12
Vom Fenstersitz beobachtet Galen, wie sich Emma im Fernsehsessel regt. Sie hat die ganze Nacht vor sich hin gemurmelt, aber wegen Torafs Geschnarche hat er nicht verstanden, was sie sagt. Sie sind lange aufgeblieben und Galen und Toraf haben abwechselnd ihre Fragen beantwortet. Wie haben sie sie gefunden? Wo leben sie? Wie viele von ihnen gibt es? Ihre Gefühle standen ihr ins Gesicht geschrieben, während ihr Ausdruck zwischen Überraschung, Faszination und Schock wechselte. Sie war überrascht, als er ihr erzählte, dass Dr. Milligan sie im Gulfarium entdeckt hat – die eigenartige Reaktion der Meerestiere erwähnte er nicht. Sie schien fasziniert, als er ihr erklärte, dass die meisten Syrena für alle Augen sichtbar auf dem Grund der Meere leben – natürlich wären sie für menschliche Augen nur sichtbar, wenn Menschen so tief tauchen könnten – und dass die königliche Familie in Felshöhlen wohnt. Gefesselt hat sie gelauscht, dass Poseidon und Triton Syrena aus Fleisch und Blut waren, die ersten Generäle ihrer Art, und nicht irgendwelche Götter, zu denen menschliche Legenden sie gemacht haben. Dann Entsetzen, als Toraf schätzte, dass sich die Bevölkerung beider Reiche zusammen auf über zwanzigtausend beläuft.
Galens Antworten wurden immer knapper, je mehr sie sich mit ihren Fragen dem eigentlichen Grund näherte, wegen dem er hergekommen ist – und wieder einmal war er seinem Instinkt dankbar, Rayna nichts zu erzählen. Er war – ist – nicht bereit, mit Emma über Grom zu sprechen. Selbst Toraf hat von der großen Frage abgelenkt, die sich hinter all den kleinen verbarg – warum? Emma hat die Verschwörung gewittert und manchmal dieselbe Frage auf verschiedene Arten gestellt. Nach einer Weile konnte er von ihrem Gesichtsausdruck ablesen, dass sie sich geschlagen gab und das meiste einfach hinnahm. Doch in ihren Augen stand immer noch Unglaube. Und wer könnte ihr das übel nehmen? Ihr Leben hat sich in der letzten Nacht verändert. Und er wäre ein Narr, wenn er nicht zugeben würde, dass sich seines ebenfalls verändert hat.
Als er sah, wie sie sich unter diese Fische gemischt hat, war sein Schicksal besiegelt. Es ist undenkbar, dass Emma keine direkte Nachfahrin Poseidons ist. Es ist undenkbar, dass sie jemals die Seine werden kann. Und er sollte sich besser jetzt schon daran gewöhnen.
Er sieht zu dem Einzelbett hinüber, in dem Rayna schläft; sie ahnt nicht, dass sie im Arm ihres Gefährten liegt, der ihr ins Ohr schnauft wie eine verletzte Leopardenrobbe. Galen schüttelt den Kopf. Wenn Rayna aufwacht, wird sie dafür sorgen, dass Toraf nie wieder durch die Nase atmen kann.
»Die letzte Nacht hat es also wirklich gegeben.« Emmas Worte schrecken ihn auf. Die einzige Regung, die sie zeigt, ist ein schläfriges Lächeln.
»Guten Morgen«, flüstert er und deutet mit dem Kopf auf Rayna und Toraf.
Emmas Augen weiten sich und sie nickt. Sie schiebt die Bettdecke von sich und lässt sie auf den Boden gleiten. Galen hat gestern Nacht in Rachels Schubladen gestöbert und einen Pyjama für sie gefunden, in dem sie schlafen konnte, während ihre Kleider trockneten. Als sie sich jetzt in dem Pyjama streckt, bemerkt Galen, dass sie viel größer als Rachel ist – das Tanktop schließt nicht ganz mit dem Bund ihrer Hosen ab – und viel kurviger. Der Anblick, wie sich der Stoff um Emmas Rundungen spannt, zwingt ihn, darüber nachzudenken, wie er sich heute konzentrieren soll. Weibliche Syrena sind stark und muskulös, aber Emma hat die lange Zeit in Menschengestalt einen etwas weicheren Körperbau beschert – und er ist überrascht, wie sehr ihm das gefällt.
Emma knurrt der Magen und sie errötet. Er begreift, wie sehr er auch das mag. Grinsend zeigt er auf die Leiter, die nach unten in den Flur führt. Das oberste Stockwerk, in dem sie die vergangene Nacht verbracht haben, lässt sich nur kletternderweise verlassen oder betreten. Sie nickt und steigt ohne ein Wort hinunter. Galen zwingt sich mit aller Gewalt, sich von dem verlockenden Anblick loszureißen, als sie die letzte Stufe der Leiter erreicht hat. Er folgt ihr mit zusammengebissenen Zähnen. Sobald sie im Flur sind, tauschen sie ein wissendes Lächeln – Toraf ist so gut wie tot.
Der Geruch von Essen, der das Treppenhaus heraufweht, verrät Galen, dass Rachel wieder da ist. Er kann ihre hohen Absätze in der Küche klackern hören und wie sie den Ofen öffnet und schließt. Sie flucht laut. Wahrscheinlich hat sie sich an einer Pfanne verbrannt. Die Morgenbrise durchströmt das, was vom Wohnzimmer übrig geblieben ist und jetzt eher wie eine offene Veranda aussieht. Emma zuckt zusammen, als sie den Schaden bei Tageslicht sieht.
»Es tut mir wirklich leid, Galen. Ich werde für das alles aufkommen. Sag Rachel, sie soll mir eine Rechnung schicken.«
Er lacht. »Was meinst du, kostet das mehr als die Arztrechnungen, die angefallen sind, weil du dich selbst bewusstlos geschlagen hast, als du vor mir wegrennen wolltest?«
Sie grinst. »Na ja, so gesehen …«
Rachel sitzt am Tisch, als sie in die Küche kommen. »Guten Morgen, meine Turteltäubchen! Für dich, mein Äffchen, habe ich gedämpften Fisch und Shrimps, und für dich, Emmaschätzchen, das prächtigste Omelett, das je gebacken wurde. Saft, Emma? Ich habe Orange oder Ananas.«
»Orange, bitte«, antwortet sie und nimmt Platz. »Und Sie brauchen uns nicht länger Turteltäubchen zu nennen. Galen hat mich gestern Nacht in das Geheimnis eingeweiht. Sie wissen ja, dass wir nicht wirklich miteinander gehen.«
»Ähm, also, Emma, ich denke, wir sollten das noch eine Weile durchziehen. Deiner Mutter zuliebe.« Galen reicht ihr ein Glas. »Sie wird nie verstehen, warum wir so viel Zeit miteinander verbringen, wenn wir nicht miteinander gehen.«
Emma runzelt die Stirn, während Rachel mit einem übergroßen Pfannenwender ein üppiges Omelett auf ihren Teller klatscht. Mit ihrer Gabel sticht Emma in den Bauch des Omeletts und spießt einen dampfenden, vor Käse triefenden Brocken Fleisch auf. »Schätze, daran habe ich nicht gedacht«, sagt sie und nimmt einen Bissen. »Ich hatte vor, ihr zu erzählen, dass wir Schluss gemacht haben.«
»Er hat recht, Emma«, ruft Rachel vom Herd herüber. »Ihr könnt nicht Schluss machen, wenn du die ganze Zeit hier bist. Sie muss glauben, dass ihr immer noch ein Paar seid. Und es ist dein Job, sie davon zu überzeugen. Jede Menge Knutscherei und so was – nur für den Fall, dass deine Mutter euch nachspioniert.«
Emma hört auf zu kauen. Galen lässt seine Gabel fallen.
»Ähm, ich glaube nicht, dass wir gleich so weit gehen müssen …«, beginnt Emma.
»Was denn? Küssen sich Teenager heute nicht mehr?« Rachel verschränkt die Arme vor der Brust und wedelt mit dem Pfannenwender im Takt ihres auf den Boden klopfenden Fußes.
»Doch, schon, aber …«
»Kein Aber. Komm schon, Schätzchen. Glaubst du etwa, deine Mom weiß nicht, was läuft und glaubt, dass du die Finger von Galen lassen könntest?«
»Wahrscheinlich nicht, aber …«
»Ich sagte, kein Aber. Seht euch beide doch mal an. Ihr sitzt nicht einmal nebeneinander! Ihr braucht etwas Übung, würde ich sagen. Galen, geh und setz dich neben Emma. Nimm ihre Hand.«
»Rachel«, sagt er kopfschüttelnd. »Das kann warten …«
»Na schön«, knirscht Emma mit zusammengebissenen Zähnen. Woraufhin sich beide zu ihr umdrehen. Immer noch stirnrunzelnd nickt sie. »Wir werden uns küssen und Händchen halten, wenn sie in der Nähe ist.«
Galen lässt seine Gabel beinahe wieder fallen. Auf keinen Fall. Emma küssen ist das Letzte, was ich gebrauchen kann. Vor allem wenn ihre Lippen diesen Rotton annehmen. »Emma, wir brauchen uns nicht zu küssen. Sie weiß doch schon, dass ich mit dir schlafen will.« Sobald die Worte heraus sind, zuckt er zusammen. Auch ohne nur den Blick zu heben, weiß er, dass das zischelnde Geräusch in der Küche von Rachel stammt, die ihren Ananassaft in die heiße Bratpfanne spuckt. »Ich meine, ich habe doch schon gesagt, dass ich mit dir schlafen will. Das heißt, ich habe ihr gesagt, dass ich mit dir schlafen will, weil sie dachte, dass ich es schon tue. Tun will. Ich meine …« Wenn ein Syrena ertrinken könnte, würde es sich genauso anfühlen.
Emma hebt die Hand. »Schon kapiert, Galen. Ist okay. Ich habe ihr das Gleiche erzählt.«
Rachel lässt sich auf den Stuhl neben Emma plumpsen und wischt sich mit einer Serviette die Saftspritzer vom Gesicht. »Du willst mir also erzählen, dass deine Mom denkt, ihr beide wollt miteinander schlafen. Aber du glaubst nicht, dass sie dann erwartet, dass ihr euch küsst.«
Emma schüttelt den Kopf und schaufelt sich eine Gabel voll Omelett in den Mund, dann spült sie mit etwas Saft nach. »Sie haben ja recht, Rachel«, stimmt sie zu. »Wir müssen uns beim Rummachen erwischen lassen oder so.«
Rachel nickt. »Das sollte funktionieren.«
»Was bedeutet das? Rummachen?«, fragt Galen zwischen zwei Bissen.
Emma legt ihre Gabel beiseite. »Es bedeutet, dass du dich dazu zwingen musst, mich zu küssen. Als ob es dir ernst damit wäre. Richtig lang. Denkst du, du schaffst das? Küssen Syrena?«
Er versucht, den Bissen hinunterzuschlucken, hat aber vergessen, ihn zu kauen. Mich dazu zwingen? Ich wäre froh, wenn ich mich bremsen könnte. Es ist ihm noch nie in den Sinn gekommen, irgendjemanden zu küssen – bevor er Emma kennengelernt hat. Seitdem kann er an nichts anderes mehr denken, als an ihre Lippen auf seinen. Er kommt zu dem Schluss, dass es besser für sie beide gewesen ist, als Emma ihn zurückgewiesen hat. Jetzt befiehlt sie ihm, sie zu küssen – richtig lang. Na, toll. »Ja, sie küssen sich. Ich meine, wir küssen uns. Ich meine, ich kann mich dazu zwingen, wenn es sein muss.« Er sieht Rachel nicht in die Augen, als sie ihm einen Nachschlag Fisch auf den Teller klatscht, aber er kann spüren, dass sie grinst.
»Wir müssen es einfach planen, das ist alles. Und dir Zeit geben, damit du dich vorbereiten kannst«, erklärt Emma.
»Vorbereiten auf was?«, spottet Rachel. »Küsse sollte man nicht planen. Darum machen sie ja solchen Spaß.«
»Ja, aber hier geht es nicht um Spaß, sagt Emma. »Ist doch alles nur Show.«
»Glaubst du nicht, dass es Spaß machen könnte, Galen zu küssen?«
Emma seufzt und stützt ihr Gesicht mit den Händen ab. »Wissen Sie, ich weiß es wirklich zu schätzen, dass Sie uns helfen wollen, Rachel. Aber ich kann nicht länger darüber reden. Im Ernst, ich bekomme davon Ausschlag. Wir werden einfach dafür sorgen, dass es zum richtigen Zeitpunkt klappt.«
Rachel lacht und räumt Emmas leeren Teller ab, nachdem sie einen Nachschlag abgelehnt hat. »Wie du meinst. Aber ich finde immer noch, dass ihr üben solltet.« Auf dem Weg zum Spülbecken sagt sie: »Wo sind eigentlich Toraf und Rayna? Oh!« Sie schnappt nach Luft. »Haben sie etwa eine Insel gefunden?«
Galen schüttelt den Kopf und schenkt sich etwas Wasser aus einem Krug auf dem Tisch ein. Er ist sichtlich dankbar für den Themenwechsel. »Nein. Sie sind oben. Er hat sich in ihr Bett gekuschelt. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der sein Leben so leichtfertig aufs Spiel setzt.«
Rachel schnalzt mit der Zunge, während sie einige Schüsseln ausspült.
»Warum reden alle ständig darüber, eine Insel zu finden?«, will Emma wissen, während sie den Rest ihres Saftes trinkt.
»Wer redet denn sonst noch darüber?« Galen runzelt die Stirn.
»Im Wohnzimmer habe ich gehört, wie Toraf zu ihr gesagt hat, sie soll entweder in die Küche gehen oder sich eine Insel suchen.«
Galen lacht. »Und sie hat sich für die Küche entschieden, richtig?«
Emma nickt. »Was? Was ist daran so komisch?«
»Rayna und Toraf sind miteinander verbunden. Ich glaube, Menschen nennen es verheiratet«, fügt er hinzu. »Die Syrena suchen sich eine Insel, wenn sie bereit sind, sich … auch körperlich miteinander zu verbinden. Wir können das nur in Menschengestalt tun.«
»Oh. Oh. Ähm, okay.« Emma läuft rot an. »Ich habe mich schon darüber gewundert. Über den körperlichen Teil, meine ich. Sie sind also verheiratet? Sieht eher so aus, als würde sie ihn hassen.«
Galen zögert. Er erinnert sich, wie entrüstet Rachel über dieses Thema war, als er ihr damals zum ersten Mal davon erzählt hat. Emma wird es früher oder später herausfinden. Warum also nicht gleich jetzt? »Toraf hat bei unserem Bruder um sie angehalten und er war einverstanden. Ich weiß, Menschen handhaben das ein wenig anders, aber …«
»Was?« Emma springt von ihrem Stuhl und beugt sich mit verschränkten Armen über den Tisch.
Dann mal los. »Toraf hat gefragt …«
»Du erzählst mir, dass dein Bruder sie gezwungen hat, Toraf zu heiraten?« Man kann sie nur schwer verstehen, weil sie mit zusammengebissenen Zähnen spricht.
»Also, so kann man das eigentlich nicht sagen. Sie ist ja nicht dabei gewesen …«
»Was? Sie war bei ihrer eigenen Hochzeit nicht dabei?«
»Emma, beruhig dich erst mal. Syrena nennen es nicht Hochzeit. Sie nennen es …«
»Ist mir egal, wie sie es nennen«, ruft sie. »Ob menschlich oder nicht, man zwingt niemanden, einen anderen zu heiraten!«
»Recht hat sie!«, ruft Rayna aus dem Wohnzimmer. Toraf folgt ihr grinsend in die Küche, gut gelaunt trotz gespaltener Lippe. Rayna pflanzt sich neben Emma und verschränkt die Arme genau wie sie.
Emma nickt ihr zu. »Siehst du? Es gefällt ihr nicht. Und wenn es ihr nicht gefällt, sollte sie auch nicht verheiratet sein.«
»Meine Rede«, sagt Rayna und stupst Emma als Zeichen ihrer Komplizenschaft mit dem Ellbogen an. Galen schüttelt den Kopf. Dass Rayna ihr erst gestern Nacht mit genau diesem Ellenbogen das linke Auge ausschlagen wollte, ist wie weggeblasen.
»Morgen«, sagt Toraf freundlich und nimmt neben Galen Platz. »Habt ihr alle gut geschlafen?« Rachel serviert ihm schweigend sein Frühstück und schenkt ihm etwas Wasser ein.
Galen seufzt. »Emma, bitte setz dich wieder. Es ist doch kein neues Gesetz, von dem sie nichts gewusst hat. Zuerst hatte sie freie Wahl. Wenn Rayna schon früher einen Gefährten gewählt hätte, wäre es nie …«
»Es gibt ein Zeitlimit, um einen Gefährten auszuwählen? Wirklich? Das wird ja immer besser. Also, dann schieß mal los, Galen, falls ich eine von euch bin, wird dann von mir erwartet, dass ich mich verbinde? Habt Ihr schon jemanden für mich im Auge, Euer Hoheit?«
Geht das schon wieder los. Die ganze Nacht über hat sie ihn Euer Hoheit und Majestät genannt. Und nach dem Gesicht zu urteilen, das sie dabei zieht, versteht sie es als Beleidigung. Deshalb brennt er schon darauf, ihr zu sagen, dass auch sie ein Mitglied der Königsfamilie ist. Aber das würde nur noch mehr Ärger geben und wäre den kleinen Triumph nicht wert. Außerdem würde sie dann denken, dass sie sich ihren Gefährten einfach aussuchen kann, wie die meisten Frauen der Königsfamilie. Aber Emma ist nicht wie die meisten von ihnen. Sie ist die letzte lebende Nachfahrin Poseidons – was ihre Wahlmöglichkeiten ziemlich eingrenzt. Auf eine einzige Möglichkeit, um genau zu sein.
»Hast du jemanden im Auge, Galen?«, fragt Toraf und steckt sich einen Shrimp in den Mund. »Ist es jemand, den ich kenne?«
»Halt den Mund, Toraf«, knurrt Galen. Er schließt die Augen und massiert sich die Schläfen. Irgendwie hätte das alles viel besser laufen können.
»Oh«, murmelt Toraf. »Dann ist es wohl jemand, den ich kenne.«
»Toraf, ich schwöre bei Tritons Dreizack …«
»Das sind die besten Shrimps, die du je gemacht hast, Rachel«, fährt Toraf fort. »Ich kann es gar nicht erwarten, Shrimps auf unserer Insel zu kochen. Ich werde das Würzen übernehmen, Rayna.«
»Sie geht nicht mit dir auf irgendeine Insel, Toraf!«, brüllt Emma.
»Oh doch, das wird sie, Emma. Rayna will meine Gefährtin sein. Habe ich nicht recht, Prinzessin?«, lächelt er.
Rayna schüttelt den Kopf. »Es hat keinen Sinn, Emma. Ich habe wirklich keine Wahl.«
Resigniert lässt sie sich auf den Platz neben Emma sinken, die ungläubig auf sie hinabstarrt. »Du hast eine Wahl. Du kannst bei mir zu Hause wohnen. Ich werde dafür sorgen, dass er nicht in deine Nähe kommen kann.«
Torafs Miene deutet an, dass er diese Möglichkeit noch gar nicht bedacht hat. Galen lacht. »Gar nicht mehr so komisch, was, Kaulquappe?«, sagt er und versetzt ihm einen Stoß in die Rippen.
Toraf schüttelt den Kopf. »Sie wird nicht bei dir wohnen, Emma.«
»Das werden wir noch sehen, Kaulquappe«, erwidert sie.
»Galen, tu doch was«, sagt Toraf, ohne Emma aus den Augen zu lassen.
Galen grinst. »Was denn?«
»Ich weiß es nicht, verhafte sie oder irgend so was«, sagt Toraf und verschränkt die Arme.
Emma fixiert Galen und raubt ihm fast den Atem. »Tja, Galen. Komm und verhafte mich, wenn dir danach zumute ist. Aber eins sage ich dir gleich: In der Sekunde, in der du Hand an mich legst, zertrümmere ich dieses Glas auf deinem Kopf und zerschneide deine Lippe damit wie Torafs.« Sie greift nach dem schweren Trinkglas und verspritzt die letzten Tropfen Orangensaft auf dem Tisch.
Alle halten die Luft an, bis auf Galen – der so heftig lacht, dass er beinahe mit seinem Stuhl umkippt.
Emmas Nasenflügel beben. »Du glaubst nicht, dass ich es tun werde? Dann gibt es nur eine Möglichkeit, das herauszufinden, nicht wahr, Euer Hoheit?«
Galens kehliges Heulen hallt im ganzen riesigen Haus wider. Er wischt sich die Tränen aus den Augen und stößt Toraf mit dem Ellbogen an, der ihn ansieht, als hätte er zu viel Salzwasser getrunken. »Weißt du, dass diese dummen Menschen in ihrer Schule sie zur Süßesten und Harmlosesten von ihnen allen gewählt haben?«
Torafs Miene wird sanfter, als er Emma ansieht und in sich hineinlacht – aber schon bald hämmert Toraf mit den Fäusten auf den Tisch, um wieder zu Atem zu kommen. Selbst Rachel kichert in ihren Ofenhandschuh.
Langsam verschwindet die Wut aus Emmas Zügen. Galen meint sogar, ein unterdrücktes Lächeln zu erkennen. Sie stellt das Glas so vorsichtig auf den Tisch, als ob es noch voll wäre und sie nichts verschütten möchte. »Ich geb’s ja zu, das ist schon ein paar Jahre her.«
Diesmal kippt Galens Stuhl um und er landet der Länge nach auf dem Boden. Als Rayna anfängt zu kichern, fällt Emma mit ein. »Ich schätze … ich schätze, ich habe tatsächlich ein gewisses Temperament«, sagt sie mit einem einfältigen Lächeln.
Sie geht um den Tisch herum, stellt sich vor Galen und streckt ihm die Hand hin. Er grinst zu ihr hinauf. »Zeig mir deine andere Hand.«
Sie lacht und zeigt ihm, dass sie leer ist. »Keine Waffen.«
»Ziemlich einfallsreich«, sagt er und nimmt ihre Hand. »Ab jetzt werde ich so ein Trinkglas mit völlig anderen Augen sehen.« Er hievt sich zum größten Teil selbst wieder hoch, kann aber dennoch der Versuchung nicht widerstehen, sie zu berühren.
Sie zuckt die Achseln. »Reiner Überlebensinstinkt?«
Er nickt. »Oder du versuchst, mir die Lippen aufzuschneiden, damit du mich nicht mehr küssen musst.« Er freut sich, als sie den Blick abwendet und ihre Wangen rosige Flecken bekommen.
»Rayna versucht das ständig«, meldet Toraf sich zu Wort. »Wenn sie gut zielt, funktioniert es manchmal, aber meistens küsse ich sie dann erst recht. Der Schmerz muss sich immerhin lohnen.«
»Du versuchst, Emma zu küssen?«, fragt Rayna ungläubig. »Aber du hast bis jetzt noch nicht einmal jemanden gesichtet.«
»Jemanden gesichtet?«, fragt Emma.
Toraf lacht. »Warum gehen wir nicht schwimmen, Prinzessin? Der Sturm hat bestimmt viele tolle Sachen für deine Sammlung heraufgewirbelt.« Galen nickt zum Dank stumm in Torafs Richtung, während dieser seine Schwester ins Wohnzimmer führt. Ausnahmsweise einmal ist er froh um Raynas Tick, das alte Gerümpel der Menschen zu horten. Er musste sie schon fast an der Flosse zum Ufer schleifen, um an all den alten Schiffswracks entlang der Küste vorbeizukommen.
»Wir werden uns trennen, um den Meeresgrund großflächig abzusuchen«, sagt Rayna im Gehen.
Galen spürt, dass Emma ihn ansieht, aber er ignoriert sie. Stattdessen sieht er zu, wie Toraf und Rayna Hand in Hand in den Wellen verschwinden. Galen schüttelt den Kopf. Toraf braucht kein Mitgefühl. Er weiß ganz genau, was er tut. Galen wünscht, er könnte dasselbe auch von sich selbst sagen.
Emma legt eine Hand auf seinen Arm – sie wird nicht zulassen, dass er sie ignoriert. »Was bedeutet das? Jemanden sichten?«
Endlich dreht er sich um und sieht ihr in die Augen. »Es ist das Gleiche, wie wenn Menschen miteinander gehen. Nur viel schneller. Und zielgerichteter als bei den Menschen.«
»Inwiefern zielgerichteter?«
»Das Sichten ist unsere Art, einen Gefährten fürs Leben zu wählen. Wenn ein Mann achtzehn wird, fängt er an, verschiedene Frauen zu sichten, um eine Gefährtin zu finden. Eine, mit der er sich gut versteht und die sich zur Zeugung von Nachkommen eignet.«
»Oh«, macht sie nachdenklich. »Und … und du hast noch niemanden gesichtet?«
Er schüttelt den Kopf und ist sich ihrer Hand schmerzlich bewusst, die noch immer auf seinem Arm ruht. Sie muss es im gleichen Moment bemerkt haben, denn sie reißt sie weg. »Warum nicht?«, fragt sie und räuspert sich. »Bist du nicht alt genug, um zu sichten?«
»Ich bin alt genug«, sagt er leise.
»Wie alt bist du denn genau?«
»Zwanzig.« Er hat nicht die Absicht, sich näher zu ihr vorzubeugen – oder etwa doch?
»Ist das normal? Dass du noch niemanden gesichtet hast?«
Er schüttelt wieder den Kopf. »Bei uns sind die meisten Männer verbunden, wenn sie neunzehn werden. Aber meine Pflichten als Botschafter würden mich ständig von meiner Gefährtin trennen. Es wäre ihr gegenüber nicht fair.«
»Oh, richtig. Du musst die Menschen ja im Auge behalten«, sagt sie schnell. »Du hast recht. Das wäre wirklich nicht fair, was?«
Er erwartet eine weitere Diskussion. Letzte Nacht hat sie ihm unter die Nase gerieben, dass die Syrena mehr Botschafter bräuchten, damit er nicht die ganze Verantwortung allein zu tragen bräuchte. Irgendwo hat sie damit ja recht. Aber sie diskutiert nicht. Stattdessen lässt sie das Thema komplett fallen.
Sie weicht vor ihm zurück und vergrößert den Abstand zwischen ihnen, den er bewusst gering gehalten hatte. Sie setzt eine lässige Miene auf. »Also dann: Hilfst du mir, mich in einen Fisch zu verwandeln?«, fragt sie, als hätten sie schon die ganze Zeit über nichts anderes gesprochen.
Er blinzelt. »Das ist alles?«
»Was?«
»Keine Fragen mehr über das Sichten? Keine Vorträge über die Ernennung weiterer Botschafter?«
»Es geht mich nichts an«, sagt sie mit einem gleichgültigen Achselzucken. »Warum sollte es mich kümmern, ob du dich verbindest oder nicht? Und es ist ja nicht so, dass ich jemanden sichten würde – oder selbst gesichtet werde. Sobald du mir beigebracht hast, mir eine Flosse wachsen zu lassen, werden wir getrennte Wege gehen. Außerdem würde es dich ja auch nicht interessieren, wenn ich mit irgendwelchen Menschen gehen würde, richtig?« Mit diesen Worten lässt sie ihn einfach stehen und er starrt ihr mit offenem Mund hinterher. An der Tür ruft sie über ihre Schulter hinweg: »Wir treffen uns in fünfzehn Minuten am Strand. Ich muss noch meine Mom anrufen und meinen Badeanzug anziehen.« Sie wirft sich das Haar aus dem Gesicht, bevor sie die Treppe hinaufläuft und verschwindet.
Er dreht sich zu Rachel um, die schon seit einer halben Ewigkeit eine Pfanne abtrocknet. Ihre Augenbrauen kleben fast an ihrem Haaransatz. Galens Mund steht immer noch halb offen und er zuckt ratlos die Schultern. Sie seufzt. »Mein Äffchen, was hast du denn erwartet?«
»Auf jeden Fall etwas anderes als das.«
»Tja, das war ein Fehler. Wir Menschen-Mädchen sind eben ein wenig angriffslustiger als deine Syrena-Frauen – Rayna mal ausgenommen.«
»Aber Emma ist nicht menschlich.«
Rachel schüttelt den Kopf, als sei er ein Kind. »Sie ist als Mensch aufgewachsen. Das ist alles, was sie kennt. Aber die gute Nachricht ist, dass sie im Augenblick mit niemand anderem gehen kann.«
»Warum?« Für ihn hat es so geklungen, als zöge Emma das durchaus in Betracht.
»Weil sie so tut, als ob sie mit dir geht. Und wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich mein Territorium markieren, sobald ich wieder in die Schule komme – wenn du verstehst, was ich meine.«
Er runzelt die Stirn. Er hat nicht geplant, weiter in die Schule zu gehen. Sinn und Zweck der Übung war es, Emma an den Strand zu locken. Seit sie die Wahrheit kennt, gibt es keinen Grund, weiter die Schulbank zu drücken. Er hat nicht eingeplant, dass sie lernen müsste, eine Syrena zu werden. Und er hat erst gestern begriffen, dass sie wirklich dachte, sie sei ein Mensch. Tatsächlich gibt es eine ganze Liste von Dingen, die er nicht vorhergesehen hat und sie ist so lang wie seine Flosse – mindestens.
Zum Beispiel wie dick die Schulbücher sind. Rachel hat ihm im Laufe ihrer gemeinsamen Jahre Lesen und Schreiben beigebracht, aber was bitte soll er mit Mathematik oder Turnen anfangen? Menschliche Geografie ist völlig nutzlos für ihn. Was kümmert es ihn, wo die Menschen ihre unsichtbaren Landgrenzen ziehen? Höchstens Biologie könnte interessant sein. Und wenn Emma Geschichte mag, würde es nicht schaden, sich auch dieses Fach einmal anzusehen.
Galen will gar nicht abstreiten, dass es von Vorteil für ihn sein könnte, mehr über die Menschen zu lernen – aber nicht so, wie Emma es sich erhofft. Die Idee, ihnen seine Art zu offenbaren und Friedensbedingungen auszuhandeln, ist einfach lächerlich. Menschen können nicht einmal innerhalb ihrer eigenen Art in Frieden leben. Und er hat gesehen, wie viel ihnen an den Lebewesen unterhalb des Meeresspiegels liegt – mit einem einzigen fahrlässigen Unfall haben sie ganze Gemeinschaften von Meeresbewohnern ausgelöscht. Oder einige Spezies unbarmherzig gejagt. Bis zu ihrer Ausrottung. Selbst in den Tagen von Triton und Poseidon, als Menschen und Syrena freundschaftlich nebeneinander existierten, brachten einige Menschen keinerlei Verständnis dafür auf, dass sie von den Meeren um sie herum abhängig waren. Das war der Grund, warum die beiden Generäle das Gesetz der Gaben erließen. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich ihre Voraussicht als unbezahlbar erwiesen. Als die Menschen immer bessere Techniken entwickelten, um die Ozeane in ihren großen Schiffen zu überqueren und schließlich sogar mit ihren Todesmaschinen bis in ihre Tiefen vorzudringen.
Aber Emma ist genauso naiv wie Rachel. Sie beharren beide auf einem einfachen Prinzip: Je mehr du über Menschen weißt, desto lieber wirst du sie mögen. Das ist einer der Gründe, warum Rachel ihn auch jetzt ermutigt, wieder zur Schule zu gehen. Selbst wenn sie ihn hinter dem anderen guten Grund versteckt – nämlich einige Menschen-Jungen davor zu bewahren, von ihm persönlich getötet zu werden. Bei dem bloßen Gedanken daran, dass Emma ohne ihn durch die Flure gehen könnte, ballen sich seine Hände zu Fäusten.
»Du hast recht«, sagt er entschlossen. »Ich muss in der Schule bleiben.« Er streift sein Hemd ab und wirft es über einen Stuhl. »Sag Emma, dass ich auf sie warte.«