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Ich krache gegen ihn, als hätte mich jemand von hinten geschubst. Aber er weicht nicht zurück, nicht einen Zentimeter. Er hält mich nur an den Schultern fest und wartet. Vielleicht darauf, dass ich mein Gleichgewicht wiederfinde. Vielleicht darauf, dass ich mich fange. Ich hoffe, er hat den ganzen Tag Zeit.

Ich höre Leute auf der Strandpromenade vorbeigehen und stelle mir vor, dass sie uns anstarren. Im besten Fall denken sie, dass ich diesen Jungen kenne und wir uns umarmen. Im schlimmsten Fall haben sie gesehen, dass ich wie ein Walross gegen ihn getaumelt bin, weil ich nur auf den Boden geguckt habe, auf der Suche nach einem Platz, wo wir unsere Strandsachen abstellen können. So oder so, er weiß, was passiert ist. Er weiß, warum meine Wange an seiner nackten Brust klebt. Und es wird definitiv peinlich, sobald ich den Mut fasse, zu ihm aufzusehen.

Wie in einem Daumenkino sehe ich die Möglichkeiten vor mir aufblitzen.

Nummer eins: wegrennen, so schnell mich meine Flipflops aus dem Ein-Dollar-Laden tragen. Das Problem dabei ist nur, dass ich genau über diese Flipflops gestolpert bin und deshalb überhaupt in der Klemme sitze. Genau genommen habe ich auch noch einen von ihnen verloren. Wahrscheinlich steckt er in einer Pflasterfuge der Strandpromenade fest. Ich wette, nicht einmal Aschenbrödel ist sich dermaßen blöd vorgekommen. Aber Aschenbrödel war auch nicht so tollpatschig wie ein betrunkenes Walross.

Nummer zwei: eine Ohnmacht vortäuschen. Zusammensacken und alles, was dazu gehört. Inklusive sabbern. Aber ich weiß, dass das nicht funktioniert, weil meine Augenlider zu sehr zittern würden. Und außerdem läuft niemand rot an, wenn er bewusstlos ist.

Nummer drei: beten, dass ein Blitz einschlägt. Ein tödlicher, den man schon im Voraus spürt, weil die Luft prickelt und man eine Gänsehaut bekommt – so steht es zumindest in den Physikbüchern. Vielleicht tötet der Blitz uns beide, aber mal ehrlich, er hätte mehr auf mich achten sollen, als er gesehen hat, dass ich auf gar nichts achte.

Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich das Gefühl, dass meine Gebete tatsächlich erhört werden, denn mein ganzer Körper beginnt zu kribbeln. Ich bekomme Gänsehaut und mein Blut pulsiert wie elektrisch geladen durch meine Adern. So langsam begreife ich, dass dieses Gefühl von meinen Schultern ausgeht. Von seinen Händen.

Letzte Möglichkeit: um Gottes willen endlich meine Wange von seiner Brust lösen und mich für die ungewollte Attacke entschuldigen. Und dann, bevor ich tatsächlich noch ohnmächtig werde, auf einem Flipflop davonhoppeln. Bei meinem Glück würde mich der Blitz sowieso nur verstümmeln, und er würde sich genötigt fühlen, mich irgendwohin zu schleppen. Also los!

Ich lasse von ihm ab und spähe nach oben. Das Feuer, das auf meinen Wangen brennt, hat nichts mit der Tatsache zu tun, dass es unter der Sonne Floridas dreißig schweißtreibende Grad hat. Vielmehr hat es damit zu tun, dass ich gerade gegen den attraktivsten Typen auf dem Planeten gestolpert bin. Wahnsinn.

»Ist – ist alles in Ordnung?«, fragt er ungläubig. Sehe ich da wirklich den Abdruck meiner Wange auf seiner Brust?

Ich nicke. »Mir geht’s gut. Ich bin an so was gewöhnt. Tut mir leid.« Er lässt nicht los und ich schüttele seine Hände ab. Das Kribbeln bleibt, als wäre irgendetwas von ihm immer noch auf mir.

»Himmel, Emma, alles okay?«, ruft Chloe hinter mir. Das leise Floppen ihrer Sandalen lässt darauf schließen, dass meine beste Freundin nicht so besorgt ist, wie sie klingt. Als Läuferass hätte sie schon längst an meiner Seite sein können, wenn sie gedacht hätte, ich sei verletzt. Seufzend drehe ich mich zu ihr um und bin nicht überrascht, ein Grinsen, so breit wie den Äquator, zu sehen. Sie hält mir den verlorenen Flipflop hin, und ich bemühe mich, ihn ihr nicht aus der Hand zu reißen.

»Mir geht’s gut. Allen geht es gut«, stottere ich und drehe mich wieder zu dem Typen um, der mit jeder Sekunde noch ein bisschen umwerfender wird. »Es geht dir doch gut, oder? Keine gebrochenen Knochen oder so?«

Er blinzelt und deutet ein Nicken an.

Chloe lehnt ihr Surfbrett an das Geländer der Strandpromenade und streckt ihm die Hand hin. Er nimmt sie, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Ich bin Chloe und das ist Emma«, stellt sie uns vor. »Normalerweise schleppen wir ihren Sturzhelm mit, aber heute haben wir ihn im Hotelzimmer vergessen.«

Ich schnappe nach Luft. Und versuche zu entscheiden, welche Blumen ich am besten zu ihrer Beerdigung mitbringe, nachdem ich sie eigenhändig erwürgt habe. Ich hätte in Jersey bleiben sollen, wie Mom gesagt hat, statt mit Chloe und ihren Eltern hierherzukommen. Was habe ich denn in Florida verloren? Wir leben an der Küste von Jersey. Strände – kennst du einen, kennst du alle, richtig?

Aber neiiiiiiiin. Ich musste ja mitkommen, um den Rest des Sommers mit Chloe zu verbringen, unseren letzten gemeinsamen Sommer vor dem College, bla, bla, bla. Und jetzt rächt sie sich, weil ich mich gestern Abend geweigert habe, ihr meinen Ausweis zu leihen, damit sie sich tätowieren lassen kann. Aber was hat sie denn erwartet? Ich bin weiß und sie ist schwarz. Ich bin nicht mal sonnengebräunt weiß. Ich bin Kanada-Touristen-weiß. Wenn der Kerl sie mit mir verwechselt hätte, dann sollte er lieber niemanden tätowieren, oder? Ich habe sie also beschützt. Nur dass sie das nicht so sieht. Ich sehe es an diesem Ausdruck in ihren Augen – genau diesen Ausdruck hatte sie auch, als sie mein Desinfektionsgel gegen ihr Gleitgel ausgetauscht hat –, dass sie auch noch den letzten Rest meiner Selbstachtung nehmen und darauf herumtrampeln wird wie ein Elefant.

»Ähm, wir haben deinen Namen nicht verstanden. Hast du seinen Namen verstanden, Emma?«, fragt sie wie aufs Stichwort.

»Ich habe es versucht, Chloe. Aber er wollte ihn mir nicht verraten, deshalb habe ich ihn angegriffen«, sage ich und verdrehe die Augen.

Der Typ grinst. Dieses Beinahe-Lächeln lässt schon vermuten, wie atemberaubend sein richtiges Lächeln sein muss. Das Kribbeln ist wieder da und ich reibe mir die Arme.

»He, Galen, bist du so weit …« Wir drehen uns alle zu einem zierlichen, schwarzhaarigen Mädchen um, das ihn an der Schulter berührt. Als sie mich sieht, bricht sie mitten im Satz ab. Selbst wenn die beiden nicht das gleiche kurze, dunkle Haar hätten, die gleichen violetten Augen und die gleiche makellose, olivfarbene Haut, wäre mir klar, dass sie verwandt sind. Und zwar wegen ihrer eindeutigsten Gemeinsamkeit – dieser Angewohnheit, einen unverhohlen anzustarren.

»Ich bin Chloe. Das ist meine Freundin Emma, die deinem Freund Galen anscheinend einen Kopfstoß verpasst hat. Wir waren gerade dabei, uns zu entschuldigen.«

Ich kneife mir in den Nasenrücken und sage zehnmal lautlos Mississippi, obwohl fünfzigmal wohl besser wäre – dann hätte ich nämlich genug Zeit, um mir auszumalen, wie ich Chloe ihre neuen Extensions herausreiße.

»Emma, was ist los? Du hast doch nicht etwa Nasenbluten, oder?«, zwitschert sie und genießt das Ganze sichtlich.

Das Kribbeln ballt sich in meinem Kinn, als Galen es mit einem gekrümmten Zeigefinger anhebt. »Deine Nase blutet? Lass mich mal sehen«, sagt er. Er dreht meinen Kopf von einer Seite zur anderen und beugt sich näher heran, um besser sehen zu können.

Und ich habe meinen persönlichen Gipfel der Peinlichkeit erreicht. Stolpern ist schon schlimm genug. In jemanden hineinzustolpern, ist noch viel schlimmer. Aber wenn dieser Jemand einen Körper hat, der jede gemeißelte Statue eifersüchtig machen könnte – und auch noch glaubt, du hättest dir die Nase an seiner gestählten Brust gebrochen –, nun, dann grenzt Stolpern schon an aktive Sterbehilfe.

Er ist sichtlich überrascht, als ich seine Hand wegwische und zur Seite trete. Es scheint seine Freundin/Verwandte ziemlich aus der Fassung zu bringen, dass ich seine Haltung nachahme – vor der Brust verschränkte Arme und tiefes Stirnrunzeln. Ich bezweifele, dass sie schon jemals ihren persönlichen Gipfel der Peinlichkeit erreicht hat.

»Ich sagte, es geht mir gut. Kein Blut, keine Verletzung.«

»Das ist meine Schwester Rayna«, sagt er, als hätte sich das Gespräch ganz selbstverständlich in diese Richtung entwickelt. Sie lächelt mich so gezwungen an, als würde ihr jemand ein Messer vorhalten. Es ist so ein Höflichkeitslächeln, wie man es seiner Großmutter schenkt, wenn sie einem mal wieder einen selbst gestrickten Pullover überreicht, der die Farbe von fauligem Kohl hat. An diesen Pullover denke ich jetzt, als ich ihr Lächeln erwidere.

Galen beäugt das Surfbrett, das vergessen am Geländer der Strandpromenade lehnt. »Die Wellen hier eignen sich nicht wirklich gut zum Surfen.«

Small Talk gehört nicht zu Galens Stärken. Genau wie bei seiner Schwester hat seine Höflichkeit etwas Gezwungenes. Aber im Gegensatz zu ihr verbirgt sich dahinter keine Feindseligkeit, sondern nur Verlegenheit, als sei er aus der Übung. Aber weil er diese Anstrengung anscheinend wegen mir auf sich nimmt, spiele ich mit. Demonstrativ beobachte ich die smaragdfarbenen Wellenkämme des Golfs von Mexiko und die Wogen, die träge ans Ufer schwappen. Ein Mann, der bis zur Taille im Wasser steht, hält ein Kleinkind auf der Hüfte und springt jedes Mal mit ihm hoch, wenn eine Welle kommt. Verglichen mit den Wellen zu Hause ist die Strömung hier ein Kinderkarussell auf dem Jahrmarkt.

»Das wissen wir. Wir nehmen es nur mit raus, um uns treiben zu lassen«, erwidert Chloe, unbeeindruckt davon, dass Galen mit mir gesprochen hat. »Wir sind aus Jersey, wir wissen also, wie eine richtige Welle aussieht.« Als sie einen Schritt auf sie zumacht, weicht Rayna vor ihr zurück. »He, das ist ja komisch«, sagt Chloe. »Ihr habt beide die gleiche Augenfarbe wie Emma. Die habe ich sonst noch nie gesehen. Ich dachte immer, es läge daran, dass sie so furchtbar käsig ist. Au! Das gibt einen blauen Fleck, Emma«, murmelt sie und reibt sich ihren frisch gezwickten Bizeps.

»Gut so, das hoffe ich«, fahre ich sie an. Ich wollte sie nach ihrer Augenfarbe fragen – bei Galen mit seiner olivfarbenen Haut ist sie viel hübscher –, aber Chloe hat meine Chancen, von meinem Peinlichkeitsgipfel runterzukommen, einfach niedergeknüppelt. Ich werde mich damit zufriedengeben müssen, dass mein Dad – und Google – sich die ganze Zeit geirrt haben; meine Augenfarbe kann gar nicht so selten sein. Okay, mein Dad war Mediziner und hat bis zu dem Tag praktiziert, an dem er vor zwei Jahren starb. Und okay, Google hat mich noch nie zuvor im Stich gelassen. Aber wer bin ich schon, den lebenden, atmenden Beweis zu leugnen, dass es diese Augenfarbe tatsächlich gibt? Ein Niemand, das bin ich. Was mir ganz recht ist, denn ich will nicht länger reden. Will Galen nicht noch mehr peinliche Gespräche aufzwingen. Und Chloe nicht noch mehr Gelegenheit geben, meine sowieso schon heißen Wangen zum Glühen zu bringen. Ich will nur, dass dieser Augenblick endlich vorüber ist.

Ich drängele mich an Chloe vorbei und schnappe mir das Surfbrett. Immerhin presst sie sich an das Geländer, als ich wieder an ihr vorbeimuss. Ich bleibe vor Galen und seiner Schwester stehen. »War nett, euch beide kennenzulernen. Tut mir leid, dass ich dich umgerannt habe. Lass uns gehen, Chloe.«

Galen sieht aus, als wolle er etwas sagen, aber ich wende mich ab. Galen ist wirklich heiß, aber ich bin nicht daran interessiert, mich über die Gefahren beim Schwimmen auszutauschen – oder noch mehr feindselige Verwandte kennenzulernen. Er kann sagen, was er will, es wird nichts daran ändern, dass die DNA meiner Wange jetzt auf seiner Brust klebt.

Ich muss mich beherrschen, nicht zu rennen, als ich mich an ihnen vorbeischiebe und die Treppe hinuntergehe, die zu dem makellosen weißen Sandstrand führt. Ich höre, wie mir Chloe kichernd folgt, und entscheide mich für Sonnenblumen auf ihrem Grab.