehene Mister James Braid hat überzeugend nachgewiesen, daß nur psychologisch beeinflußbare Individuen der hypnotischen Einwirkung erliegen, und auch nur dann, wenn sie dem Hypnotiseur vertrauen und einer hypnotischen Seance zustimmen.«
»Man merkt sofort, daß Sie noch nicht den Orient bereist haben, lieber Doktor!« Regnier lächelte mit weißen Zähnen. »Auf jedem indischen Basar zeigt Ihnen ein Fakir solche Wunder der mesmeristischen Kunst, daß selbst dem ärgsten Skeptiker die Augen übergehen. Aber das sind Tricks! In Kandahar habe ich einmal einer öffentlichen Exekution zugeschaut. Nach muselmanischem Gesetz wird Diebstahl mit dem Abhacken der rechten Hand geahndet. Diese Prozedur ist dermaßen schmerzhaft, daß die Delinquenten häufig am Schmerzschock sterben. Diesmal wurde ein Kind des Diebstahls überführt. Da der Junge zum zweitenmal erwischt worden war, mußte das Gericht ihm die von der Scharia vorgesehene Strafe auferlegen. Aber der Richter war barmherzig, er ließ einen Derwisch holen, der für seine wundertätigen Fähigkeiten berühmt war. Der Derwisch faßte den Verurteilten bei den Schläfen, sah ihm in die Augen, flüsterte etwas – und der Junge beruhigte sich, hörte auf zu zittern. Auf seinem Gesicht erschien ein sonderbares Lächeln, das nicht einmal in dem Moment verschwand, als der Henker ihm mit der Axt die Hand bis zum Ellbogen abhackte! Das habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen, ich schwöre es Ihnen!«
»Pfui, wie scheußlich!« rief Renate aufgebracht. »Sie mit Ihrem Orient, Charles! Mir wird gleich schlecht!«
»Verzeihen Sie, Madame Kleber«, rief der Leutnant erschrocken. »Ich wollte nur zeigen, daß verglichen damit irgendwelche Injektionen reine Lappalien sind.«
»Ich erlaube mir schon wieder, anderer Meinung zu sein als Sie.« Der dickköpfige Doktor wollte seinen Standpunkt vertreten, aber in diesem Moment öffnete sich die Tür des Salons, und herein kam der Rentier oder Polizist, kurzum, Monsieur Coche.
Alle wandten sich ihm zu, mit einer gewissen Verlegenheit, als wären sie bei einer nicht ganz anständigen Beschäftigung ertappt worden.
Coche überflog mit scharfem Blick die Gesichter, sah den Zeitungsausschnitt in der Hand des Diplomaten und verfinsterte sich.
»Da ist er also … Das hatte ich befürchtet.«
Renate trat zu dem Alten mit dem grauen Schnauzbart, musterte seine massige Gestalt ungläubig von Kopf bis Fuß und schoß heraus: »Monsieur Coche, sind Sie wirklich Polizist?«
»Derselbe Kommissar, der in dem ›V-verbrechen des Jahrhunderts‹ ermittelt?« präzisierte Fandorin (richtig, so heißt der russische Diplomat, erinnerte sich Renate). »Wie erklären Sie dann Ihre Maskerade und überhaupt Ihre A-anwesenheit an Bord?«
Coche schnaufte ein wenig, zog die Augenbrauen hoch, griff nach der Pfeife. Man sah förmlich, wie sein Gehirn arbeitete und nach einem Ausweg suchte.
»Nehmen Sie Platz, meine Damen und Herren«, sagte er in nachdrücklichem Baß und verschloß mit einer Schlüsseldrehung hinter sich die Tür. »Wenn es schon so gekommen ist, lassen Sie uns mit offenen Karten spielen. Bitte Platz zu nehmen, sonst passiert es noch, daß dem einen oder anderen die Beine einknicken.«
»Was sollen die Scherze?« sagte der Leutnant verdrossen. »Mit welchem Recht kommandieren Sie uns herum, noch dazu in Anwesenheit des Ersten Offiziers?«
»Das, junger Mann, wird Ihnen der Kapitän persönlich erklären«, sagte Coche mit einem feindseligen Blick. »Er ist im Bilde.«
Regnier gab klein bei und nahm mit den anderen wieder am Tisch Platz.
Der geschwätzige und einfältige Knurrer, als den Renate den Pariser Rentier angesehen hatte, legte ein ganz neues Verhalten an den Tag. Die Schultern zeigten straffe Haltung, die Gesten wurden herrisch, die Augen bekamen einen harten Glanz. Mit welcher Gelassenheit und Selbstsicherheit er die Pause in die Länge zog, allein das sagte viel aus. Sein durchdringender Blick haftete der Reihe nach auf allen Anwesenden, und Renate sah, daß mehrere sich unter diesem schweren Blick duckten. Ihr selbst, das gestand sie sich ein, war auch ein bißchen unheimlich, doch dann schüttelte sie unbekümmert den Kopf: Ja, er war Polizeikommissar, na und? Trotzdem blieb er ein korpulenter, kurzatmiger alter Zausel, mehr nicht.
»Spannen Sie uns nicht auf die Folter, Monsieur Coche«, sagte sie spöttisch. »Ich darf mich nicht aufregen.«
»Grund zum Aufregen hat hier wohl nur einer der Anwesenden«, antwortete er geheimnisvoll. »Aber davon später. Zunächst erlauben Sie mir, mich noch einmal vorzustellen. Ja, ich heiße Gustave Coche, aber Rentier bin ich leider noch nicht. Ja, meine Damen und Herren, ich bin Kommissar der Pariser Kriminalpolizei und gehöre zu der Abteilung, die sich mit schweren und verworrenen Verbrechen beschäftigt. Ich bin ›Ermittlungsführer in besonders wichtigen Fällen‹.«
Im Salon herrschte Grabesstille, unterbrochen lediglich vom hastigen Flüstern des Arztes.
»What a scandal!« piepste Mrs. Truffo.
»Ich war gezwungen, diese Reise mitzumachen, noch dazu incognito, denn …« Coche sog heftig an seiner halberloschenen Pfeife, »denn die Pariser Polizei hat triftige Gründe anzunehmen, daß die Person, die das Verbrechen in der Rue de Grenelle verübte, sich an Bord der ›Leviathan‹ befindet.«
Durch den Salon wehte ein allgemeines »Ach!«.
»Ich vermute, Sie haben über diesen in vieler Hinsicht geheimnisvollen Fall bereits gesprochen.« Der Kommissar wies mit seinem Doppelkinn auf den Zeitungsausschnitt, den Fandorin nach wie vor in der Hand hielt. »Aber das ist noch nicht alles, meine Damen und Herren. Ich weiß zuverlässig, daß der Mörder in der ersten Klasse reist.« (Wieder ein kollektiver Seufzer.) »Mehr noch, er befindet sich in diesem Moment hier im Salon«, schloß Coche munter, setzte sich in einen Atlassessel am Fenster und faltete erwartungsvoll die Finger etwas unterhalb der silbernen Uhrkette.
»Unmöglich!« schrie Renate und griff unwillkürlich mit beiden Händen nach ihrem Bauch.
Leutnant Regnier sprang auf.
Der rothaarige Baronet lachte schallend und applaudierte demonstrativ.
Professor Sweetchild schluckte krampfhaft und nahm die Brille ab.
Clarissa Stomp erstarrte, die Finger auf der Achatbrosche ihres Krägelchens.
Im Gesicht des Japaners zuckte kein Muskel, aber das höfliche Lächeln gerann.
Der Doktor faßte seine Ehehälfte am Ellbogen und vergaß, ihr das Wichtigste zu übersetzen, aber Mrs. Truffo hatte, nach ihren hervorquellenden Augen zu urteilen, von selber begriffen.
Der Diplomat fragte halblaut: »Beweise?«
»Meine Anwesenheit«, antwortete der Kommissar ungerührt. »Das genügt. Es gibt auch andere Erwägungen, aber das brauchen Sie nicht zu wissen … Nun ja.« Die Stimme des Polizisten klang enttäuscht. »Ich sehe, niemand fällt in Ohnmacht, niemand ruft: ›Verhaften Sie mich, ich bin der Mörder!‹ Damit habe ich natürlich auch nicht gerechnet. Also dann.« Er hob drohend den kurzen Zeigefinger. »Sie dürfen mit keinem der anderen Passagiere darüber sprechen. Das läge auch gar nicht in Ihrem Interesse – das Gerücht würde sich im Nu verbreiten, und man würde Sie ansehen, als hätten Sie die Pest. Versuchen Sie nicht, in einen anderen Salon zu wechseln, das würde nur meinen Verdacht verstärken. Es würde auch nicht klappen, denn ich habe eine Absprache mit dem Kapitän.«
Renate lispelte mit zitternder Stimme: »Lieber Monsieur Coche, können Sie nicht wenigstens mich von diesem Alpdruck befreien? Ich habe Angst, mit einem Mörder an einem Tisch zu sitzen. Womöglich tut er mir Gift in den Tee? Ich kriege ja keinen Bissen mehr herunter. Außerdem darf ich mich nicht aufregen. Ich werde mit niemandem darüber sprechen, mein Ehrenwort!«
»Tut mir leid, Madame Kleber«, antwortete der Kommissar mürrisch, »aber ich kann keine Ausnahme machen. Ich habe gute Gründe, jeden der Anwesenden zu verdächtigen, und nicht zuletzt Sie.«
Renate sank mit schwachem Stöhnen gegen die Stuhllehne. Leutnant Regnier stampfte verärgert mit dem Fuß auf.
»Was erlauben Sie sich, Herr Kommissar! Ich werde das sofort Kapitän Cliff melden!«
»Tun Sie das«, sagte Coche gleichmütig. »Aber nicht sofort, erst etwas später. Ich bin mit meiner kleinen Rede noch nicht fertig. Also, noch weiß ich nicht, wer von Ihnen mein Kunde ist, obwohl ich dem Ziel schon sehr nahe bin.«
Renate hatte erwartet, diesen Worten werde ein vielsagender Blick folgen, und saß vorgebeugt, doch nein, der Kommissar guckte nur auf seine dämliche Pfeife. Wahrscheinlich hatte er geflunkert und war einstweilen niemandem auf der Spur.
»Sie verdächtigen eine Frau, das spürt man doch!« rief Miss Stomp nervös. »Weshalb sonst tragen Sie die Notiz über eine Marie Sansfond bei sich? Wer ist diese Marie Sansfond? Doch wer auch immer! Was für eine Dummheit, eine Frau zu verdächtigen! Ist eine Frau zu solcher Bestialität fähig?«
Mrs. Truffo stand hektisch auf, sichtlich bereit, unter das Banner der weiblichen Solidarität zu treten.
»Über Mademoiselle Sansfond reden wir ein anderes Mal«, antwortete der Kommissar und maß Clarissa Stomp mit einem rätselhaften Blick. »Solche Notizen habe ich en masse bei mir, und jede enthält eine eigene Version.« Er schlug seine Mappe auf und raschelte mit Zeitungsausschnitten. Es waren in der Tat mehr als ein Dutzend. »Und nun Schluß, meine Damen und Herren, ich bitte, mich nicht mehr zu unterbrechen!« Seine Stimme klang eisern. »Ja, unter uns ist ein gefährlicher Verbrecher. Möglicherweise ein Psychopath.« (Renate sah Professor Sweetchild mit seinem Stuhl sacht von Milford-Stokes wegrücken.) »Darum bitte ich Sie alle, Vorsicht walten zu lassen. Wenn Sie etwas Ungewöhnliches wahrnehmen, selbst eine Kleinigkeit – gleich zu mir. Am besten wäre natürlich, wenn der Mörder aufrichtig bereute, er kann ja sowieso nicht weg. Das wäre alles.«
Mrs. Truffo hob wie ein Schulkind die Hand.
»In fact, I have seen something extraordinary only yesterday! A charcoal-black face, definitely inhuman, looked at me from the outside while I was in our cabine! I was so scared!« Sie drehte sich zu ihrem Ehegespons um und stieß ihn mit dem Ellbogen an. »I told you, but you paid no attention.«3
»Ach«, sagte Renate auffahrend, »mir ist gestern aus dem Necessaire ein kleiner Spiegel mit echtem Schildpattrahmen weggekommen.«
Der Psychopath wollte offenbar auch etwas sagen, aber der Kommissar klappte ärgerlich die Mappe zu.
»Halten Sie mich gefälligst nicht für einen Idioten! Gustave Coche ist ein alter Spürhund, den bringt man nicht von seiner Spur ab. Wenn nötig, setzen wir die ganze ehrenwerte Gesellschaft an Land und nehmen uns jeden einzeln vor! Zehn Menschen sind getötet worden, das ist kein Spaß! Denken Sie nach, meine Damen und Herren, denken Sie nach!«
Er verließ den Salon und knallte die Tür hinter sich zu.
»Meine Herrschaften, mir ist schlecht«, hauchte Renate. »Ich gehe in meine Kabine.«
»Ich begleite Sie, Madame Kleber«, sagte Charles Regnier und eilte zu ihr. »Das ist unerhört! Was für eine Frechheit!«
Renate schob ihn weg.
»Nicht nötig, danke. Ich schaff ’s schon.«
Unsicheren Schritts durchquerte sie den Raum, lehnte sich bei der Tür für einen Moment an die Wand. Im menschenleeren Korridor beschleunigte sie den Schritt. Sie öffnete die Tür ihrer Kabine, holte unter dem Sofa ihre Reisetasche hervor und schob die zitternde Hand unter das Seidenfutter. Ihr Gesicht war bleich, aber entschlossen. Ihre Finger ertasteten eine kleine Metallschachtel.
Darin blinkte Glas und Stahl – eine Spritze.