20
Galen schiebt sich an sein Pult. Es verunsichert ihn, dass der breitschultrige blonde Junge, der mit Emma redet, lässig den Arm auf die Rückenlehne ihres Stuhls legt.
»Guten Morgen«, sagt Galen und beugt sich hinüber, um sie in die Arme zu nehmen. Dabei zieht er sie fast vom Stuhl. Um das Maß vollzumachen, schmiegt er auch noch seine Wange an ihre. »Guten Morgen … ähm, Mark, nicht wahr?«, fragt er, darauf bedacht, dass seine Stimme freundlich klingt. Trotzdem wirft er einen vielsagenden Blick auf Marks Arm, der immer noch über der Rückenlehne von Emmas Stuhl liegt und sie beinahe berührt.
Zu Galens Befriedigung – und Marks eigener Sicherheit – zieht Mark den Stein des Anstoßes zurück, während er Emma ein breites Lächeln schenkt und seine auffallend weißen Zähne zeigt. »Du und Forza, hm? Hast du das mit seinen Groupies abgeklärt?«
Sie lacht und drückt Galens Arm sanft weg. Aus dem Augenwinkel sieht er, wie ihr die Röte ins Gesicht schießt und sich wie vergossene Farbe über ihre Haut ergießt. Sie hat sich noch nicht daran gewöhnt, mit ihm zu gehen. Bis vor zehn Minuten ging es ihm ähnlich. Aber seit Mark sie beäugt wie ein leckeres Schalentier, fühlt es sich ganz natürlich an, Emmas Freund zu spielen.
Es läutet, was Emma eine Antwort und Mark eine vierstellige Krankenhausrechnung erspart. Emma wirft Galen einen vernichtenden Blick zu, den er mit einem – wie er hofft – zauberhaften Grinsen abwehrt. Er bemisst seinen Erfolg daran, dass ihr Gesicht noch etwas röter wird, stutzt jedoch, als er die dunklen Ringe unter ihren Augen bemerkt.
Sie hat gestern Nacht nicht geschlafen. Nicht dass er damit gerechnet hätte, dass sie es tun würde. Sie war auf dem Rückflug von Destin vor zwei Nächten sehr still. Er hat sie nicht zum Reden gedrängt, vor allem weil er nicht gewusst hätte, was er sagen soll. So viele Male wollte er ihr versichern, dass sie alles andere als eine Abartigkeit ist, aber irgendwie erscheint es falsch, das laut auszusprechen. Als würde er absichtlich gegen das Gesetz verstoßen. Aber wie könnte man etwas Abartiges in diesen köstlichen Lippen und diesen riesigen violetten Augen sehen?
Noch verrückter ist allerdings, dass die Tatsache, dass sie ein Halbblut sein könnte, in ihm eine Hoffnung entzündet hat, die zu empfinden er kein Recht hat: Grom würde sich niemals mit einem Halbmenschen verbinden. Zumindest denkt Galen, dass er es nicht tun würde.
Er schaut zu Emma hinüber, deren seidige Augenlider nicht einmal flattern, während sie einnickt. Als er sich räuspert, zuckt sie zusammen. »Danke«, formt sie mit den Lippen und greift wieder nach ihrem Bleistift, um mit dem Radiergummi daran die Textzeilen in ihrem Lehrbuch nachzufahren, die sie gerade liest. Er antwortet mit einem Nicken. In diesem Zustand will er sie nicht zurücklassen, ängstlich und angespannt und fehl am Platz in ihrer eigenen schönen Haut.
Aber er muss zu Romul gehen. Romul wird ihm mehr über Halbmenschen erzählen können, darüber, warum Triton sie hasst. Galen hätte nie gedacht, dass er diese Frage einmal stellen würde; es war immer so einfach, genügend Gründe zu finden, die Menschen zu hassen. Trotzdem macht es ihm seine Handvoll menschlicher Freunde unmöglich, die ganze Art zu verachten. Und eines Tages wird er in dieser Sache vielleicht sogar das Gesetz auf seiner Seite brauchen.
Es läutet wieder und die Glocke reißt ihn aus seinen Gedanken und Emma aus einem weiteren Sekundenschlaf. Er schnappt sich ihren Rucksack und hält ihn auf, damit sie ihre Bücher und Unterlagen hineinstopfen kann. Bevor sie flüchten kann, ergreift er ihre Hand und fädelt seine Finger zwischen ihre, wie Rachel es ihm gezeigt hat. Er ist überrascht, als Emma sich an ihn lehnt und ihren Kopf an seinen Bizeps bettet. Vielleicht fällt es ihr doch leichter, mit ihm zu gehen, als er dachte.
Sie gähnt. »Lass uns den Rest des Tages blaumachen und bei dir zu Hause ein wenig schlafen.«
Er drückt ihre Hand. Den Rest des Tages mit ihr allein bei ihm zu Hause zu verbringen, ist das Beste und das Schlimmste, was er sich vorstellen kann. »Deine Mom wird mich umbringen und dir Hausarrest geben.«
»Ich habe gestern Nacht nicht geschlafen.«
»Das sehe ich.«
»Sehe ich so schlimm aus?«
»Du siehst so müde aus.«
Sie bleiben vor der Tür zu ihrem nächsten Kurs stehen. Er beugt sich vor, um ihr die Tür zu öffnen. »Galen.« Sie sieht zu ihm auf. »Bitte.«
Er seufzt. »Ich kann heute nicht blaumachen. Ich werde vielleicht morgen schwänzen.«
Die Neugier macht sie etwas munterer. »Warum?«
Er zieht sie zur Seite, als ein paar ihrer Klassenkameraden in den Raum trödeln. Die Glocke läutet die nächste Stunde ein. »Ich werde heute Abend mit den Archiven reden. Um zu sehen, was ich sonst noch über Halbblüter in Erfahrung bringen kann. Ich dachte, du würdest dich dann vielleicht besser fühlen wegen …« Er zuckt die Achseln, außerstande, die Halbwahrheit ganz auszusprechen. »Außerdem muss ich vor Freitag wieder zurück sein. Rachel meint, dass wir Freitagabend ausgehen sollten. Du weißt schon, um so zu tun, als ob.«
»Oh«, sagt sie, und ihre Wimpern verheddern sich zum längsten Blinzeln der Welt. Sie gähnt wieder. »Kino oder so etwas?«
»Sie hat ein paar Dinge vorgeschlagen. Ins Kino gehen war dabei, denke ich. Und da war noch was von wegen Inlineskaten und Bowling.«
Emma stößt ein schläfriges Lachen aus. »Wenn du denkst, dass ich schon in Flipflops eine tödliche Gefahr bin, willst du mich nicht auf Inlinern sehen.«
»Also dann Kino. Ich werde keine weitere Gehirnerschütterung riskieren.« Er bringt sie zur Tür und darf sie sogar für sie öffnen. Ein Mitschüler namens Tyler mit einem Adamsapfel, der so groß wie seine Nase ist, winkt sie unauffällig zu den Plätzen, die er ihnen in der hintersten Reihe frei gehalten hat. Galen steckt ihm einen Zwanzigdollarschein zu, als Tyler seine Sachen zu einem freien Pult weiter vorne schafft.
Während Emma Physik verschläft, notiert Galen pflichtschuldig alles über Thermodynamik. Auf einem anderen Blatt listet er Fragen auf, die er Romul stellen will. Doch selbst nachdem er die Liste zweimal überprüft, fehlt eine Frage, auf die er einfach nicht kommt. Sie nagt an ihm, liegt ihm auf der Zunge, ist aber nicht konkret genug, um sich fassen zu lassen.
Neben ihm seufzt Emma im Schlaf. Galen versteift sich. Emma. Wer wird auf Emma aufpassen, wenn ich fort bin? Toraf ist noch nicht von seiner Suche nach Paca zurückgekehrt. Rachel kann an Land auf sie aufpassen, aber wenn Emma ins Wasser geht, ist sie so gut wie verloren. Nicht dass es aussieht, als könne sie in absehbarer Zeit trainieren, so erschöpft wie sie ist. Aber Emma besteht praktisch nur aus Trotz und Starrsinn und Widerborstigkeit und was einem das Leben sonst noch schwer macht. Wenn sie ins Wasser gehen will, wird sie es tun.
Damit bleibt nur eine Person übrig. Rayna.