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3

Ich spritze Chloe so viel Wasser ins Gesicht, dass man damit einen kleinen Hausbrand löschen könnte. Ich will sie nicht ertränken, nur ihren Augäpfeln ein kleines Meersalzpeeling verpassen. Irgendwann glaubt sie, dass ich aufgehört habe, und öffnet die Augen – und den Mund. Großer Fehler. Die nächste Welle umspült ihr Rachenzäpfchen und schwappt bis in ihre Lunge, bevor sie schlucken kann. Sie würgt und hustet und reibt sich die Augen, als wäre sie mit Pfefferspray attackiert worden.

»Klasse, Emma! Jetzt habe ich nasse Haare!«, prustet sie. »Zufrieden?«

»Nein.«

»Ich habe mich entschuldigt.« Sie schnäuzt sich in die Hand und wäscht den Schnodder im Meer ab.

»Eklig. Und eine Entschuldigung reicht da nicht.«

»Na schön. Ich werde es wiedergutmachen. Was willst du?«

»Deinen Kopf unter Wasser drücken, bis ich mich besser fühle«, gebe ich zurück. Ich verschränke die Arme vor der Brust, was schwierig ist, wenn man auf einem Surfbrett sitzt, das im Kielwasser eines vorbeifahrenden Schnellboots hin und her schaukelt. Chloe weiß, dass es mich nervös macht, so weit draußen zu sein, aber mich festzuhalten, wäre ein Zeichen von Schwäche.

»Meinetwegen, weil ich dich liebe. Aber deswegen wirst du dich auch nicht besser fühlen.«

»Das werde ich erst mit Sicherheit wissen, wenn ich es versucht habe.« Ich halte Blickkontakt und richte mich ein wenig auf.

»Na schön. Aber du wirst immer noch wie ein Albino aussehen, wenn du mich wieder rauflässt.« Sie schaukelt das Brett und zwingt mich dazu, mich festzuhalten.

»Nimm deine schnoddrigen Pfoten vom Surfbrett. Und ich bin kein Albino. Nur weiß.« Eigentlich will ich meine Arme wieder verschränken, aber dann würden wir umkippen, und irgendwie ist es doch einfacher, meinen Stolz herunterzuschlucken als den Golf von Mexiko.

»Weißer als die meisten.« Sie grinst. »In meinem Bikini würden die Leute denken, du wärest nackt.« Ich lasse meinen Blick über ihren weißen String-Bikini wandern, der sich wunderschön von ihrer schokoladenbraunen Haut abhebt. Sie ertappt mich dabei und lacht.

»Na ja, vielleicht werde ich hier ja ein bisschen braun«, sage ich errötend. Ich spüre, wie ich einknicke, und ich hasse es. Nur dieses eine Mal will ich weiter wütend auf Chloe sein.

»Du meinst wohl, du holst dir hier einen Sonnenbrand. Apropos, hast du dich eingecremt?«

Ich schüttele den Kopf.

Sie schüttelt ebenfalls den Kopf und schnalzt mit der Zunge wie ihre Mutter. »Dachte ich mir. Wenn du es getan hättest, wärest du von der Brust dieses Jungen abgerutscht und nicht daran festgeklebt.«

»Ich weiß«, stöhne ich.

»Der heißeste Typ, den ich je gesehen habe«, sagt sie und fächelt sich Luft zu, um ihre Worte zu betonen.

»Ja, ich weiß. Ich bin mit ihm zusammengestoßen, erinnerst du dich? Ohne meinen Helm, weißt du noch?«

Sie lacht. »Ich trau mich gar nicht, es dir zu sagen, aber er starrt dich immer noch an. Er und seine total bescheuerte Schwester.«

»Halt. Den. Mund.«

Sie gackert. »Im Ernst, was denkst du, wer von den beiden würde einen Wettbewerb im Starren gewinnen? Ich wollte ihm schon vorschlagen, uns heute Abend in Baytowne zu treffen, aber vielleicht ist er einer von diesen anhänglichen Stalkern. Wirklich zu schade. In Baytowne gibt es eine Million kleiner, dunkler Ecken, in denen ihr zwei knutschen könntet …«

»Omeingott, Chloe, hör auf!«, kichere ich, und zugleich überläuft mich ein Schauer, als ich mir vorstelle, wie ich mit Galen im Village am Kai von Baytowne herumspaziere. Das Village ist ein verschlafenes, kleines Dorf voller Touristenläden mitten in einem Golfresort. Zumindest tagsüber. Aber nachts … dann erwacht die Clubszene und öffnet den sonnenverbrannten Partygästen, die mit ihren Daiquiris über das Kopfsteinpflaster schlendern, ihre Tore. Galen würde unter den funkelnden Lichtern großartig aussehen, selbst wenn er ein Hemd anhätte …

Chloe grinst. »A-ha. Daran hast du wohl auch schon gedacht, was?«

»Nein!«

»Hm-hm. Warum sind deine Wangen dann so rot wie Chilisoße?«

»M-mh!« Ich lache. Sie auch.

»Soll ich ihn fragen, ob er sich mit uns treffen will?«

Ich nicke. »Was denkst du, wie alt er ist?«

Sie zuckt die Achseln. »Nicht so furchtbar alt. Aber alt genug, dass es mit mir illegal wäre. Glück für ihn, dass du gerade achtzehn geworden … was zum … hast du mich gerade getreten?« Sie späht ins Wasser und fährt mit der Hand über die Oberfläche, als wolle sie etwas beiseitewischen, um besser sehen zu können. »Irgendetwas hat mich gerade gestoßen.«

Sie legt die Hände über die Augen, blinzelt und beugt sich so weit vor, dass ihr die nächste ordentliche Welle ans Kinn klatschen könnte. Beinahe hätte mich ihr konzentrierter Gesichtsausdruck überzeugt. Fast. Aber ich bin mit Chloe aufgewachsen – seit der dritten Klasse wohnt sie nebenan. Inzwischen habe ich mich an falsche Gummischlangen auf der Veranda, an Salz in der Zuckerdose und an Klarsichtfolie über dem Toilettensitz gewöhnt – na gut, genau genommen ist Mom diesen Streichen zum Opfer gefallen. Aber wie auch immer, Chloe liebt solchen Unsinn fast so sehr, wie sie das Laufen liebt. Und das hier ist definitiv ein Streich.

»Yep, ich habe dich getreten.« Ich verdrehe die Augen.

»Aber … aber so weit kommst du gar nicht, Emma. Meine Beine sind länger als deine und ich komme nicht an dich ran … da ist es wieder! Hast du es nicht gespürt?«

Ich habe es nicht gespürt, aber ich habe gesehen, wie ihr Bein gezuckt hat. Ich frage mich, wie lange sie das schon plant. Seit wir hier angekommen sind? Seit wir in Jersey ins Flugzeug gestiegen sind? Seit wir zwölf sind? »Ach komm, Chloe. Du musst dir schon was Besseres einfallen lassen, wenn …«

Ihr Schrei lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Ihre Augen quellen fast aus den Höhlen, und auf ihrer Stirn bilden sich Falten, die aussehen wie Treppenstufen. Sie packt ihren linken Oberschenkel und gräbt die Finger so tief hinein, dass einer ihrer falschen Nägel abplatzt.

»Hör auf damit, Chloe! Das ist nicht lustig!« Ich beiße mir auf die Unterlippe und versuche, weiterhin die Gleichgültige zu spielen.

Ein weiterer Nagel platzt ab. Sie streckt die Hand nach mir aus, greift aber ins Leere. Ihr Bein zuckt im Wasser hin und her, und sie schreit wieder, aber dieses Mal noch viel, viel schlimmer. Sie umklammert das Surfbrett mit beiden Händen, aber ihre Arme zittern zu heftig, um Halt zu finden. Echte Tränen vermischen sich auf ihrem Gesicht mit Salzwasser und Schweiß. Sie schluchzt so heftig, als könne sie sich nicht entscheiden, ob sie weinen oder wieder schreien will.

Jetzt bin ich überzeugt.

Ich schnelle nach vorn, packe ihren Unterarm und ziehe sie aufs Brett. Blut trübt das Wasser um uns herum. Als sie es sieht, stößt sie immer hektischere, beinahe unmenschliche Schreie aus. Ich verschränke meine Finger mit ihren, aber sie erwidert meinen Griff kaum.

»Halt dich an mir fest, Chloe! Zieh die Beine auf das Brett hoch!«

»Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein«, schluchzt sie erstickt. Sie zittert am ganzen Körper und klappert mit den Zähnen, als seien wir irgendwie im Arktischen Ozean gelandet.

Und dann sehe ich die Flosse. Unsere Hände verlieren einander. Ich schreie, als das Surfbrett kippt und Chloe weggerissen wird. Ihr Kreischen geht im Wasser unter, als sie in die Tiefe gezogen wird. Sie hinterlässt eine Blutspur und ist selbst nur noch ein Schatten, der sich immer tiefer hinabbewegt, immer weiter weg vom Licht, vom Sauerstoff. Von mir.

»Hai! Ein Hai! Hilfe! Helft uns doch! Haaaaaaaai!«

Ich rudere mit den Armen und schreie. Strampele mit den Beinen und schreie. Hüpfe auf dem Surfbrett auf und ab – und schreie und schreie und schreie. Ich rutsche ab, hieve das Brett in die Luft und schwenke es mit aller Kraft. Das Gewicht des Brettes drückt mich unter Wasser. Umgeben von Entsetzen und den Fluten bin ich für eine Sekunde wieder vier Jahre alt und ertrinke im Teich meiner Granny. Panik erfasst mich, ich versinke darin wie in aufgewühltem Schlick. Aber anders als damals verliere ich die Verbindung zur Realität nicht. Ich drifte nicht ab, ich erlaube meiner Fantasie nicht, die Oberhand zu gewinnen. Ich träume nicht von Seewölfen und Streifenbarschen, die mich an die Oberfläche ziehen. Die mich retten.

Vielleicht liegt es daran, dass ich älter bin, oder daran, dass das Leben eines anderen davon abhängt, dass ich Ruhe bewahre. Egal, woran es liegt, ich halte das Surfbrett umklammert, ziehe mich hoch und schlucke einen Teil der Welle, aus der ich auftauche. Das Salzwasser brennt noch in meiner wunden Kehle, als ich gierig die frische Luft einsauge.

Die Leute am Ufer sind nur noch Punkte, die sich wie Flöhe auf einem Hund bewegen. Niemand sieht mich. Weder die Sonnenanbeter noch die Schwimmer im seichten Wasser oder die Mamis, die mit ihren Kleinen auf Muscheljagd gehen. Es sind keine Boote in der Nähe, keine Jetskis. Nur Wasser, Himmel und die untergehende Sonne.

Mein Schluchzen verwandelt sich in einen Schluckauf, der meine Lunge beinahe bersten lässt. Niemand kann mich hören. Niemand kann mich sehen. Niemand kommt, um Chloe zu retten.

Ich stoße das Surfbrett von mir in Richtung Ufer. Wenn die Wellen es anspülen, wird vielleicht jemand bemerken, dass sein Besitzer fehlt. Vielleicht wird sich sogar jemand an die beiden Mädchen erinnern, die damit hinausgeschwommen sind. Und vielleicht wird dann jemand nach uns suchen.

Tief im Innern fühlt es sich so an, als würde mein Leben auf diesem glänzenden Surfbrett davontreiben. Als ich ins Wasser spähe, überkommt mich das Gefühl, dass Chloes Leben mit dieser blassen Blutspur wegtreibt, verschwimmt und mit jeder vorbeischwappenden Welle ein wenig schwächer wird. Meine Entscheidung steht fest.

Ich atme so tief ein, wie es meine Lunge erlaubt, ohne zu platzen. Und dann tauche ich ab.