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8

Die Glocke läutet zum letzten Mal und die Schüler strömen aus allen Ecken des roten Ziegelsteingebäudes. In der Ferne zischen die Bremsen des Schulbusses, und die jüngsten Schüler pferchen sich dicht gedrängt in die Zufahrt, um einzusteigen. Wie eine Herde bewegt sich die Oberstufe der Middle-Point-Highschool in einem stetigen Strom zum Parkplatz, wo sie sich um Galen und sein nicht-ganz-so-bescheidenes Auto schart. Er lehnt sich gegen den Kofferraum, nickt den Jungs zu, die den Wagen bewundern, und meidet jeden Blickkontakt mit den Mädchen, die etwas anderes bewundern.

Die Welle von Schülern verwandelt sich in eine Blechlawine. Das obligatorische Hupen lässt etwas nach, als sich die Autos, vollbepackt mit menschlichen Teenagern, dem Highway nähern. Galen hört, wie hinter ihm jemand auf einem Skatebord Bekanntschaft mit dem Asphalt macht, gefolgt vom dazugehörigen Schmerzensschrei.

Er wirft einen Blick auf den Wagen, der neben seinem parkt. Wo ist sie?

Als sie an der Doppeltür auftaucht, fängt die Luft zwischen ihnen an zu knistern. Sie sieht ihm fest in die Augen. Enttäuscht, als sie nicht lächelt, stößt er sich vom Auto ab und ist schon bei ihr, bevor sie auch nur zehn Schritte machen kann. »Lass mich deinen Rucksack tragen. Du siehst müde aus. Alles okay bei dir?«

Diesmal kämpft Emma nicht um den Rucksack. Stattdessen überreicht sie ihn Galen und streicht sich ihr weißblondes Haar auf die eine Seite des Gesichts. »Ich habe nur Kopfschmerzen. Und wow. Du hast den ganzen Tag blaugemacht, nachdem du mit mir über die Änderung meines Stundenplans gestritten hast.«

Er grinst. »So habe ich das noch gar nicht gesehen. Ich wusste einfach, dass du dich nicht auf den Unterricht konzentrieren würdest, wenn ich geblieben wäre. Du hättest mich den ganzen Tag wegen deines Geheimnisses genervt und du hast sowieso schon genug Stunden versäumt.«

»Danke, Dad«, sagt sie und verdreht die Augen. Als sie ihre Autos erreichen, wirft er ihren Rucksack auf den Rücksitz seines Cabrios.

»Was machst du da?«, fragt sie.

»Ich dachte, wir hätten Pläne geschmiedet und fahren an den Strand.«

Sie verschränkt die Arme. »Du hast Pläne geschmiedet. Und dann bist du verschwunden.«

Er verschränkt ebenfalls die Arme. »Du hast am Montag zugestimmt, bevor du dir den Kopf angeschlagen hast.«

»Yep, das behauptest du immer wieder.«

Ohne nachzudenken, nimmt er ihre Hand. Emmas Augen weiten sich – sie ist genauso überrascht wie er. Was tue ich da? »Na schön, du erinnerst dich also nicht daran, dass ich dich gefragt habe. Aber ich frage dich jetzt. Würdest du bitte mit zum Strand kommen?«

Sie entzieht ihm die Hand und beobachtet ein paar vorbeigehende Kids, die hinter einem gelben Aktenordner verstohlen miteinander tuscheln. »Was hat der Strand mit meinen Augen zu tun? Und warum trägst du Kontaktlinsen?«

»Rach… ähm, meine Mom sagt, sie werden mir bei der Eingewöhnung hier helfen. Sie meint, die Farbe würde sonst einfach zu viel Aufmerksamkeit erregen.«

Emma schnaubt. »Oh, sie hat absolut recht. Blaue Augen lassen dich gleich viel durchschnittlicher aussehen. Ich hätte dich beinahe nicht bemerkt.«

»Du verletzt meine Gefühle, Emma.« Er grinst.

Sie kichert.

Er sagt: »Ich würde dir eventuell verzeihen – wenn du mit mir an den Strand gehst.«

Sie seufzt. »Ich kann nicht mitkommen, Galen.«

Er fährt sich mit der Hand durchs Haar. »Ehrlich, Emma, ich weiß nicht, wie viel Zurückweisung ich noch ertragen kann«, platzt er heraus. Er kann sich in der Tat nicht daran erinnern, jemals zurückgewiesen worden zu sein, außer von Emma. Natürlich könnte es daran liegen, dass königliches Blut in seinen Adern fließt. Oder vielleicht daran, dass er ohnehin nicht viel Zeit mit seiner Art verbringt, geschweige denn mit Frauen. Eigentlich verbringt er mit niemandem viel Zeit, außer mit Rachel. Und Rachel würde ihm ihr schlagendes Herz geben, wenn er darum bäte.

»Es tut mir leid. Diesmal ist es nicht wegen dir. Na ja, oder vielleicht irgendwie doch. Meine Mom … sie denkt, dass wir miteinander gehen.« Ihre Wangen – und diese Lippen – werden dunkelrot.

»Miteinander gehen?« Was soll das heißen? Zum Strand? Wo ist das Problem? Doch dann fällt ihm ein, was Rachel gesagt hat … miteinander gehen bedeutet fast das Gleiche wie sich miteinander verbinden. Sozusagen der Schritt davor. Er blinzelt Emma an. »Deine Mom denkt, dass wir uns … ähm, dass wir miteinander gehen?«

Sie nickt und beißt sich auf die Lippe.

Aus unerklärlichen Gründen gefällt ihm das. Er lehnt sich an die Beifahrertür ihres Wagens. »Oh. Okay. Aber was spielt es für eine Rolle, wenn sie das denkt?«

»Ich habe ihr gesagt, dass wir nicht miteinander gehen. Erst heute Morgen. Wenn ich jetzt mit dir an den Strand gehe, hält sie mich für eine Lügnerin.«

Er kratzt sich den Nacken. »Verstehe ich nicht. Warum sollte sie denn denken, dass wir miteinander gehen, wenn du ihr gesagt hast, dass wir es nicht tun?«

Sie lässt sich gegen die Fahrertür seines Autos fallen. »Also, das ist jetzt wirklich deine Schuld, nicht meine.«

»Offensichtlich stelle ich nicht die richtigen Fragen …«

»Es liegt an der Art, wie du dich mir gegenüber verhalten hast, als ich mir den Kopf angeschlagen habe, Galen. Einige Leute haben das beobachtet. Und meiner Mom davon erzählt. Jetzt glaubt sie, ich hätte dich vor ihr versteckt, dich geheim gehalten. Sie denkt, dass wir … dass wir …«

»Miteinander gehen?«, hilft er aus. Er versteht nicht, warum sie solche Schwierigkeiten hat, es auszusprechen, wenn es bedeutet, was er denkt – nämlich mehr Zeit mit einem bestimmten Menschen zu verbringen als mit anderen, um zu sehen, ob sie oder er ein guter Gefährte wäre.

Die Syrena machen das auch, aber sie nennen es sichten – und Sichten dauert nicht annähernd so lange wie dieses Miteinander-Gehen. Eine Syrena kann einen Gefährten in wenigen Tagen sichten. Er musste lachen, als Rachel gesagt hat, einige Menschen würden jahrelang miteinander gehen. So was von unentschlossen. Doch dann hört er Torafs Stimme in seinem Ohr, ein flüsterndes Echo, das ihn einen Heuchler nennt. Du bist zwanzig Jahre alt. Warum hast du denn noch niemanden gesichtet? Aber das bedeutet noch lange nicht, dass er unentschlossen ist. Er hat einfach keine Zeit, weil er seine Aufgabe, die Menschen zu beobachten, ernst nimmt. Wenn die nicht wäre, hätte er sich längst niedergelassen. Wie kommt Toraf bloß auf die Idee, dass Emma der Grund dafür sein könnte, dass er bis jetzt noch keine gesichtet hat? Bis vor drei Wochen hat er nicht einmal gewusst, dass sie existiert.

Emma nickt. Dann schüttelt sie den Kopf. »Miteinander gehen, ja. Aber sie denkt, wir würden, ähm, mehr tun als das.«

»Oh«, sagt er nachdenklich. Dann grinst er. »Oh.« Ihre Lippen nehmen seine Lieblingsfarbe an, weil Emmas Mom denkt, sie würden miteinander gehen und sich paaren. Die Röte breitet sich über ihren ganzen Hals aus und verschwindet in ihrem T-Shirt. Er sollte jetzt wahrscheinlich irgendetwas sagen, damit sie sich wohler fühlt. Aber es macht viel mehr Spaß, den Moment auszukosten. »Tja, dann sollte sie uns wirklich etwas Privatsphäre lassen …«

»Omeingott!« Sie reißt ihren Rucksack vom Sitz und marschiert auf die Fahrertür ihres Wagens zu. Doch bevor sie die Tür aufschließen kann, reißt er ihr den Schlüssel aus der Hand und lässt ihn in seiner Hosentasche verschwinden. Sie macht Anstalten, den Schlüssel zurückzuholen, hält aber inne, als sie begreift, wo sie danach fischen müsste.

Er hat sie noch nie so rot gesehen. Er lacht. »Immer mit der Ruhe, Emma. Ich mache nur Witze. Geh nicht.«

»Aha, aber das ist nicht komisch. Du hättest sie heute Morgen sehen sollen. Sie hat fast geweint. Und meine Mom weint nicht.« Sie verschränkt die Arme wieder, lehnt sich jedoch entspannt gegen die Tür.

»Sie hat geweint? Das ist ziemlich beleidigend.«

Sie lässt sich zu einem winzigen Grinsen hinreißen. »Ja, es ist eine Beleidigung für mich. Sie denkt, ich würde … würde …«

»Mehr tun, als mit mir zu gehen?«

Sie nickt.

Er tritt auf sie zu, stützt seine Hände links und rechts von ihr am Wagen ab und beugt sich vor. Eine heiße Strömung scheint seinen Rücken hinaufzuschießen. Was tust du da? »Dann sollte sie aber wissen, dass du dir so etwas mit mir nicht vorstellen könntest. Dass du nicht einmal im Traum daran denken würdest«, murmelt er. Sie wendet den Blick ab und bestätigt damit seine unausgesprochene Frage – sie hat es sich schon vorgestellt. Genauso wie er. Aber wie oft? Spürt sie die elektrisierende Spannung zwischen ihnen auch? Wen kümmert das, du Idiot? Sie gehört Grom. Oder wirst du etwa zulassen, dass dich ein paar Funken daran hindern, die Reiche zu einen?

Er weicht zurück und beißt die Zähne zusammen. Seine Hosentaschen sind in diesem Moment der einzig sichere Ort für seine Hände. »Warum stellst du mich ihr nicht einfach vor? Denkst du, sie würde sich dann besser fühlen?«

»Ähm.« Emma streicht sich das Haar auf die andere Seite ihres Gesichts. Ihre Miene schwankt zwischen Schock und Erwartung. Und sie hat jedes Recht, etwas zu erwarten – immerhin malt auch er sich schon seit über zwei Wochen aus, wie es wohl wäre, sie zu küssen. Sie nestelt am Türgriff. »Ja, vielleicht. Sie wird mich nirgends hingehen lassen – erst recht nicht mit dir –, solange sie dich nicht kennt.«

»Sollte ich Angst haben?«

Sie seufzt. »Normalerweise würde ich Nein sagen. Aber nach diesem Morgen …« Sie zuckt die Achseln.

»Was hältst du davon, wenn ich dir zu deinem Haus folge, damit du den Wagen abstellen kannst? Dann kann sie mich ins Kreuzverhör nehmen. Und wenn sie sieht, wie charmant ich bin, wird sie dir erlauben, mit mir zum Strand zu fahren.«

Sie verdreht die Augen. »Sei bloß nicht zu charmant. Wenn du zu glatt rüberkommst, wird sie niemals glauben, dass … Übertreib’s einfach nicht, okay?«

»Die Sache wird kompliziert«, sagt er und schließt ihren Wagen auf.

»Das Ganze war deine Idee, außerdem bist du Schuld daran. Noch kannst du einen Rückzieher machen.«

Er lacht leise und hält ihr die Wagentür auf. »Häng mich bloß nicht ab.«

Emma wirft ihren Rucksack auf die Theke und reckt den Kopf ins Treppenhaus. »Mom, könntest du mal kurz runterkommen? Wir haben Besuch.«

»Sicher, Schätzchen. Bin gleich da. Sie haben gerade angerufen, dass ich kommen soll. Hab’s eilig«, ertönt die Antwort von oben.

Er steckt die Hände in seine Taschen. Warum bin ich nervös? Es geht nur darum, einem weiteren Menschen etwas vorzumachen. Aber alles hängt davon ab, dass dieser Mensch ihn mag, ihn akzeptiert. Emmas Mutter für sich zu gewinnen, ist genauso wichtig, wie Emma zu gewinnen. Ihre Mutter könnte seine Aufgabe erschweren. Wenn sie ihn ablehnt, könnte ihn das Zeit kosten.

Plötzlich machen sich Selbstzweifel breit. Wenn er in den beiden Wochen vor Schulbeginn nicht mit Rachel geübt hätte, würde er das hier nicht einmal versuchen. Aber Rachel war gründlich. Sie ist jeden einzelnen Punkt mit ihm durchgegangen: was ihn in der Schule erwartet und wie er sich verhalten muss, was bestimmte Phrasen bedeuten, was er anziehen soll und wann er es anziehen soll. Sie haben seine Fahrkünste aufpoliert. Rachel hat sogar vorhergesehen, dass er Emmas Eltern kennenlernen würde – auch wenn niemals von einem Verhör die Rede war. Jetzt wünscht er, er hätte sie auf dem Weg hierher angerufen.

Als er wieder einmal darüber nachdenkt, Emma zu kidnappen, sieht er sich genauer um. Von der Küche aus kann er das ganze Erdgeschoss einsehen. Das Einzige, was bei der Einrichtung zusammenpasst, ist, dass nichts zusammenpasst – Haushaltsgeräte, Möbel, Farben. Alle Räume gehen ohne Türen ineinander über, als wäre man überall willkommen. Jenseits des Wohnzimmers spähen von Grasbüscheln durchsetzte Sanddünen durch das riesige Fenster herein, als würden sie lauschen.

Das alles ist ganz nach seinem Geschmack – im Vergleich dazu wirkt das Haus, das Rachel gekauft hat, kalt, distanziert und unpersönlich. Aber was ihn regelrecht eifersüchtig macht, sind die Bilder, die jede Wand des Raumes bedecken. Bilder von Emma. Ihr ganzes Leben hängt an diesen Wänden – und wenn er keinen Weg findet, ihre Mutter von seinen guten Absichten zu überzeugen, wird er wahrscheinlich keine Chance bekommen, sie anzusehen.

Er hört gedämpfte Schritte auf der Treppe. Als Emmas Mutter auftaucht, befestigt sie gerade etwas an ihrer Bluse. Als sie Galen sieht, bleibt sie stehen. »Oh.«

Galen weiß, dass sich der Schock auf ihrem Gesicht in seinem eigenen Ausdruck spiegelt. Ist sie eine Syrna? Ihre äußere Erscheinung – dunkles Haar, dunkle Haut und der hagere, muskulöse Körperbau – schreit Ja. Bis auf diese blauen Augen. Blaue Augen, die ihn mustern, als ob sie wüssten, wer er ist und warum er hier ist. Dann, mit dem nächsten Wimpernschlag, verwandeln sich diese blauen Augen einer Wächterin in die einer Gastgeberin.

Emma durchquert anmutig den Raum. »Mom, das ist mein Besuch. Das ist Galen Forza.«

Er lächelt und streckt die Hand aus, um sie zu begrüßen. Genauso hat Rachel es ihm beigebracht. »Hi, Mrs McIntosh. Freut mich, Sie kennenzulernen.«

Sie kommt ihm auf halbem Weg entgegen und nimmt seine Hand. Ihr Händedruck ist selbstbewusst, aber nicht zu dominant und löst nicht das kleinste Kribbeln aus. Nicht, dass er wirklich eine elektrisierende Spannung erwartet hätte, aber sie ist immerhin Emmas Mutter. Aus der Nähe bemerkt er das Grau, das sich in dünnen Strähnen durch ihr Haar zieht. Spuren des Alters; ein menschlicher Prozess. Ihr Tonfall ist ausgesprochen höflich, aber ihre Augen – blau, keine Kontaktlinsen, soweit er das erkennen kann – sind geweitet, und ihr Mund schließt sich niemals ganz. »Oh. Galen.« Sie dreht sich zu Emma um. »Das ist Galen?«

Er erkennt, dass sie Emma mit dieser Frage noch eine andere Frage stellt – eine, die nichts damit zu tun hat, dass er ein Syrena ist. Er schiebt die Hände in die Taschen und fängt an, den Teppich anstatt ihres Gesichts zu mustern, wobei er jeden einzelnen Faden einer ausführlichen Betrachtung unterzieht. Er kann ihr nicht in die Augen sehen, weil er ahnt, was sie sich in diesem Moment ausmalt. Idiot! Sie macht sich keine Sorgen darüber, warum Galen, der Syrena, in ihrem Haus ist. Sie macht sich Sorgen, warum Galen, der menschliche Junge, hier ist.

Emma räuspert sich. »Yep. Das ist er.«

»Ich verstehe. Würdest du uns für einen Moment entschuldigen, Galen? Emma, kann ich bitte unter vier Augen mit dir sprechen? Oben?«

Sie wartet die Antwort gar nicht erst ab. Bevor Emma ihr nach oben folgt, wirft sie ihm ein Ich-hab’s-doch-gesagt-Grinsen zu. Das er mit einem Nicken quittiert.

Da er sich nicht gerade dazu eingeladen fühlt, durchs Haus zu streifen und alle Bilder anzusehen, trottet er zum Fenster und starrt durch das Dünengras hindurch. Von oben dringen keine Geräusche herunter – weder Geschrei noch sonst irgendetwas –, aber er ist sich nicht sicher, ob das gut oder schlecht ist. Menschen lösen ihre Probleme anders als Syrena und selbst innerhalb ihrer Art völlig unterschiedlich. Sicher, die Königsfamilie neigt zu Jähzorn. Aber die meisten Syrena holen sich Hilfe von einer dritten Partei. Sie suchen sich einen Vermittler, der für Fairness sorgt. Menschen tun das nie. Sie lösen ihre Konflikte lieber mit Geschrei, Streit und manchmal sogar mit Mord – Rachel ist ein perfektes Beispiel dafür. Als er sie gefunden hat, war sie an einen Betonblock gefesselt, den jemand ins Meer geworfen hatte. Er war damals erst dreizehn Jahre alt, aber er erinnert sich noch genau daran, wie schnell sie sank, zappelnd wie ein lebendiger Köder, und wie sie trotz des Klebebands über ihrem Mund versuchte zu schreien. Und die Knoten. Er hat sich die Finger blutig gerissen, um diese Knoten zu lösen.

Als er sie ans Ufer brachte, hat sie ihn angefleht, sie nicht zu verlassen. Er wollte nicht bleiben, aber sie hat so heftig gezittert, dass er dachte, sie würde ohnehin sterben. Grom hatte ihn gelehrt, wie man ein Feuer macht – etwas, das die meisten Syrena erst lernen, wenn die Zeit gekommen ist, sich auf den Inseln zu paaren. Er hat ein paar Fische gefangen und sie gegrillt. Eine vorsichtige Neugier ließ ihn verweilen, während sie aß. Jeder andere erwachsene Mensch wäre vollkommen aus dem Häuschen gewesen, wenn er seine Flosse gesehen hätte. Aber Rachel nicht. Tatsächlich hat sie sie so gut ignoriert, dass er dachte, sie wäre ihr vielleicht gar nicht aufgefallen. Bis sie ihm erzählt hat, dass sie die letzten dreißig Jahre damit verbracht hat, die Geheimnisse anderer Leute zu hüten. Warum also nicht auch seins? Er ist die ganze Nacht bei ihr geblieben, während sie immer wieder einnickte. Am nächsten Morgen wollte er seiner Wege gehen, doch das ließ sie nicht zu. Sie hat darauf bestanden, sich für seine Hilfe zu revanchieren. Widerstrebend hat er zugestimmt.

Er hat sie gebeten, ihm im Gegenzug von den Menschen zu erzählen, und sich jede Nacht mit ihr am Strand getroffen, an einem Ort, den sie Miami nannte. Sie hat alle Fragen beantwortet, die ihm einfielen, und auch alle, auf die er gar nicht gekommen wäre. Als er das Gefühl hatte, dass sie ihre Schuld beglichen hatte, bestand er darauf, nun wieder getrennte Wege zu gehen. Das war der Moment, in dem sie anbot, seine Assistentin zu werden. Sie hat gesagt, dass er ihre speziellen Fähigkeiten brauchen würde, um wirklich genug über die Menschen zu lernen, um seine Art vor ihnen zu beschützen. Als er sie fragte, welche Fähigkeiten sie meine, hat sie einfach entgegnet: »Ich kann so ziemlich alles tun. Das ist der Grund, warum sie versucht haben, mich zu töten, Äffchen. Manche Menschen mögen es nicht, wenn man zu viel weiß.« Inzwischen hat sie unzählige Male bewiesen, was genau sie alles kann. Ihr gemeinsamer Insiderwitz ist, dass er der reichste Nichtmensch des Planeten ist.

Schritte im Treppenhaus holen ihn zurück in die Gegenwart. Er dreht sich um, als Emmas Mutter gerade den Essbereich betritt. Emma folgt ihr auf dem Fuß.

Mrs McIntosh gleitet auf ihn zu und legt den Arm um ihn. Das Lächeln auf ihrem Gesicht ist aufrichtig, während Emmas ganz schmal wird. Und sie errötet.

»Galen, ich freue mich sehr, dich kennenzulernen«, sagt sie und führt ihn in die Küche. »Emma hat mir erzählt, dass du sie heute zum Strand hinter deinem Haus mitnehmen möchtest. Wollt ihr schwimmen?«

»Ja, Ma’am.« Dass sie wie ausgetauscht ist, weckt seinen Argwohn.

Sie lächelt. »Na, dann viel Glück damit, sie ins Wasser zu bekommen. Leider bin ich ein wenig in Eile und kann euch nicht begleiten. Deshalb muss ich nur deinen Führerschein sehen. Emma läuft inzwischen nach draußen und notiert dein Nummernschild.«

Emma verdreht die Augen, wühlt in einer Schublade und zieht Stift und Papier hervor. Als sie das Haus verlässt, schlägt sie die Tür mit solcher Wucht hinter sich zu, dass das Essgeschirr an der Wand erzittert.

Galen nickt, holt seine Brieftasche heraus und reicht ihr den gefälschten Führerschein. Mrs McIntosh studiert ihn und stöbert in ihrer Handtasche, bis sie einen Stift zutage fördert. Damit schreibt sie sich etwas auf die Hand. »Ich brauche die Führerscheinnummer nur für den Fall, dass wir jemals irgendwelche Probleme bekommen. Aber das werden wir nicht, nicht wahr, Galen? Du wirst meine Tochter – meine einzige Tochter – immer pünktlich nach Hause bringen, habe ich recht?«

Er nickt, dann schluckt er. Sie hält ihm seinen Führerschein hin. Als er ihn nimmt, packt sie sein Handgelenk und zieht ihn zu sich heran. Sie wirft einen schnellen Blick zur Garagentür hinüber, dann wieder zu ihm. »Heraus damit, Galen Forza. Gehst du mit meiner Tochter oder nicht?«

Na toll. Sie glaubt Emma immer noch nicht. Wenn sie ihnen nicht glauben will, warum dann weiter versuchen, sie zu überzeugen? Wenn sie denkt, dass sie miteinander gehen, wäre es doch völlig normal, dass Emma und er Zeit miteinander verbringen. Wenn er aber Zeit mit Emma verbringen möchte und ihrer Mutter sagt, dass sie nicht miteinander gehen, wird sie nur misstrauisch werden. Wahrscheinlich wird sie ihnen sogar nachspionieren – was ziemlich übel wäre.

Die einzige Möglichkeit sicherzustellen, dass sie sich mit Grom verbindet, ist also, mit ihr zu gehen. Die Dinge fangen an, immer besser zu laufen. »Ja«, antwortet er. »Wir gehen definitiv miteinander.«

Sie kneift die Augen zusammen. »Und warum sagt sie dann etwas anderes?«

Er zuckt die Achseln. »Vielleicht schämt sie sich für mich.«

Zu seiner Überraschung kichert sie. »Das bezweifele ich ernsthaft, Galen Forza.« Ihr Humor ist kurzlebig. Sie krallt eine Hand in sein T-Shirt. »Schläfst du mit ihr?«

Schlafen … Hat Rachel nicht gesagt, dass miteinander schlafen und sich paaren das Gleiche ist? Miteinander gehen und miteinander verbinden ist ähnlich. Aber schlafen und paaren ist genau das Gleiche. Er schüttelt den Kopf. »Nein, Ma’am.«

Sie zieht eine Red-bloß-keinen-Stuss-Augenbraue hoch. »Warum nicht? Stimmt etwas mit meiner Tochter nicht?«

Das kommt ziemlich unerwartet. Er hat den Verdacht, dass diese Frau eine Lüge genauso aufspüren kann wie Toraf Rayna. Alles, wonach sie sucht, ist Aufrichtigkeit, aber die echte Wahrheit würde ihn nur ins Gefängnis bringen. Ich bin verrückt nach Ihrer Tochter – ich spare sie nur für meinen Bruder auf. Also würzt er seine Antwort mit der Offenheit, die sie anscheinend unbedingt hören will. »Ihre Tochter ist umwerfend, Mrs McIntosh. Ich sagte, wir schlafen nicht miteinander. Ich habe nicht gesagt, dass ich es nicht will.«

Sie atmet scharf ein und lässt ihn los. Dann räuspert sie sich, streicht mit der Hand ihre zerknitterte Bluse glatt und tätschelt seine Brust. »Gute Antwort, Galen. Gute Antwort.«

Emma reißt die Garagentür auf und bleibt wie angewurzelt stehen. »Mom, was machst du da?«

Mrs McIntosh tritt beiseite und geht zur Theke. »Galen und ich haben nur ein wenig geplaudert. Warum hast du so lange gebraucht?«

Galen schätzt, dass ihre Fähigkeit, eine Lüge zu spüren, wahrscheinlich in direktem Zusammenhang mit ihrer Fähigkeit steht, eine zu erzählen. Emma wirft ihm einen fragenden Blick zu, den er nur mit einem lässigen Achselzucken erwidert. Ihre Mutter schnappt sich einen Schlüsselring von einem Haken neben dem Kühlschrank und schiebt ihre Tochter aus dem Weg, jedoch nicht ohne ihr das Blatt Papier aus der Hand zu reißen. In der Tür dreht sie sich noch einmal um. »Oh, und Galen?«

»Ja, Ma’am?«

»Deine Mutter soll mich anrufen, damit ich ihre Nummer in mein Telefon einspeichern kann.«

»Ja, Ma’am.«

»Also dann, ihr Lieben, amüsiert euch gut. Ich werde erst ziemlich spät wieder zu Hause sein, Emma. Aber du bist um neun wieder da, Schätzchen. Das wird sie doch, nicht wahr, Galen?«

»Ja, Ma’am.«

Weder Emma noch Galen machen einen Mucks, bis sie hören, wie der Wagen aus der Einfahrt fährt. Selbst dann warten sie noch einige Sekunden. Emma lehnt sich an den Kühlschrank. Galen versteckt seine Hände in den Hosentaschen.

»Also, worüber habt ihr beiden geplaudert?«, fragt sie, als interessiere es sie gar nicht.

»Du zuerst.«

Sie schüttelt den Kopf. »M-mh. Ich will nicht darüber reden.«

Er nickt. »Gut. Ich auch nicht.«

Für einige Sekunden ist alles andere im Raum so interessant, dass sie sich nicht ansehen müssen. Schließlich sagt Galen: »Also, möchtest du dich vielleicht umziehen gehen …«

»Bombastische Idee. Bin gleich wieder da.« Sie fängt fast an zu rennen, um zur Treppe zu kommen.