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26

Sorgfältig darauf bedacht, sie nicht zu wecken, streicht Galen Emma das Haar aus dem Gesicht. Ihre Wangen sind rosig vom Glanz des Sonnenaufgangs. Ihr Sommerkleid ist ruiniert. Der Atlantik hat Flecken darauf hinterlassen, die einem Gebirgszug ähneln. Sie hat den Saum zerrissen, als sie im Mondlicht Jagd auf ihren zweiten Schuh gemacht hat. Dann hat sie ihr Kleid wie einen Fächer ausgebreitet, damit er sich darauf legen konnte statt in den Sand. Und dort hat er die ganze Nacht verbracht. Genau das ist der Grund, warum ich nie jemanden gesichtet habe. Keine andere könnte so perfekt in meine Arme passen wie sie. Er beugt sich vor und streift mit seinen Lippen über ihre. Sie seufzt, als würde sie die Berührung spüren.

Hungrige Möwen kreischen in der Ferne auf der Jagd nach ihrem Frühstück. Die Wellen schwappen ans Ufer. Der Wind raschelt durch das Dünengras. Vielleicht wispert er ein Geheimnis, das nicht für seine Ohren bestimmt ist. Und Emma schläft. Das ist der Inbegriff von Frieden.

Die Definition wird durch Torafs Klingelton unterbrochen. Warum hat Rachel Toraf nur ein Handy besorgt? Hasst sie mich? Galen buddelt hinter sich im Sand herum und bekommt es genau in dem Moment zu fassen, als es aufhört. Er wartet fünf Sekunden und … yep, er ruft wieder an.

»Hallo?«, flüstert Galen.

»Galen, ich bin’s, Toraf.«

»Bist du dir sicher?«, prustet Galen.

»Rayna ist so weit. Wo seid ihr?«

Galen seufzt. »Wir sind am Strand. Emma schläft noch. In ein paar Minuten werden wir zurückgehen.« Emma hat sich letzte Nacht über ihre Mutter hinweggesetzt und sich wieder nicht an die vereinbarte Zeit gehalten, um bei ihm sein zu können. Groms Verbindungszeremonie findet morgen statt, und er erwartet, dass Galen und Rayna daran teilnehmen. Er wird Emma in Torafs Obhut lassen müssen, bis er zurückkommt.

»Tut mir leid, Hoheit. Ich hab dir gesagt, dass Rayna fertig ist. Ihr habt noch ungefähr zwei Minuten Privatsphäre. Sie ist auf dem Weg zu euch.« Die Leitung ist unterbrochen.

Galen beugt sich vor und fährt mit den Lippen über ihren süßen Hals. »Emma«, wispert er.

Sie seufzt. »Ich hab’s gehört«, stöhnt sie schläfrig. »Du solltest Toraf sagen, dass er nicht ins Telefon hineinbrüllen muss. Und wenn er es weiterhin tut, werde ich es versehentlich zerbrechen.«

Galen grinst. »Er wird den Bogen bald raushaben. Er ist kein Vollidiot.«

Bei diesen Worten öffnet Emma ein Auge.

Er zuckt die Achseln. »Na ja, drei viertel vielleicht. Aber kein kompletter Idiot.«

»Bist du dir sicher, dass du mich nicht mitnehmen willst?«, fragt sie, richtet sich auf und streckt sich.

»Du weißt, dass ich das will. Aber ich denke, diese Verbindungszeremonie wird schon interessant genug, ohne dass ich meine Halbblutfreundin vorstelle, meinst du nicht auch?«

Emma lacht und streicht sich ihr Haar auf eine Seite, um es über ihre Schulter zu drapieren. »Das ist das erste Mal, dass wir voneinander getrennt sein werden. Du weißt schon, als Paar. Wir gehen ja erst seit zwei Wochen wirklich miteinander. Was werde ich ohne dich machen?«

Er zieht sie an sich und lehnt ihren Rücken an seine Brust. »Also, ich hoffe, dass du mich diesmal nicht damit begrüßt, dass du Toraf küsst.«

Das Kichern neben ihnen verrät, dass ihre zwei Minuten Privatsphäre vorüber sind. »Yeah. Sonst wird nämlich jemand sterben«, sagt Rayna freundlich.

Galen hilft Emma auf und klopft den restlichen Sand von ihrem Sommerkleid. Er nimmt ihre Hand in seine. »Dürfte ich dich noch um eine Kleinigkeit bitten, ohne dass ihr alle sauer auf mich seid?«

Sie runzelt die Stirn. »Lass mich raten. Du willst nicht, dass ich ins Wasser gehe, solange du fort bist.«

»Aber ich befehle dir nicht, dem Wasser fernzubleiben. Ich bitte dich, nein, ich flehe dich an, ganz höflich und von ganzem Herzen, dass du nicht ins Wasser gehst. Es ist deine Entscheidung. Aber es würde mich zum glücklichsten Fischmann der Küste machen, wenn du es nicht tätest.« Sie spüren den unbekannten Verfolger jetzt beinahe täglich. Das und die Tatsache, dass Dr. Milligan seine Theorie, Emmas Dad sei ein Halbblut gewesen, zerlegt hat, machen Galen nervöser, als er sagen kann. Es bedeutet, dass sie immer noch keine Antworten auf die Frage haben, wer über Emma Bescheid wissen könnte. Oder warum der Betreffende in ihrer Nähe herumlungert.

Emma belohnt ihn mit einem atemberaubenden Lächeln. »Ich werde es nicht tun. Weil du darum gebeten hast.«

Toraf hat recht gehabt. Ich muss nur darum bitten. Er schüttelt den Kopf. »Jetzt kann ich heute Nacht ruhig schlafen.«

»Wenigstens einer von uns. Bleib nicht zu lange weg. Sonst setzt sich Mark in der Cafeteria neben mich.«

Er schneidet eine Grimasse. »Ich werde mich beeilen.« Er beugt sich vor, um sie zu küssen. Hinter ihnen hört er ein Schwappen, als Rayna ins Wasser geht.

»Sie schwimmt ohne dich los«, flüstert Emma auf seinen Lippen.

»Die hole ich sogar noch ein, wenn sie eine Stunde vor mir aufbricht. Auf Wiedersehen, Engelfisch. Sei brav.« Er gibt ihr einen kleinen Kuss auf die Stirn, dann nimmt er Anlauf und taucht ab.

Er vermisst sie jetzt schon.

Galen findet Grom genau dort, wo er nicht sein sollte – im Minenfeld. Stunden vor seiner Verbindungszeremonie trauert er noch immer um seine verlorene Liebe. Aber Galen ist der Letzte, der darüber urteilen würde. Sein Bruder verbindet sich mit einer Frau, die er nicht liebt – was es Galen ermöglicht, mit einer zusammen zu sein, die er liebt.

Grom begrüßt ihn mit einem gequälten Lächeln. »Ich bin noch nicht bereit dafür, kleiner Bruder«, gesteht er.

»Aber sicher bist du das«, lacht Galen und schlägt ihm auf den Rücken.

Grom schüttelt den Kopf. »Es fühlt sich … es fühlt sich so an, als würde ich sie betrügen. Nalia.«

Galen versteift sich. Oh. Er fühlt sich nicht in der Lage, Grom in dieser Stimmung aufzuheitern. »Ich bin mir sicher, sie würde es verstehen«, meint er.

Grom mustert ihn nachdenklich. »Das würde ich gern glauben. Aber du hast Nalia nicht gekannt. Sie hatte ein erstaunliches Temperament.« Er stößt ein leises Lachen aus. »Ich sehe immer wieder über meine Schulter und warte darauf, dass sie mir eins mit dem Knüppel überzieht, weil ich mich mit jemand anderem verbinden werde.«

Galen runzelt die Stirn, unsicher, was er erwidern soll.

Grom kichert. »Ich mache natürlich nur Witze.« Dann zuckt er die Achseln. »Na ja, es ist zumindest ein halber Witz. Ich schwöre, ich habe sie in letzter Zeit gespürt, Galen. Es fühlt sich so echt an. Es verlangt mir alles ab, diesem Puls nicht zu folgen. Denkst du, ich verliere den Verstand?«

Galen schüttelt pflichtbewusst den Kopf. Obwohl er insgeheim daran zweifelt. »Ich glaube, du fühlst dich einfach schuldig. Ähm … nicht, dass du einen Grund dafür hättest. Äh, es ist ganz natürlich, dass du vor deiner Verbindungszeremonie so empfindest. Die Nerven und das alles.« Galen streicht sich mit der Hand durchs Haar. »Tut mir leid. Ich bin nicht besonders gut bei so was.«

»So was? In Sachen Reife?« Grom grinst.

»Sehr witzig.«

»Vielleicht solltest du etwas mehr Zeit an Land verbringen und dann zurückkommen und mit mir reden. Der Aufenthalt an Land lässt dich altern. Könnte dir guttun.«

Galen schnaubt. Was du nicht sagst. »Hab davon gehört.«

Wie aus dem Nichts packt Grom Galens Gesicht und lässt ihn nicht mehr los. Galen hasst es, wenn er das tut. »Lass mich dein süßes kleines Gesicht sehen, kleiner Fisch. Yep, genau wie ich es mir gedacht habe. Deine Augen werden blau. Wie viel Zeit hast du an Land verbracht? Bitte, sag mir, dass du dich nicht Flosse über Kopf in einen Menschen verliebt hast!« Dann lacht er und lässt ihn genauso unvermittelt wieder los.

Galen starrt ihn an. »Was meinst du damit?«

»Ich mach doch nur Spaß, kleiner Fisch. Wollte dich ein bisschen ärgern.«

»Ich weiß, aber … warum hast du gesagt, dass meine Augen blau werden? Was hat das mit den Menschen zu tun?«

Grom wedelt abschätzig mit der Hand. »Vergiss es. Ich glaube, du bist im Moment vielleicht noch angespannter als ich. Ich habe doch gesagt, dass ich dich nur aufgezogen habe.«

»Grom, wenn es etwas mit den Menschen zu tun hat, muss ich es wissen. Ich bin Botschafter. Du hältst mich davon ab, meine Arbeit zu tun.« Galens Stimme ist ruhiger, als er sich fühlt. Er erinnert sich an das Wandgemälde in Tartessos. An die Syrena, deren Augen blau aussahen und nicht violett.

»Bei Tritons Dreizack, Galen. Das hat nichts mit deiner Verantwortung als Botschafter zu tun. Es ist einfach ein Ammenmärchen. Tatsächlich bin ich überrascht, dass du es noch nie gehört hast.«

Galen verschränkt die Arme vor der Brust. »Tja, ich kenne es nicht.«

Grom verdreht die Augen. »Du hast recht. Du bist bei so was nicht besonders gut. Die Legende besagt, dass unsere Augen blau werden, wenn wir zu viel Zeit an Land verbringen. Es ist einfach nur ein Mythos, kleiner Fisch. Beruhige dich. Deine Augen werden nicht blau.«

Vielleicht verbringe ich tatsächlich zu viel Zeit an Land. Ich weiß mehr über die Geschichte der Menschen als über die Geschichte der Syrena.

»Was treibt ihr beiden denn so?«, ruft eine weibliche Stimme hinter ihnen. Als sie sich umdrehen, erblicken sie Paca.

Galen zuckt innerlich zusammen. Sie dürfte gar nicht hier sein. Sie mag ja in wenigen Stunden Groms Gefährtin sein, aber dieser Ort ist heilig. Er sieht, wie sein Bruder sich neben ihm versteift. Dann spürt er Raynas Puls näher kommen. Jagens Puls ist dicht hinter ihr. Er hat das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt.

»Hallo, Paca«, sagt Galen höflich. »Wir wollten gerade zu dir gehen, nicht wahr, Grom?« Paca ist nicht hässlich, aber auch nicht hübsch. Gewöhnlich wäre ein gutes Wort, um sie zu beschreiben. Aber sie ist nicht nur gewöhnlich. Da ist etwas in ihren Augen, das sie wenig unschuldig und bescheiden erscheinen lässt. Wäre sie einfach nur gewöhnlich, könnte man sie bemitleiden. Aber Paca weckt bei Galen kein Mitleid.

»Ich hoffe, Ihr werdet Eure Schwester von mir loseisen«, sagt Paca kurz angebunden, als Rayna heranschwimmt. »Sie ist ziemlich grob.«

Galen wirft Rayna einen Blick zu, woraufhin sie das Kinn reckt. »Paca und ihr plumper Vater da drüben sind voller Walkot«, informiert Rayna ihre Brüder.

»Rayna«, fährt Grom sie an. »Wo sind deine Manieren!«

Rayna reckt ihr Kinn noch höher. Jetzt geht’s los. »Paca ist eine Betrügerin, Grom«, sagt sie. »Du kannst dich nicht mit ihr paaren. Tut mir leid, dass ich dir deine Zeremonie ruiniere. Lass uns gehen, Galen.«

Paca macht ein zischendes Geräusch, als Jagen zu der Gruppe geschwommen kommt und vor Zorn beinahe stottert. »Ihr seid … Ihr seid ein kleiner … Steinfisch! Wie könnt Ihr es wagen, meine Tochter zu beleidigen?«

Galen packt Rayna am Arm. »Was hast du angerichtet?«, zischt er.

Sie entwindet ihm ihren Arm und sieht ihn von oben herab an. »Wenn Paca die Gabe von Poseidon hat, habe ich die Gabe von Triton. Aber fragt mich nicht, was es ist. Ich habe keine Ahnung.«

»Rayna, das genügt!«, ruft Grom und packt ihren anderen Arm. »Entschuldige dich. Auf der Stelle.«

»Wofür soll ich mich entschuldigen? Dass ich die Wahrheit gesagt habe? Tut mir leid, das sehe ich nicht ein.« Sie zuckt die Achseln, aber sie entwindet sich Groms Griff nicht.

»Wie könnt Ihr behaupten, sie sei eine Betrügerin? Sie hat Euch doch gerade ihre Gabe gezeigt!«, sagt Jagen und fährt ungehalten mit der Hand durchs Wasser.

Rayna schnaubt. »Galen hat sie die Gabe nicht gezeigt. Galen, hast du gesehen, wie sie ihre Gabe unter Beweis gestellt hat? Lass sie dir zeigen.« Sie dreht sich zu Paca um. »Hast du gehört, was ich gesagt habe, Prinzessin Ich-betrüge-und-fresse-Walkot? Zeig meinem Bruder deine jämmerliche Gabe.«

In Pacas Augen blitzt Mordlust. Sie sieht Grom an. »Unternimm irgendwas gegen deine Schwester. Willst du ihr das wirklich durchgehen lassen? Sie hat mich vor deiner Nase beleidigt. Ist es das, was ich erwarten kann, wenn ich mit dir verbunden bin?«

Rayna lacht. »Darauf kannst du deinen süßen …«

»Rayna!«, fährt Galen dazwischen. »Genug!«

Sie verdreht die Augen, sagt aber nichts mehr. Galen dreht sich zu Paca um. Er versucht, bedauernd zu klingen, als er sagt: »Bitte, entschuldige meine Schwester und ihren Mangel an …«

»Gesundem Verstand?«, schlägt Paca eisig vor.

Galen lächelt. Sozusagen. »Paca, natürlich würde ich liebend gern sehen, wie du die Gabe von Poseidon demonstrierst. Würdest du so freundlich sein, sie mir zu zeigen? Wir haben ganz erstaunliche Dinge von Toraf gehört.«

Das scheint Paca und Jagen zu besänftigen. Ein wenig. Grom lockert sogar den Griff um Raynas Arm.

Paca verbeugt sich tief, zum Zeichen ihres großen Respekts vor Galen. Er kann sich nur mit Mühe beherrschen, die Augen nicht zu verdrehen. »Natürlich, junger Prinz. Bitte, folgt mir.« Sie führt sie ein beträchtliches Stück von dem Minenfeld weg, was Galen überrascht.

Sie kommen an den unterschiedlichsten Fischen vorbei, an denen sie ihre Gabe hätte demonstrieren können. Mit jedem weiteren Fisch, den sie hinter sich lassen, wird Raynas Miene noch selbstgefälliger, falls das überhaupt möglich ist.

»Was ist in dich gefahren?«, flüstert Galen so, dass nur sie es hören kann.

Sie zwinkert ihm zu. »Du wirst schon sehen«, formt sie mit den Lippen.

Sie schwimmen so weit, dass sie die Felsbank erreichen, die in seichteres Gewässer führt. Es erscheint Galen als ziemlich großer Aufwand für eine kleine Vorführung, aber er lässt sich nichts anmerken, weil er nicht will, dass Grom am Tag seiner Verbindungszeremonie so finster dreinblickt.

»Paca, könntest du mit der Vorführung anfangen? Wir müssen bald zurück; du willst doch nicht alle auf die Zeremonie warten lassen«, schlägt Galen vor.

»Wir sind fast da«, ruft Paca über ihre Schulter hinweg. Galen sieht Rayna an, aber sie erwidert seinen Blick nicht. Sie lächelt nur vor sich hin, als hätte sie wirklich den Verstand verloren.

Als sie nach der Felsbank das seichte Wasser erreichen, hält Paca inne. Endlich. »Nur einen Moment«, murmelt sie. »Ich werde sie rufen.«

Sie schießt an die Oberfläche empor.

Galen sieht Jagen an. »Wen rufen?«

Jagen lächelt. »Die Delfine, junger Prinz.«

Rayna weigert sich immer noch, Blickkontakt mit Galen herzustellen, daher kann er nichts weiter tun, als – ungeduldig – darauf zu warten, dass Paca mit ihrer Delfinschule zurückkehrt. Nach einigen Minuten kommt sie mit drei Delfinen an ihrer Seite wieder.

»Ich kann sie dazu bringen, aus dem Wasser zu springen, in Kreisen zu schwimmen oder aufeinander zuzuschwimmen«, sagt sie zu Galen. »Sucht Euch etwas aus.«

Was? Er wirft Rayna einen ungläubig funkelnden Blick zu, den sie mit einem ihrer seltenen Lächeln beantwortet. Es ist so breit, dass sogar ihre Zähne aufblitzen.

»Grom sieht sie gern im Kreis schwimmen, meine Liebe«, sagt Jagen. »Warum lässt du sie das nicht tun? Unser junger Prinz kann sich offensichtlich nicht entscheiden.«

Paca dreht sich zu ihren Delfin-Freunden um und sagt: »Kreise!« Dann zeichnet sie riesige Kreise mit den Händen, immer und immer wieder. Und die Delfine gehorchen.

Galen hält die Luft an. Oh nein. Handzeichen. Sie gibt Handzeichen wie die Trainer im Gulfarium. Rayna muss das wiedererkannt haben.

Jagen hält Galens Reaktion anscheinend für Ehrfurcht. »Es ist ganz erstaunlich, nicht wahr, mein Prinz?«, meint er mit einem vielsagenden Lächeln.

»Sehr«, stößt er hervor. Er räuspert sich. »Paca, was ist mit diesen Flundern hier auf dem Grund? Was kannst du sie tun lassen?«

Paca schmollt. »Ich dachte, Ihr wolltet die Delfine sehen.«

»Du hast deine Sache mit ihnen gut gemacht. Sehr gut sogar. Aber ich würde auch gern sehen, wie die Flundern etwas Lustiges tun. Kannst du sie auch in Kreisen schwimmen lassen?«

»Mein Prinz, so funktioniert die Gabe von Poseidon nicht«, wirft Jagen ein. »Sie ist begrenzt auf gewisse …«

»Lügner!«, brüllt Rayna und lässt damit alle zusammenzucken. Die Delfine werden nervös und flitzen davon.

»Rayna«, grollt Grom.

»Au«, heult sie. »Du tust mir weh.«

Galen seufzt, während sein Mut sinkt. »Lass sie los, Grom. Sie sagt die Wahrheit. Paca besitzt die Gabe von Poseidon nicht.« Grom lässt sie los und starrt seinen Bruder finster an. Rayna bringt sich hinter Galens Rücken in Sicherheit.

»Erzähl mir bloß nicht, dass sie dich überredet hat, ihr kleines Spielchen mitzuspielen«, sagt Grom zu ihm.

»Das ist ungeheuerlich!«, brüllt Jagen. »Grom, Ihr müsst Eure Geschwister unter Kontrolle bekommen, bevor ich es selbst tue.«

Galen verdreht die Augen. Jagen ist über hundertfünfzig Jahre alt. Wenn er mit ihm raufen will, kann er gerne herkommen. »Grom, die Gabe von Poseidon ist nicht auf ein paar Fischarten begrenzt. Die Gabe war dazu bestimmt, uns alle mit Nahrung zu versorgen. Was ist mit der Höhle der Erinnerungen? So tief unten gibt es keine Delfine. Wie würde sie denn die Archive ernähren, wenn es notwendig wäre?«

Grom verschränkt mit versteinerter Miene die Arme vor der Brust. »Ich denke, du solltest besser zu denen gehen, die du am besten kennst, kleiner Bruder. Zu den Menschen. Und nimm deine Schwester mit. Ich kann sie nicht mehr sehen.«

»Was?«, fragt Galen und schwimmt näher an seinen Bruder heran. »Du schickst mich fort?«

»Ihr beide habt für heute genug Unfrieden gestiftet. Nach der Zeremonie werden wir ein langes Gespräch darüber führen.«

»Das ist es doch gerade, was wir dir zu erklären versuchen!«, ruft Rayna. »Es darf gar keine Zeremonie geben

»Rayna«, murmelt Galen sanft. »Ich regele das. Bitte.«

»Nein, das wirst du nicht, Galen«, widerspricht Grom. »Du hast meine zukünftige Königin beleidigt – deine zukünftige Königin –, und das alles wegen deiner eigenen engstirnigen Meinung.«

»Meine Meinung?«, wiederholt Galen zornig.

»Achte auf deinen Ton, Bruder. Zwing mich nicht dazu, dich zu verstoßen. Es handelt sich schließlich nur um deine Meinung, es sei denn, du kannst das Gegenteil beweisen. Aber es gibt keinen Beweis dafür, dass Paca die Gabe von Poseidon nicht besitzt.«

Mich verstoßen? »Sie benutzt ihre Hände!«, ruft Galen. »Sie hat diese Delfine trainiert, auf ihre Handzeichen zu reagieren. Die wahre Gabe von Poseidon wird allein durch die Stimme übertragen.«

Grom zieht eine Augenbraue hoch. »Wirklich? Kannst du das beweisen?«

Galen öffnet den Mund, dann schließt er ihn wieder. Nicht ohne Emma. »Nun …«

»Nein, er kann es nicht beweisen«, platzt Rayna dazwischen. Sie weigert sich, Galen anzusehen, obwohl sie seinen zwingenden Blick spürt. Was hat sie vor?

Sie schwimmt zu ihm herüber. »Er wird dir nie glauben, was Emma betrifft, Galen«, flüstert sie. »Erzähl es ihm gar nicht erst. Er wird die Zeremonie nicht hinauszögern und darauf warten, dass du sie holst. Sieh ihn dir an. Er hat seine Entscheidung getroffen.«

»Ich weiß, dass er es nicht beweisen kann«, knurrt Grom. »Und wenn er es könnte, dann hätte er uns allen früher davon erzählen sollen. Jetzt ist es ein wenig spät, um sich einzumischen. Meinst du nicht auch?«

»Warum tust du das? Warum bist du so dickköpfig?«, fragt Galen. »Wegen Nalia? Wenn du dir eine Gefährtin nimmst, wirst du sie deshalb noch lange nicht vergessen. Ich hoffe nicht, dass es das ist, was du im Sinn hast.«

Jetzt ist es Rayna, die die Luft anhält. Galen hat eine Grenze überschritten, aber es ist ihm egal. Grom ist unvernünftig. Grom ist nicht der Grom, den er kennt.

Grom versteift sich und wird kalt wie ein Eisberg. »Geht. Alle beide. Sofort.«

»Das war’s dann also?«, fragt Galen und verschränkt die Hände hinterm Kopf. »Wir sind verstoßen?«

Grom nickt langsam.

»Lass uns gehen, Rayna«, sagt Galen, ohne den Blick von Grom abzuwenden. »Lass uns nach Hause gehen.«

Als sie das Ufer erreichen, ist Galen erschöpft. Er hatte es so eilig, Emma zu sehen, dass er Rayna den ganzen Weg nach Hause auf dem Rücken getragen hat, um schneller voranzukommen. Er angelt nach der Badehose, die er unter einem Fels versteckt hat, und zieht sie an, während Rayna ein paar Meter weiter in ihren Bikini schlüpft.

Da er weder Emma noch Toraf im Wasser gespürt hat, geht er zum Haus und hofft wider alle Vernunft, dass Emma dort auf ihn wartet. Sie ist nicht da. Aber Toraf. Und er wirkt nicht gerade glücklich.

»Wie ist es gelaufen? Wir müssen reden«, platzt Toraf heraus.

Galen hält abrupt inne. »Wo ist Emma? Geht es ihr gut?«

»Sie ist zu Hause bei ihrer Mom. Es geht ihr gut. Aber wir haben ein Problem.«

»Für den Fall, dass du es nicht bemerkt haben solltest, ich habe dich nicht unterbrochen«, sagt Galen, die Kiefer so fest aufeinandergepresst, als wären sie verriegelt. »Tu dir keinen Zwang an und rede weiter.«

Toraf ringt die Hände. »Du darfst dich nicht zu sehr aufregen.«

»Zu spät.«

»Na schön, dann reg dich auf. Aber ich habe es zu deinem eigenen Wohl getan.«

»Bei Tritons Dreizack, Toraf!«, brüllt Rayna. »Was hast du getan? Wir haben einen langen Tag hinter uns!«

Toraf stößt laut den Atem aus. »Ich habe Yudor gebeten, herzukommen und mir zu helfen. Ich habe ihm erklärt, dass ich entweder den Verfolger nicht erkannt habe oder dass ich den Puls des Verfolgers mit jemand anderem verwechselt habe. Mehr habe ich ihm nicht gesagt.«

»Du, was hast du getan?« Galen ballt die Fäuste.

Toraf hebt die Hände zum Zeichen, dass er sich ergibt. »Galen, er hat sie sofort erkannt.«

»Emma?«, haucht Galen. Das darf nicht wahr sein.

»Nein, die Verfolgerin.«

»Moment mal«, unterbricht Rayna ihn. »Verfolgerin?«

»Galen«, sagt Toraf. »Es ist Nalia. Yudor schwört bei Tritons Gedenken, dass sie es ist. Sie ist nicht tot. Er ist auf dem Weg zurück, um die Verbindungszeremonie zu verhindern.«

Nalia. Plötzlich fügt sich alles zusammen wie die Teile eines Puzzles.

Galen stürmt durchs Wohnzimmer und hinaus zum Strand, dicht gefolgt von Toraf und Rayna.

Die Lichter aus Emmas Haus schimmern auf den Gipfeln der davorliegenden Sanddünen. Das bedeutet für gewöhnlich, dass Emma und ihre Mutter beide zu Hause sind und in getrennten Räumen ihr jeweils eigenes Leben führen.

Galen rennt auf die gläserne Schiebetür zu und hämmert dagegen. Für gute Umgangsformen bleibt keine Zeit. Er gibt Rayna und Toraf ein Zeichen, zurückzubleiben. Rayna würde sich lieber ein Ohr abbeißen, als zu gehorchen, aber Toraf hält sie fest.

Emma kommt mit einem strahlenden Lächeln auf dem Gesicht zur Tür. »Hast du es aus einem bestimmten Grund so eilig?«, fragt sie, und ihre riesigen violetten Augen leuchten vor Aufregung.

»Er muss mich vermisst haben«, ruft Emmas Mom aus der Küche. Sie zwinkert Galen zu und ahnt noch nicht, dass ihre Welt gleich aus den Fugen geraten wird.

»Iiih, Mom«, sagt Emma. Sie reicht Galen ein Handtuch und schließt die Tür.

»Danke«, erwidert er. »Für das Handtuch, meine ich.«

»Stimmt irgendwas nicht?« Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, muss er genauso besorgt aussehen, wie er sich fühlt.

Er streicht mit dem Handrücken über ihre Wange. »Ich liebe dich. Mehr, als du weißt. Ganz gleich, was geschieht.«

Sie dreht den Kopf, um seine Hand zu küssen. »Oh-oh. Ganz gleich, was passiert? Das klingt ja düster, findest du nicht?«, flüstert sie. »Aber ganz gleich, wie düster es klingt, ich liebe dich auch. Gott, ich habe dich so sehr vermisst. Und es sind nur vierundzwanzig Stunden gewesen!«

Er beugt sich vor, um mit seinen Lippen über ihre zu streifen, und kostet ihre sanfte Haut aus. Normalerweise würde er sie aus Respekt nicht vor ihrer Mutter küssen, aber das gilt nicht für diesen Ausnahmezustand.

Er wird sich immer an diesen Moment erinnern. Den Moment, bevor sich alles veränderte. Er gibt ihr einen letzten Kuss, dann dreht er sich zur Küche um, wo Emmas Mutter Geschirr spült.

»Darf ich Ihnen helfen, Mrs McIntosh?«

Sie lächelt und schüttelt den Kopf. »Oh, das geht schon in Ordnung, Galen. Ich bin fast fertig. Außerdem bist du immer noch tropfnass.«

Trotzdem geht Galen auf das Spülbecken zu. Mit jedem Schritt, den er macht, reihen sich die bruchstückhaften Hinweise aneinander und fügen sich zu einem Bild zusammen.

Es war Zeitverschwendung, nach Emmas Dad zu forschen. Wie konnte ich so dumm sein?

Die Farben der Syrena, bis auf die blauen Augen. Blaue Augen ohne Kontaktlinsen, blaue Augen, zu denen die violetten im Laufe der Jahre an Land verblasst sind. Es ist keine Legende. Das Gemälde in Tartessos zeigt die Wahrheit. Und genau dieselben Jahre an Land sind für die grauen Strähnen in ihrem Haar verantwortlich – ein Zeichen der schnelleren Alterung.

Ihre unheimliche Angewohnheit, jedes Mal anzurufen, wenn der Verfolger aufgetaucht ist. Sie hat sie alle im Wasser gespürt und wollte sich davon überzeugen, dass Emma in Sicherheit war. Wenn Dr. Milligan recht hat und Emma erst vor Kurzem ihre Reife erlangt hat, hat sie sie vielleicht noch nie zuvor gespürt. Vielleicht weiß sie nicht einmal, welche Gabe Emma besitzt.

Gespürt. Grom schwört, dass er sie wieder gespürt hat. Könnte er sie wirklich nach all den Jahren und über eine solche Entfernung hinweg spüren? Vielleicht sind alle Mythen wahr. Vielleicht gibt es so etwas wie den Sog.

Egal, Sog hin, Sog her, sie hat das Gesetz gebrochen – und das Herz seines Bruders –, indem sie die ganze Zeit über an Land geblieben ist. Ganz zu schweigen von der breiten Kluft, die sie zwischen den beiden Königreichen geschaffen hat, als sie fortging. Sosehr er Emma liebt, Galen kann nicht über die Taten ihrer Mutter hinwegsehen.

Und er kann nicht zulassen, dass sich Grom mit der falschen Person verbindet.

Mrs McIntosh wirft ihm einen fragenden Blick zu, sagt aber nichts, als er sich neben sie stellt. Er taucht die Hände ins Spülwasser. Und spürt sie sofort. Die Verfolgerin. Der Ausdruck in ihren Augen, wie ihr der Kiefer nach unten klappt, als sie den Dreizack auf seinem Bauch entdeckt – mehr braucht er nicht an Bestätigung. »Du hast eine Menge zu erklären, Nalia.«