24
Endlich ist Freitagabend.
Galen biegt in Emmas Straße ein und geht im Geiste Rachels To-Do-Liste für die Verabredung heute Abend durch. Er ist entschlossen, Emma den ganzen Abend über gut zu unterhalten; sie hat Ablenkung noch nötiger als er. Sie hat ihn mit Fragen über ihren Vater bombardiert. Galen hat ihr alles erzählt, was die Archive gesagt haben. Sie hat ihm ihre Geburtsurkunde gezeigt – von der Rachel bestätigt hat, dass sie entweder echt ist oder die beste Fälschung, die sie je gesehen hat – genau wie ihre Babyfotos. Das alles bestätigt nur den Schluss, den er bereits gezogen hat: Emmas Vater war ein Nachfahre der Halbblüter. Er hatte das blonde Haar und die helle Haut. Außerdem trug er Kontaktlinsen. Emma schwört, dass sie nicht farbig waren, aber Galen ist sich sicher, dass sie sich irrt. Sie müssen es gewesen sein.
Es gibt noch andere Hinweise. Ihr Vater liebte den Ozean. Er war verrückt nach Meeresfrüchten. Er glaubte Emma, als sie ihm von den Seewölfen erzählt hat, die sie gerettet haben. Warum sollte er ihr glauben, wenn er nicht gewusst hätte, was sie ist? Und als Arzt muss er über alle ihre körperlichen Anomalien Bescheid gewusst haben. Wie könnte er kein Halbblut gewesen sein?
Aber Emma sträubt sich gegen Galens Schlussfolgerung, weil sie sich nicht »richtig anfühlt«.
Apropos Dinge, die sich nicht richtig anfühlen … Während er seinen neuen SUV in die Einfahrt lenkt, überflutet die Aufregung seinen Magen wie Hochwasser. Als er aussteigt, bemerkt er, dass er sich viel lieber vom Sitz heruntergleiten lässt, als sich aus einer engen Todesfalle wie dem Cabrio herauszuhieven. Er ist fast froh darüber, dass Rayna den roten Wagen um einen Baum gewickelt hat – abgesehen davon, dass sie und Emma dabei hätten verletzt werden können. Er schüttelt den Kopf und knirscht in seinen veloursledernen Timberlands durch den Kies auf Emmas Einfahrt.
Selbst über dieses Geräusch hinweg hört er das Hämmern seines Herzens. Schlägt es schneller als gewöhnlich? Er hat noch nie zuvor darauf geachtet, daher kann er es nicht sagen. Er schiebt es auf Paranoia, klopft an die Tür und verschränkt die Hände ineinander. Ich sollte das hier lieber sein lassen. Es ist falsch. Sie könnte immer noch Grom gehören.
Aber als Emma die Tür öffnet, sind seine Zweifel wie weggeblasen. Ihr kurzes, purpurnes Kleid betont das Violett ihrer Augen, das ihm geradezu entgegenspringt. »Tut mir leid«, murmelt sie. »Mom hat einen Anfall gekriegt, als ich versucht habe, das Haus in Jeans zu verlassen. Ich schätze, sie ist da altmodisch. Du weißt schon: ›Du musst dich fürs Kino in Schale werfen‹, sagt die Frau, die nicht einmal ein Kleid besitzt.«
»Sie hat mir einen Gefallen getan«, erwidert er, dann steckt er die Hände in die Taschen. Sie will mich wohl ins Grab bringen.
Nachdem sie ihre Eintrittskarten gekauft haben, zieht Emma ihn zu der Schlange vor dem Imbissstand. »Galen, macht es dir etwas aus?«, fragt sie, während sie mit dem Finger einen verwirrenden Kreis auf seinen Arm zeichnet und damit so ziemlich überall in seinem Körper Feuer entfacht. Er erkennt, dass es Übermut ist, der in ihren Augen blitzt, aber nicht, was für ein Spiel sie da spielt.
»Hol dir, was immer du willst, Emma«, antwortet er. Mit einem koketten Lächeln bestellt sie Süßigkeiten, Limo und Popcorn im Wert von fünfundsiebzig Dollar. Dem Gesichtsausdruck der Kassiererin nach muss das eine Menge Geld sein. Wenn das Spiel darin besteht, sein ganzes Geld auszugeben, wird sie enttäuscht sein. Er hat genug Bares für fünf weitere Armladungen von diesem Zeug dabei. Er hilft Emma, zwei brunnengroße Drinks, zwei Eimer Popcorn und vier Schachteln Süßigkeiten zur obersten Reihe des halb vollen Kinos zu tragen.
Als sie auf ihrem Platz sitzt, macht sie sich über eine der Schachteln her und kippt den Inhalt in ihre Hand. »Schau mal, Süßlippe, ich habe deine Lieblingsköder gekauft: Zitronenköpfchen!« Süßlippe? Was zur … Bevor er sichs versieht, hat sie ihm schon drei davon in den Mund gestopft.
Im nächsten Moment kräuseln sich seine Lippen, was ihr ein bösartiges Kichern entlockt. Sie steckt einen Strohhalm in einen der Becher und reicht ihn ihm. »Trink das hier besser mal«, flüstert sie. »Um den Bonbons den Biss zu nehmen.«
Er hätte es besser wissen müssen. Das Getränk ist so voller Bläschen, dass es bis zu seinen Nasenlöchern hinaufblubbert. Sein Stolz hindert ihn daran zu husten. Sein Stolz und das Zitronenköpfchen, das sich in seiner Kehle verkeilt hat. Er muss noch ein paarmal hintereinander schlucken, bis er es hinunterbekommt.
Einige Minuten, eine Kostprobe von fettigem Popcorn und eine Limonade später wird das Licht endlich gedimmt und verschafft Galen eine Atempause.
Während sich Emma in das vertieft, was sie »blöde Vorschau« nennt, entschuldigt sich Galen, um sich auf dem Klo zu übergeben. Diese Runde geht an Emma.
Als er zu seinem Platz zurückkehrt, ist Emma verschwunden, aber ihr Arsenal an Snacks hat sie zurückgelassen. Spielt keine Rolle mehr. Sie hat einen Krieg angezettelt. Da sich seine Augen nur im Wasser an die Dunkelheit anpassen, muss er sich auf das Kribbeln verlassen, um sie zu finden. Sie sitzt einige Reihen weiter unten, auf der anderen Seite der Leinwand. Er setzt sich auf den leeren Platz neben ihr und wirft ihr einen fragenden Blick zu. Die Leinwand leuchtet so hell auf, dass er sehen kann, wie sie die Augen verdreht. »Wir haben vor einem Haufen Kids gesessen«, flüstert sie. »Die haben zu viel geredet.«
Er seufzt und zappelt auf seinem Sitz herum, um es sich bequem zu machen – das wird ein langer Abend. Menschen zwei Stunden lang dabei zu beobachten, wie sie so tun, als ob, lässt ihn nicht gerade vor Freude mit der Flosse schnalzen. Aber er kann erkennen, dass Emma unruhig wird. Genau wie er.
Gerade als er einnickt, knallt es laut auf der Leinwand. Emma krallt sich an seinen Arm, als lasse er sie von einer Klippe baumeln. Sie presst das Gesicht in seinen Bizeps und stöhnt. »Ist es schon vorbei?«, flüstert sie.
»Der Film?«
»Nein. Das Ding, das sie angesprungen hat. Ist es weg?«
Galen kichert und löst seinen Arm aus ihrem Griff, dann legt er ihn um sie. »Nein. Du solltest unbedingt da bleiben, wo du jetzt bist, bis ich dir sage, dass alles wieder gut ist.«
Sie reißt den Kopf hoch, aber ihre Augen lächeln beinahe. »Vielleicht nehme ich dich beim Wort, gefakte Verabredung hin oder her. Ich hasse Gruselfilme.«
»Warum hast du mir das nicht gesagt? In der Schule haben alle fast angefangen zu sabbern, wenn es um diesen Film ging.«
Die Dame neben Emma beugt sich vor. »Scht!«, flüstert sie demonstrativ laut.
Emma schmiegt sich in seine Armbeuge und vergräbt in regelmäßigen Abständen das Gesicht an seiner Brust, während der Film weiterläuft. Galen muss sich eingestehen, dass die Menschen das alles ziemlich real aussehen lassen können. Trotzdem kann er nicht verstehen, warum Emma Angst hat, wenn sie doch weiß, dass es nur Schauspieler auf einer Leinwand sind, die dafür bezahlt werden, dass sie schreien wie kochende Hummer. Aber er kann sich nicht beklagen. Wegen ihrer überzeugenden Darbietung kann er Emma fast zwei geschlagene Stunden im Arm halten.
Nach dem Film fährt er den Wagen an den Straßenrand und öffnet die Tür für sie, genau wie Rachel es ihm eingebläut hat. Emma nimmt seine Hand, als er ihr beim Einsteigen hilft.
»Wie sollten wir unser neues kleines Spiel nennen?«, fragt er auf dem Heimweg.
»Spiel?«
»Du weißt schon, ›nimm ein paar Zitronenköpfchen, Süßlippe‹.«
»Oh, richtig.« Sie lacht. »Wie wäre es mit … Kotzen?«
»Klingt passend. Dir ist doch wohl klar, dass du jetzt an der Reihe bist, oder? Ich habe daran gedacht, dich eine lebende Krabbe essen zu lassen.«
Sie beugt sich zu ihm hinüber. Er kommt fast von der Straße ab, als ihre Lippe sein Ohr streift. »Wo willst du denn eine lebende Krabbe herbekommen? Ich muss nur den Kopf ins Wasser strecken und ihr sagen, dass sie abhauen soll.«
Er grinst. Sie fühlt sich langsam wohler mit ihrer Gabe. Gestern hat sie ihm einige Delfine auf den Hals gehetzt. Am Tag davor hat sie jedes lebendige Wesen in der unmittelbaren Umgebung angewiesen, sich zurückzuziehen, als ein Fischerboot über ihnen vorbeiglitt.
Sie biegen in ihre Einfahrt ein und er schaltet den Motor aus. Es scheint, als würde jede Macht im Universum ihn auf sie zudrängen – wie ein Magnet. Oder vielleicht zieht jede Macht im Universum sie zu ihm. Genau wie Toraf es gesagt hat. So oder so, er ist es leid, dagegen anzukämpfen. Irgendetwas muss passieren. Und es muss bald passieren.
Er öffnet seine Tür, aber sie legt eine Hand auf seine und hält ihn zurück. »Du musst mich nicht bis zur Tür begleiten«, sagt sie. »Mom ist jetzt nicht zu Hause, also brauchen wir keine Show abzuziehen, okay? Danke für den Film. Wir sehen uns morgen.«
Und das war’s. Sie steigt aus, geht zur Haustür und schließt auf. Nach einigen Sekunden schaltet sie die Verandalichter aus. Galen setzt rückwärts aus der Einfahrt. Das Gefühl von Leere, das ihn überkommt, als er in die Hauptstraße einbiegt, hat nichts damit zu tun, dass er das Kotzspiel verloren hat.
Aus dem Augenwinkel sieht er, wie Emma die rosafarbene Geschenktüte auf der Kücheninsel betrachtet. Er weiß, es ist grausam, mit ihrer Neugier zu spielen, aber er kann einfach nicht anders. Sie ist immer noch bei Aufgabe zwei ihrer Hausaufgabe in Infinitesimalrechnung. Und das schon seit fast einer Stunde.
Sie runzelt die Stirn und lässt ihren Bleistift auf die Theke krachen. »Ich hasse es, samstags Hausaufgaben zu machen«, sagt sie. »Das ist alles deine Schuld. Du musst aufhören zu schwänzen. Dann würde ich mich nicht verpflichtet fühlen, ebenfalls produktiv zu sein, während du den ganzen Stoff nachholst.« Sie reißt ihm den Bleistift aus der Hand und schleudert ihn durch die Küche. Dabei verfehlt sie Rachel, die neben dem Kühlschrank steht, nur um Haaresbreite. Rachel wirft ihnen einen fragenden Blick zu, macht aber weiter sauber.
Galen grinst. »Wir könnten auch einfach chillen, wenn du magst.«
Emma sieht Rachel mit hochgezogenen Augenbrauen an. Rachel beteuert ihre Unschuld. »M-mh. Schau mich nicht so an. Ich hab ihm das nicht beigebracht.«
»Hab ich ganz allein gelernt«, sagt er und hebt den Bleistift vom Boden auf.
»Was du nicht sagst«, höhnt Emma.
»Ah, bitte hass mich nicht dafür, Liebes.«
»Okay. Bei ›Liebes‹ ist die Grenze erreicht. Und ›Kleines‹ geht auch gar nicht«, erwidert Emma.
Er lacht. »Das wäre das Nächste gewesen.«
»Zweifellos. Also, hat dir jemand erklärt, wie man chillt?«
Galen zuckt die Achseln. »Soweit ich das verstanden habe, ist Chillen so was wie im Koma liegen, nur wach.«
»Das trifft es so ziemlich.«
»Ja. Klingt nicht allzu reizvoll. Sind alle Menschen faul?«
»Treib es nicht zu weit, Hoheit.« Aber sie grinst.
»Wenn du mich Hoheit nennst, nenne ich dich ›Liebes‹. Basta.«
Emma knurrt, aber es klingt nicht so grimmig, wie sie es beabsichtigt. Im Gegenteil, es klingt einfach nur bezaubernd. »Himmel! Ich werde dich auch nicht Majestät nennen. Und du. Wirst. Mich. Niemals. ›Liebes‹ nennen.«
Als er nickt, wird sein Grinsen so breit, dass es mindestens von einem Ohr zum anderen reicht. »Habe ich … habe ich etwa gerade einen Streit gewonnen?«
Sie verdreht die Augen. »Sei nicht dumm. Es steht unentschieden.«
Er lacht. »Wenn du sagst, dass ich gewonnen habe, lasse ich dich dein Geschenk auspacken.«
Sie wirft einen Blick auf die Geschenktüte und beißt sich auf die Unterlippe – hinreißend. Dann guckt sie wieder zu ihm hinüber. »Vielleicht ist mir das Geschenk ja egal.«
»Oh, es ist dir definitiv nicht egal«, sagt er zuversichtlich.
»Oh doch, es IST mir definitiv egal«, erwidert sie und verschränkt die Arme.
Er fährt sich mit der Hand durchs Haar. Wenn sie es noch komplizierter macht, wird er ihr sagen müssen, wohin sie gehen. Er zuckt ganz lässig mit den Achseln. »Das ändert alles. Ich dachte nur, weil du Geschichte magst … aber egal, vergiss es einfach. Ich werde dich damit nicht mehr belästigen.« Er steht auf, geht zu der Tüte hinüber und befingert das gepunktete Seidenpapier, mit dem Rachel sie ausgestopft hat.
»Selbst wenn ich sage, dass du gewonnen hast, ist es trotzdem eine Lüge, weißt du?«, brummt Emma beleidigt.
Galen schluckt den Köder nicht. Nicht heute. »Schön. Dann ist es eine Lüge. Ich will nur, dass du es sagst.«
Mit einem Gesichtsausdruck, der irgendwo zwischen Überraschung und Misstrauen schwankt, sagt sie es. Und es klingt so süß von ihren Lippen. »Du hast gewonnen.«
Als er ihr die Tüte bringt, ist ihm so schwindlig, als hätte er selbst ein Geschenk bekommen. Hat er ja auch irgendwie. Als er auf dem Rückweg von der Höhle der Erinnerungen an dem Wrack vorbeigekommen ist, wusste er, dass er sie dorthin mitnehmen muss. »Hier. Zieh dich um. Die Maske und die Flossen brauchst du nicht, aber ich will, dass du den Anzug trägst. Er soll deine Körperwärme bewahren. Er kann einen Menschen ein paar Stunden lang in eisigen Temperaturen am Leben erhalten, da solltest du es also schön warm haben.«
Sie späht in die Tüte. »Ein Taucheranzug? Warum sollte ich den brauchen?«
Er verdreht die Augen. »Geh, zieh dich um.«
Als sie aus dem Badezimmer kommt, fällt er fast vom Hocker. Der Anzug schmiegt sich um jede Rundung ihres Körpers. Das Einzige, was ihm nicht gefällt, ist ihr Stirnrunzeln. »Ich sehe in diesem Ding aus wie ein Seehund«, sagt sie und zeigt auf die Kapuze. Er grinst. »Behalt sie auf. Wenn wir dort ankommen und dir warm genug ist, kannst du sie ausziehen, versprochen.«
Sie nickt ungeduldig. »Ich hoffe, die Sache lohnt sich.«
Um Emmas Sauerstoff zu sparen, bleiben sie an der Oberfläche. Gelegentlich taucht Galen unter, um zu überprüfen, wo sie sind. Beim letzten Mal lächelt er breit. »Wir sind da.«
Sie erwidert sein Lächeln. »Endlich. Ich dachte schon, wir würden nach Europa schwimmen.«
»Noch ganz kurz, bevor wir runtergehen: alles klar bei dir? Ist dir kalt?«
Sie schüttelt den Kopf. »Überhaupt nicht. Mir ist sogar ziemlich warm. Dieses Ding funktioniert richtig gut.«
»Gut. Tief einatmen, okay? Dr. Milligan hat mir erklärt, dass ich dich langsam nach unten ziehen soll, damit dein Körper auf jeden Fall damit fertigwird. Wenn du ein Gefühl der Enge in der Brust spürst oder irgendetwas anderes Unangenehmes, musst du es mir sofort sagen. Wir gehen tiefer runter als zehn Empire State Buildings.«
Sie nickt mit großen Augen. Ihre Wangen röten sich entweder vor Aufregung oder weil ihr tatsächlich zu heiß ist. Er lächelt, als er ihre Taille mit beiden Armen umfasst. Während sie in die Tiefe sinken, spricht sie mit den neugierigen Fischen, die um sie herumhuschen. Aber schon bald werden es weniger Fische, bis es Galen schließlich überraschen würde, noch welche zu sehen, die nicht leuchten.
»Wie hast du Dr. Milligan eigentlich kennengelernt?«, fragt sie, als wäre ihr der Gedanke eben erst gekommen.
»Ich habe ihm das Leben gerettet. Oder besser gesagt haben wir einander das Leben gerettet.«
Sie bettet den Kopf an sein Kinn. »Sagt der Junge, der Menschen hasst.«
»Ich hasse Menschen nicht.« Zumindest nicht mehr.
Nach einigen Minuten zappelt sie in seinen Armen. »Und?«, fragt sie.
Er dreht sie zu sich. »Und was?«
»Wirst du mir erzählen, wie du Dr. Milligan das Leben gerettet hast?«
»Du bist wirklich die neugierigste Person, die ich kenne. Das macht mir Sorgen.«
»Sollte es auch.«
Er lacht leise. Als sie eigensinnig eine Augenbraue hochzieht, seufzt er. »Toraf, Rayna und ich haben an einigen Riffen vor der Küste des Brückenlandes gespielt – ähm, Mexiko nennt ihr es. Wir waren ungefähr zehn Jahre alt, denke ich. Wie auch immer, Dr. Milligan hat auf der anderen Seite mit zwei Freunden geschnorchelt. Wir haben darauf geachtet, ihnen nicht zu nahe zu kommen, aber Dr. Milligan ist vom Rest der Gruppe getrennt worden. Ich habe ihn auf unserer Seite gefunden, er lag auf dem Grund und hielt sein Bein umklammert; er hatte einen Krampf. Ich konnte erkennen, dass er fast ohnmächtig geworden wäre. Ich habe ihn an die Oberfläche geholt. Seine Freunde haben uns gesehen und ihn ins Boot gezogen. Sie haben meine Flosse entdeckt; ich konnte damals noch nicht besonders gut Menschengestalt annehmen. Oder Tarngestalt. Sie haben versucht, mich auch in ihr Boot zu hieven.«
Emma macht ein zischendes Geräusch. Galen schenkt ihr ein schiefes Lächeln. »Davon wirst du doch keine Albträume kriegen, oder? Du weißt, wie die Geschichte endet. Das Gute hat gesiegt.«
Sie kneift ihn. »Erzähl weiter.«
»Dr. Milligan hat das Boot in Bewegung gesetzt und so stark beschleunigt, dass sie das Gleichgewicht verloren und mich fallen gelassen haben. Ende.«
»Neiiiiin. Nicht Ende. Wie habt ihr euch wiedergefunden? Das war, bevor du Rachel kennengelernt hast, oder?«
Er nickt. »Ich habe ihn erst ein Jahr später wieder getroffen. Ich bin immer wieder zu dem Riff zurückgekehrt, weil ich dachte, er würde es vielleicht auch tun. Und eines Tages ist er gekommen.«
»Was ist mit seinen Freunden? Haben sie nach dir gesucht?«
Galen lacht. »Sie suchen immer noch nach mir. Und sie sind schon lange nicht mehr seine Freunde.«
»Machst du dir keine Sorgen, dass sie jemandem von dir erzählt haben könnten?«
Er zuckt die Achseln. »Niemand glaubt ihnen. Dr. Milligan hat die ganze Sache den menschlichen Behörden gegenüber abgestritten. Es steht sein Wort gegen ihres.«
»Mmh«, macht sie nachdenklich.
Die nächsten Minuten verbringen sie schweigend. Gerade als er denkt, dass er es nicht länger ertragen kann, fängt sie wieder an zu sprechen.
»Jetzt ist mir definitiv nicht mehr heiß«, sagt Emma. Galen hält inne. »Nein«, fügt sie hastig hinzu. »Es fühlt sich gut an. Los, weiter!«
An diesem Punkt würde sie alles sagen, was er hören will, um die Überraschung zu sehen. Und es wäre unmöglich, das Gegenteil zu beweisen. In Wahrheit ist er aufgeregt, weil der große Moment nun gekommen ist.
Als sie sich der Stelle nähern, dreht er Emma wieder zu sich. »Schließ die Augen. Ich will, dass es eine richtige Überraschung wird.«
Sie lacht. »Ich weiß ja nicht mal, wo wir sind! Wir könnten sogar am Nordpol sein. Ich habe doch schon an Land keinen Orientierungssinn, Galen.«
»Egal, schließ die Augen trotzdem.«
Als sie gehorcht, erhöht er seine Geschwindigkeit und schwimmt am Grund des Ozeans entlang, bis sich das Wrack vor ihnen abzeichnet. Er dreht sie wieder um. »Mach die Augen auf, Emma«, flüstert er.
Er weiß ganz genau, wann sie sie geöffnet hat. Sie keucht ungläubig. Er wusste, dass sie es erkennen würde. »Die Titanic«, haucht sie. »Omeingott.«
Er schwimmt mit ihr zum Rumpf. Sie streckt die Hand aus, um die Reling zu berühren, die sie aus dem Kino kennt. »Vorsicht mit dem Rost«, warnt er.
»Sie sieht so verlassen aus. Genau wie auf den Bildern.«
Er hilft ihr über die Reling und stützt ihr Körpergewicht, sodass sie das Deck mit den Füßen berühren kann. Der aufgewühlte Schlamm schwebt geisterhaft um sie herum. Emma lacht. »Wäre es nicht komisch, hier frische Fußabdrücke zu hinterlassen? Ich wette, sie würden sich alle möglichen Geistergeschichten ausdenken. Das würde Schlagzeilen machen.«
»Es würde nur den Verkehr hier unten erhöhen. Es werden bereits Ausflüge zur Titanic an Touristen verkauft, die es sich leisten können.«
Sie kichert.
»Was?«, fragt er lächelnd.
»Hinten in meinem Schrank steht ein großer Glaskrug. Als das Thema letztes Jahr in der Schule dran war, habe ich angefangen, mein ganzes Kleingeld reinzuwerfen, um für eine dieser Touren zu sparen.«
Er kichert und hebt sie vom Deck, um weiterzuziehen. »Wofür wirst du das Geld jetzt ausgeben?«
»Wahrscheinlich für diese Pralinen, die Rachel immer kauft. Ich hoffe, es reicht.«
Er bringt sie überall hin, wo sie will. Backbord, zum Anker, zum riesigen Propeller. Er dringt in das Innere des Schiffes und zeigt ihr die Offizierskabinen, die verfallenen Flure, die Fensterrahmen ohne Glas. »Wir können tiefer hinunter, wenn sich deine Augen anpassen.«
Sie nickt. »Es ist, als würde der Mond in einer klaren Nacht scheinen. Wenn ich mich wirklich konzentriere, kann ich fast alles sehen.«
»Gut.« Er erreicht ein Loch im Boden des Flures und zeigt in die Dunkelheit. »Kein Mensch ist mehr hier unten gewesen, seit das Schiff gesunken ist. Bist du bereit?«
Er kann das Zögern in ihren Augen sehen. »Was ist?«, fragt er. »Geht es dir nicht gut? Geht dir die Luft aus? Ist der Druck zu stark?« Er presst sie fest an sich, bereit, sofort nach oben zu schießen, wenn sie irgendeine seiner Fragen mit Ja beantwortet. Stattdessen schüttelt sie den Kopf und beißt sich auf die Unterlippe.
»Nein, das ist es nicht«, sagt sie mit brechender Stimme.
Er hält inne. »Bei Tritons Dreizack, Emma, was ist los? Weinst du?«
»Ich kann nichts dagegen machen. Begreifst du, was das hier ist? Es ist ein stählerner Sarg für mehr als fünfzehnhundert Menschen. Mütter sind hier mit ihren Kindern ertrunken. Leute, die durch diese Flure gegangen sind, wurden unter ihnen begraben. Von dem Geschirr, das hier überall zerbrochen herumliegt, haben sie gegessen. Irgendjemand hat tatsächlich diesen Stiefel getragen, an dem wir vorbeigekommen sind. Seeleute haben ihre Familien an dem Tag, an dem das Schiff den Hafen verließ, zum letzten Mal geküsst. Als wir es in der Schule durchgenommen haben, hat es mich wegen all dieser Menschen traurig gemacht. Aber es hat sich niemals so echt angefühlt wie jetzt. Es ist herzzerreißend.«
Er streicht mit dem Handrücken über ihre Wange und stellt sich die Träne vor, die dort sein würde, wenn sie nicht zwölf Meilen tief unter Wasser wären. »Ich hätte dich nicht hierherbringen sollen. Es tut mir leid.«
Sie ergreift seine Hand, jedoch nicht um sie abzuwehren. »Machst du Witze? Das ist die beste Überraschung aller Zeiten. Mir fällt nichts ein, was das hier übertreffen könnte. Im Ernst.«
»Dann willst du also weitermachen? Oder hast du genug gesehen?«
»Nein, ich will weitermachen. Ich hatte einfach das Gefühl, dass ich das, was hier vor all den Jahren passiert ist, würdigen sollte. Um eine respektvolle Besucherin zu sein und keine hirnlose Touristin.«
Er nickt. »Wir werden uns weiter unten ein paar Minuten lang umsehen, dann muss ich dich wieder nach oben bringen. Wir müssen langsam auftauchen, damit deine Lunge sich anpassen kann. Aber ich verspreche dir, ich werde dich wieder herbringen, wenn du möchtest.«
Sie lacht. »Tut mir leid, aber ich glaube, das ist mein neuer Lieblingsplatz. Beim nächsten Mal können wir gleich ein Lunchpaket mitnehmen.«
Zusammen schwimmen sie in die Tiefe.
Ein warmer Lichtschein aus dem Inneren des Hauses erhellt die Türschwelle. Er schaltet den Motor ab und kämpft gegen den Drang, rückwärts aus der Einfahrt zu setzen und irgendwo anders hinzufahren. Hauptsache, sie ist bei ihm.
»Mom ist zu Hause«, murmelt Emma.
Er lächelt. Ihr Haar ist noch feucht von der Dusche, die sie bei ihm zu Hause genommen hat, und ihre Wechselsachen – Jeans und ein mit Farbe bespritztes T-Shirt – sind ein wenig zerknittert, weil Rachel sie in einer Reisetasche auf dem Boden ihres Kleiderschranks gelagert hat. In diesem bequemen Look erscheint sie ihm genauso attraktiv wie in ihrem kurzen, purpurnen Kleid, das sie zu ihrer menschlichen Verabredung getragen hat. Gerade als er ihr das sagen will, öffnet sie die Autotür.
»Tja, ich bin mir sicher, dass sie den Wagen gehört hat, also sollte ich besser reingehen«, bemerkt sie.
Er lacht und versucht die Enttäuschung hinunterzuschlucken, als er sie zum Eingang begleitet. Sie fummelt an ihren Schlüsseln herum, als wüsste sie nicht, welcher davon die Tür aufschließen wird. Da nur drei Schlüssel an dem Ring hängen – und die beiden anderen Autoschlüssel sind –, hat Galen eine diebische Freude daran, dass sie den Moment in die Länge zieht. Sie will also genauso wenig wie er, dass dieser Tag endet.
Dann blickt sie auf und direkt in seine Augen. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie großartig der Tag heute für mich war. Echt, der beste Tag überhaupt.«
»Weißt du, was mir am besten gefallen hat?«, fragt er und tritt näher an sie heran.
»Mmh?«
»Wir haben uns nicht gestritten. Nicht ein einziges Mal. Ich hasse es, mich mit dir zu streiten.«
»Ich auch. Es ist solche Zeitverschwendung, wenn …«
Er beugt sich sogar noch näher vor und sieht ihr weiter in die Augen. »Wenn?«
»Wenn wir stattdessen einfach die Gesellschaft des anderen genießen können«, flüstert sie. »Aber wahrscheinlich genießt du meine Gesellschaft in letzter Zeit gar nicht. Ich war nicht besonders nett …«
Er streift mit seinen Lippen über ihre und schneidet ihr das Wort ab. Ihre Lippen sind weicher, als er es sich jemals vorgestellt hat. Aber das ist noch nicht genug. Er nimmt die Hand von ihrem Kinn, um sie in ihre feuchten Locken zu schlingen, und zieht sie enger an sich. Sie stellt sich auf die Zehen, um ihm entgegenzukommen, und als er sie vom Boden hochhebt, schlingt sie die Arme um seinen Hals. Genauso hungrig nach ihm wie er nach ihr, öffnet sie den Mund zu einem tieferen Kuss und presst ihre weichen Kurven an ihn. Und Galen beschließt, dass es nichts Besseres gibt, als Emma zu küssen.
Alles an ihr ist wie für ihn gemacht. Wie sich ihr Mund im selben Rhythmus wie seiner bewegt. Wie sie die Finger durch sein Haar zieht und ihm ein erregender Schauer über den Rücken läuft. Wie ihre kühlen Lippen ihn zum Glühen bringen. Sie passt so perfekt in seine Arme, als würde jede ihrer Rundungen eine Stelle an seinem eigenen Körper ausfüllen …
Keiner von ihnen bemerkt, dass die Tür aufgeht, aber ihre Lippen lösen sich voneinander, als Emmas Mom sich räuspert. »Oh, Entschuldigung«, platzt sie heraus. »Ich dachte, ich hätte einen Wagen gehört … Ähm, tja, ich bin dann mal drinnen.« Sie verschwindet hinter einer beinahe zugeschlagenen Tür.
Galen sieht Emma an, die immer noch in seinen Armen liegt. Die Zufriedenheit schwindet, als er den Schmerz in ihren Augen sieht.
Sie entzieht sich seiner Umarmung und tritt zurück. »Die ganze Zeit habe ich mir Sorgen gemacht, dass du nicht in der Lage wärst, das durchzuziehen. Aber jetzt hätte ich beinahe Mist gebaut.«
»Mist gebaut?«, fragt er, alarmiert von der Art, wie ihre geschwollenen Lippen zittern. Wird sie gleich wieder weinen? »Hab ich was falsch gemacht?«, flüstert er. Sie weicht zurück, als er die Hand nach ihr ausstreckt.
Mit einem gezwungenen Lächeln sagt sie: »Nein, es war perfekt. Ich habe sie nicht einmal kommen hören. Jetzt wird sie keine Zweifel mehr daran haben, dass wir miteinander gehen, oder?«
Die Erkenntnis trifft ihn wie eine zerstörerische Welle. Emma denkt, ich hätte sie geküsst, damit ihre Mom es sieht. »Emma …«
»Ich meine, für einen Moment hattest du mich beinahe davon überzeugt, dass wir … wie auch immer, ich sollte besser reingehen, bevor sie wieder nach uns sieht.«
»Habt ihr den Verstand verloren?«, zischt jemand aus den Büschen neben der Veranda. Galen muss sich nicht einmal umdrehen, um zu wissen, dass es Rayna ist. Sie marschiert die Treppe hinauf und deutet auf Galen.
Oh nein.
Rayna pikst Galen in die Brust. »Du hast ja Nerven, weißt du das? Da folgst du ihr einmal rund um die Welt, um so zu tun, als würdest du im Interesse des Königreichs handeln. Du schleimiger Aal! Und jetzt hast du sie auch noch geküsst. Ich kann einfach nicht glauben, dass du sie geküsst hast.«
Emma stößt ein nervöses Lachen aus. »Du wusstest, dass er das tun würde, Rayna. Wir haben es dir erzählt, erinnerst du dich?«
Rayna starrt sie erschreckend finster an. »Oooooh, nein. Er sollte so tun, als würde er dich küssen. Dieser Kuss war echt. Vertrau mir, Emma. Ich kenne ihn erheblich länger als du.«
»Vielleicht sollten wir das lieber am Strand klären«, sagt Emma mit Blick auf die Haustür.
Rayna nickt, aber Galen schüttelt den Kopf. »Nein, du kannst reingehen, Emma. Rayna und ich können auf der Heimfahrt darüber reden.«
»Mh-mh. Auf keinen Fall, Galen. Du sagst ihr die Wahrheit.« Wenn Rayna noch lauter spricht, wird Emmas Mom sie hören. Galen packt Rayna am Arm und zieht sie von der Veranda. Als sie sich wehrt, wirft er sie über die Schulter.
»Emma!«, schreit Rayna und zappelt wie ein Fisch am Haken. »Du musst dir das anhören! Sag es ihr, Galen! Sag ihr, warum du sie überhaupt nicht küssen dürftest.«
Emma geht zum Rand der Veranda und stützt sich ab. »Ich weiß schon, dass ich aus dem Haus Poseidon stamme, Rayna. Ich werde nichts verraten, wenn du auch nichts verrätst«, sagt sie und lächelt Galen an.
»Stell dich nicht so dumm, Emma«, brüllt Rayna, als sie um die Ecke des Hauses biegen und außer Sicht geraten. »Du sollst dich mit Grom verbinden. Galen soll dich zu Grom bringen!«
Galen hält inne. Es ist zu spät. Sie hat zu viel gesagt. Alles andere hätte er noch retten können. Er setzt seine Schwester ab. Sie sieht ihn nicht an, sondern fixiert einen unsichtbaren Punkt hinter ihm.
»Dachtest du, dass ich es nicht herausfinde?«, fragt Rayna und starrt weiter geradeaus. Eine Träne glänzt im Mondlicht, als sie über ihre Wange kullert. »Wie die Fische ihr folgen? Glaubst du, dass ich zu blöd bin, um dahinterzukommen, warum wir sie kreuz und quer durch das ganze Land verfolgt haben? Und dann bei ihr geblieben sind, obwohl du herausgefunden hast, dass sie ein Halbblut ist? Es ist nicht richtig, was du getan hast. Sie gehört Grom. Die Entscheidung, ob er sich mit ihr fortpflanzen will oder nicht, liegt bei ihm. Und es ist auch Emma gegenüber nicht fair. Sie mag dich. So, wie sie Grom mögen sollte.«
In gewisser Weise ist es bittersüß. Seine Schwester hat gerade die beste Nacht seines Lebens ruiniert und wahrscheinlich jede Chance darauf, das zu bekommen, was er will. Aber sie hat es aus Respekt vor Grom getan. Und vor Emma. Wie kann er deswegen wütend sein?
Galen hört, wie die Haustür geöffnet wird. Rayna versteift sich. »Was geht hier vor?«, fragt Mrs McIntosh.
»Oh, ähm, nichts, Mom. Wir haben nur geredet, das ist alles«, antwortet Emma von der Ecke des Hauses aus. Galen fragt sich, wie lange Emma schon dort steht und seinen Rücken betrachtet. Wie viel sie davon mitbekommen hat, was Rayna ihm an abscheulichen und wahren Dingen an den Kopf geworfen hat.
»Ich habe Geschrei gehört«, erklärt ihre Mutter geradeheraus.
»Entschuldigung. Ich werde leiser sein.« Emma räuspert sich. »Galen und ich werden noch am Strand spazieren gehen.«
»Geht nicht zu weit«, antwortet ihre Mom. »Und zwingt mich nicht, nach euch zu suchen.«
»Mom«, stöhnt Emma, doch ihre Mutter hat die Tür bereits hinter sich geschlossen.
Rayna entspannt sich sichtlich, als sie hört, wie der Türriegel vorgeschoben wird. Emma drängt sich an den beiden vorbei und macht sich auf den Weg zu den Sanddünen hinter dem Haus. Galen und Rayna tauschen einen Blick und folgen ihr.
Am Rande des Wassers strahlt der Mond wie ein Suchscheinwerfer auf sie herab, als wüsste das Universum, dass diese Nacht eine Nacht der Erleuchtung sein würde. Emma dreht sich mit einem erschütterten Ausdruck auf dem Gesicht zu ihnen um.
Sie sieht Rayna an. »Spuck’s aus.«
»Das habe ich gerade«, antwortet Rayna. »Ich habe dir gerade alles gesagt, was ich weiß.« Sie schlingt die Arme um sich, als würde sie frieren.
»Warum soll ich mich mit Grom verbinden? Ich stamme aus dem Haus Poseidon. Ich bin Groms Feindin.«
Rayna öffnet den Mund, aber Galen kommt ihr zuvor. »Warte. Ich werde es ihr erklären.« Seine Schwester starrt ihn zweifelnd an. Er seufzt. »Du kannst bleiben, wenn du willst. Für den Fall, dass ich etwas auslasse.«
Sie reckt das Kinn vor und nickt zum Zeichen, dass er anfangen kann.
Galen wendet sich wieder Emma zu. »Erinnerst du dich daran, dass ich dir erzählt habe, dass Grom sich mit Nalia verbinden sollte, dass sie aber gestorben ist?«
Emma nickt. »Bei der Explosion einer Mine.«
»Genau. Sie sollten sich miteinander verbinden, weil sie der dritten Generation angehörten und die Erstgeborenen eines jeden Hauses waren. Der Grund dafür ist die Notwendigkeit, die Gaben der Generäle zu perpetuieren. Dafür zu sorgen, dass die Gaben …«
»Ich weiß, was perpetuieren bedeutet«, unterbricht sie ihn. »Komm zur Sache.«
Galen schiebt die Hände in die Taschen, um Emma nicht zu berühren. »Ich habe dir erzählt, dass König Antonis sich weigerte, nach Nalias Tod einen Erben zu zeugen. Ohne eine Erbin, mit der Grom sich paaren kann, könnten die Gaben verschwinden. Zumindest ist es das, was das Gesetz besagt. Als Dr. Milligan von dir erzählt hat, als ich dich gesehen habe, wusste ich, dass du eine direkte Nachfahrin von Poseidon sein musst. Also habe ich …«
Sie hebt die Hand. »Halt, das reicht. Ich fürchte, ich weiß, wie die Geschichte endet.« Sie versucht gar nicht erst, die Tränen wegzuwischen, die ihr übers Gesicht strömen. Sie lacht. Ein bitteres, gehässiges Geräusch. »Ich habe es gewusst«, flüstert sie. »Tief im Inneren habe ich gewusst, dass du bei allem einen Hintergedanken hattest. Dass du nicht aus Herzensgüte versucht hast, mir zu helfen. Himmel, aber ich bin wirklich darauf reingefallen, was? Nein, ich bin auf dich reingefallen. Lektion gelernt.«
»Emma, warte …« Er streckt die Hand nach ihr aus, aber sie weicht zurück.
»Nein. Fass mich nicht an. Fass mich nie wieder an.«
Sie weicht weiter zurück, als würde er sie angreifen. Sein Magen krampft sich zusammen.
Galen und Rayna beobachten, wie Emma mit riesigen Schritten zwischen den Sanddünen vor ihrem Haus verschwindet, als komme sie für irgendetwas zu spät.
»Du hast ihr wehgetan«, stellt Rayna leise fest.
»Du warst nicht gerade eine Hilfe.«
»Ich habe nichts falsch gemacht.«
Er seufzt. »Ich weiß.«
»Ich mag Emma.«
»Ich auch.«
»Lügner. Du liebst sie. Dieser Kuss war echt.«
»Das war er.«
»Ich wusste es. Was jetzt?«
»Ich weiß es nicht«, sagt er und beobachtet, wie das Licht in Emmas Zimmer im zweiten Stock angeht. Er kratzt sich den Nacken. »Ich bin irgendwie froh, dass sie jetzt Bescheid weiß. Es hat mir nicht gefallen, es zu verheimlichen. Aber sie hätte wahrscheinlich nicht mitgespielt, wenn ich ihr die Wahrheit verraten hätte.«
Rayna schnaubt. »Meinst du?« Sie schiebt sich eine kurze Strähne hinters Ohr. »Es hat sich ja alles sooo viel besser entwickelt, weil du es ihr verheimlicht hast.«
»Was machst du überhaupt hier?«
Sie zuckt die Achseln. »Vielleicht erinnerst du dich daran, dass du meinen Gefährten auf eine Art Geheimmission geschickt hast. Ich habe mich gelangweilt.«
»Freut mich, dass wir dich unterhalten konnten.«
»Hör mal, ich wollte Emmas Haus sehen. Vielleicht ihre Mom kennenlernen. Irgendwas tun, was Mädchen eben tun. Ich bin nicht hierhergekommen, um dein Leben zu zerstören.« Ihre Stimme zittert.
Er legt den Arm um sie. »Weine nicht wieder. Komm. Ich bring dich nach Hause«, sagt er leise.
Rayna wischt sich den Schnodder von der Nase. Dann weicht sie ebenfalls vor ihm zurück, genau wie Emma es getan hat, nur dass sie sich auf das Wasser zubewegt. »Ich kenne den Weg nach Hause«, erklärt sie, bevor sie sich umdreht und untertaucht.
Es ist erst die zweite Stunde, und die ganze Schule weiß schon, dass Emma mit ihm Schluss gemacht hat. Bis jetzt hat er acht Telefonnummern, einen Kuss auf die Wange und einen Kniff in die Kehrseite seiner Jeans kassiert. Seine Versuche, zwischen den Unterrichtsstunden mit Emma zu reden, werden von einem Hurrikan weiblicher Teenager zerschmettert, deren Hauptziel darin zu bestehen scheint, ihn und seine Exfreundin voneinander getrennt zu halten.
Als die Glocke zur dritten Stunde läutet, hat Emma bereits einen Platz gewählt, an dem sie durch die anderen Schüler von ihm abgeschottet ist. Während des Unterrichts passt sie so konzentriert auf, als würde der Lehrer Anweisungen geben, wie man eine lebensbedrohliche Katastrophe übersteht, die in den nächsten vierundzwanzig Stunden über die Welt hereinbricht. Ungefähr nach der Hälfte der Stunde bekommt er eine SMS von einer unbekannten Nummer:
wenn du mich lässt, stelle ich dinge mit dir an, bei denen du sie vergisst
Sobald er die Nachricht gelöscht hat, taucht eine weitere auf, von einer anderen unbekannten Nummer:
ruf mich an, wenn du chatten willst. ich werde dich besser behandeln als e.
Wie sind sie an meine Nummer gekommen? Er steckt sein Handy wieder in die Tasche und beugt sich schützend über sein Notizbuch, als wäre es das Letzte, was ihm noch bleibt, das Letzte, über das sie noch nicht hergefallen sind. Da bemerkt er das Gekritzel einer fremden Handschrift: Ein Mädchen namens Shena hat in seinem Notizbuch ihren Namen und ihre Telefonnummer hinterlassen und beides mit einem Herzchen umkringelt. Es kostet ihn fast so viel Anstrengung, das verdammte Ding nicht durch den Raum zu schleudern, wie Emma nicht zu küssen.
Beim Mittagessen hindert Emma ihn einmal mehr daran, auf sie zuzugehen, indem sie sich zwischen lauter Leute an einen vollen Picknicktisch draußen setzt. Er wählt einen Tisch ihr gegenüber, aber sie scheint ihn nicht wahrzunehmen. Sie tupft geistesabwesend das Fett von der Pizza auf ihrem Teller, bis sie mindestens fünfzehn orangefarbene Servietten vor sich liegen hat. Sie wird sich nicht darum kümmern, dass er sie anstarrt und nur darauf wartet, sie zu sich zu winken, sobald sie aufblickt.
Er ignoriert die SMS-Explosion in seiner vibrierenden Tasche und öffnet den Behälter mit Thunfisch, den Rachel ihm eingepackt hat. Er lädt den Fisch grimmig auf seine Gabel, schaufelt ihn in sich hinein und kaut, ohne etwas davon zu schmecken. Dieser Mark mit den weißen Zähnen erzählt Emma irgendetwas, das sie komisch findet. Sie hält sich eine Serviette vor den Mund und kichert. Galen springt fast von seiner Bank auf, als Mark ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht streicht. Jetzt weiß er, was Rachel damit gemeint hat, als sie ihm gesagt hat, dass er sein Territorium rechtzeitig markieren soll. Aber was kann er tun, wenn sein Territorium sich in Luft auflöst? Die Neuigkeit von ihrer Trennung hat sich so schnell ausgebreitet wie ein Ölteppich, und es scheint, als unternehme Emma gewaltige Anstrengungen, um das Ganze noch zu beschleunigen. Mit Daumen und Zeigefinger zerbricht Galen seine Plastikgabel, als Emma mit ihrer Serviette sanft Marks Mund abtupft. Er verdreht die Augen, als Mark »versehentlich« noch etwas Wackelpudding an seinem Mundwinkel verkleckert. Emma wischt auch den weg und lächelt, als würde sie sich um ein Kind kümmern.
Es macht die Sache nicht unbedingt besser, dass Galens Tisch sich mit seinen Bewunderinnen füllt – sie berühren ihn, kichern, lächeln ihn ohne Grund an und lenken ihn von seiner Fantasie ab, Marks hübschen Kieferknochen zu brechen. Aber das würde Emma nur einen echten Grund liefern, diesem Idioten dabei zu helfen, mit seinem Wackelpudding fertigzuwerden.
Als er es nicht länger aushält, reißt Galen sein Handy aus der Tasche und wählt, dann legt er auf. Als der Anruf erwidert wird, sagt er: »Hey, Süßlippe.« Die Mädchen am Tisch geben einander Zeichen, still zu sein, um besser zuhören zu können. Einige von ihnen reißen den Kopf herum, um zu sehen, ob Emma am anderen Ende der Leitung ist. Als sie zufrieden feststellen, dass sie es nicht ist, beugen sie sich näher zu ihm heran.
Rachel schnaubt. »Wenn du doch nur Süßes mögen würdest.«
»Ich kann es gar nicht erwarten, dich heute Abend zu treffen. Zieh diesen rosafarbenen Rock an, den ich so mag.«
Rachel lacht. »Klingt so, als würdest du in etwas stecken, das wir Menschen gern Klemme nennen. Mein armes, verdammt gut aussehendes Äffchen. Emma redet immer noch nicht mit dir und lässt dich mit diesen ganzen hormongesteuerten Mädchen allein?«
»Halb neun? Das ist noch so lang. Können wir uns nicht schon früher treffen?«
Eins der Mädchen steht tatsächlich auf und trägt ihr Tablett – und ihre Absicht – zu einem anderen Tisch. Galen versucht, sich nicht allzu offensichtlich darüber zu freuen.
»Musst du von der Schule abgeholt werden, Sohn? Bist du krank?«
Galen wirft einen Blick zu Emma hinüber, die eine Peperoni von ihrer Pizza zupft und sie beäugt, als wäre es Delfinkot. »Ich kann nicht schon wieder blaumachen, um dich zu sehen, Liebes. Aber ich werde an dich denken. An niemanden außer dir.«
Jetzt stehen noch ein paar Mädchen auf und stolzieren mit ihren Tabletts zum Müll. Die Cheerleaderin vor ihm verdreht die Augen und beginnt ein Gespräch mit der pummeligen Brünetten neben ihr – mit derselben pummeligen Brünetten, die sie zwei Stunden zuvor noch in ein Schließfach gestoßen hat, um an ihn heranzukommen.
»Schweig, mein Herz«, erwidert Rachel gedehnt. »Aber im Ernst, ich kann deine Signale nicht deuten. Ich habe keine Ahnung, worum du mich bittest.«
»Im Augenblick um gar nichts. Aber was das Blaumachen betrifft, könnte ich meine Meinung noch ändern. Ich vermisse dich wirklich.«
Rachel räuspert sich. »Also schön, mein Äffchen. Du brauchst es deine Mama nur wissen zu lassen, und sie holt ihren verrückten kleinen Jungen von der Schule ab, okay?«
Galen legt auf. Warum lacht Emma schon wieder? So komisch kann Mark gar nicht sein. Da setzt ihn das Mädchen neben ihm ins Bild: »Mark Baker. Alle Mädchen lieben ihn. Aber nicht so sehr wie dich. Außer vielleicht Emma, schätze ich.«
»Da wir gerade von diesen Mädchen sprechen, woher haben sie meine Telefonnummer?«
Sie kichert. »Sie steht auf der Wand in der Mädchentoilette. Einhunderterflur.« Sie hält ihm ihr Handy unter die Nase. Das Bild von seiner Nummer, die auf eine Kabinentür gekritzelt ist, leuchtet auf dem Display auf. In Emmas Handschrift.
Die Wellen teilen sich, als er durchs Wasser pflügt und eine schaumige weiße Linie auf der Oberfläche zurücklässt. Als er ein Boot am Horizont sieht, taucht er unter und legt sich so mächtig ins Zeug, dass er vielleicht nicht einmal auf ihrem Fischradar auftaucht, falls sie einen haben.
Das ist schon seine zweite Schwimmtour nach Europa und zurück innerhalb einer Woche. Da morgen Freitag ist, wird er wahrscheinlich noch einmal eine unternehmen. Aber ganz gleich, wie weit er schwimmt, ganz gleich, wie schnell, seine Anspannung lässt ihn nicht los. Und es ändert nichts an der Tatsache, dass Emma mit einem anderen geht.
Er spürt andere Syrena im Wasser, aber er erkennt sie nicht. Außerdem ist er nicht in der Stimmung für Small Talk. Tatsächlich ist ihm seine Einsamkeit im Moment wichtiger als seine nächsten fünf Mahlzeiten. Der Versuch, durch die Flure in der Schule zu navigieren, war ungefähr so, als würde man mit Wanderstiefeln voller Steine durch die Flut waten – die Menschenfrauen haben den Verstand verloren. Sie haben sich wie eine Welle um ihn geschlossen und nach ihm gegriffen, sie haben einander überschrien und sich Dinge an den Kopf geworfen, die bedeuteten, dass man sich mit mehr als einem Mann paart – ziemlich oft. So hat es ihm dann zumindest Rachel später erklärt. Sie waren sich nur dann einig, wenn er versucht hat, in die Männertoilette zu entkommen – oder wenn er sich bemüht hat, Emmas Richtung einzuschlagen.
Aber er hat nicht nur von den Menschen genug – in dieser Stimmung wäre es für keinen Syrena ratsam, ihn zu einem Gespräch zu nötigen. Dabei würde natürlich jeder Passant gerne erfahren, was ein Königssohn so weit entfernt von den Höhlen treibt. Die Antwort, die er momentan geben würde, würde seinem Bruder bestimmt nicht die Unterstützung einbringen, die er als neuer König braucht. Außerdem würde er seinen Vater damit vielleicht doch noch dazu bringen, seine Drohung wahr zu machen, ihm die Zunge herauszuschneiden. Und ohne Zunge vor Emma zu Kreuze zu kriechen, wäre ziemlich lästig.
Mit knirschenden Zähnen treibt er sich noch härter an und peitscht schneller durch das Wasser als jeder von Menschenhand geschaffene Torpedo. Erst als er das erreicht, was die Menschen den Ärmelkanal nennen, wird er langsamer und kommt an die Oberfläche. Als er sich einem Fleckchen Land nähert, das er erkennt, hat er nicht einmal ein halbes Lächeln für den neuen persönlichen Rekord übrig. Von New Jersey nach Jersey Island in weniger als fünf Stunden. Die dreitausend Meilen Entfernung, die er heute Nacht zwischen sich und Emma gebracht hat, sind nichts im Vergleich zu der gewaltigen Kluft, die sie trennt, wenn sie in der Mathestunde nebeneinandersitzen.
Emmas Fähigkeit, durch ihn hindurchzusehen, ist eine echte Gabe – aber keine, die sie von Poseidon geerbt hat. Rachel beharrt darauf, dass diese Gabe eine typisch weibliche Eigenschaft ist, ungeachtet der Spezies. Aber Emma scheint das einzige Mädchen zu sein, das seit ihrer Trennung diese spezielle Gabe nutzt. Selbst Rayna könnte einige Lektionen von Emma lernen, wenn es um die Kunst geht, einen verknallten Jungen zu quälen. Verknallt? Eher fanatisch.
Er schüttelt angewidert den Kopf. Warum konnte ich nicht einfach mit dem Sichten beginnen, als ich volljährig wurde? Warum konnte ich kein passendes, sanftmütiges Mädchen finden, um mich zu paaren? Ein friedliches Leben führen, Nachkommen produzieren, alt werden und beobachten, wie meine Jungfische selbst Jungfische bekommen? Er durchforstet sein Gedächtnis nach einer, die ihm in der Vergangenheit entgangen sein könnte. Nach einem Gesicht, das er übersehen hat, auf dessen Wiedersehen er sich jetzt aber jeden Tag freuen könnte. Nach einem gutmütigen Mädchen, das sich geehrt fühlen würde, sich mit einem Tritonprinzen zu verbinden – anstelle einer temperamentvollen Sirene, die seinen Titel bei jeder Gelegenheit verspottet. Er durchforstet sein Gedächtnis nach einer lieben Syrena, die sich um ihn kümmern würde, die tun würde, was er verlangt, die niemals mit ihm streiten würde.
Nicht irgendein von Menschen großgezogener Syrena-Schnipsel, der mit dem Fuß aufstampft, wenn er seinen Willen nicht bekommt, der nur auf ihn hört, wenn es einem geheimen Ziel dient, das er verfolgt, oder ihm eine Handvoll Zitronenbonbons in den Hals stopft, wenn er einen Moment lang nicht aufpasst. Kein weißblonder Engelfisch, dessen Augen ihn zu einer Pfütze schmelzen lassen, dessen Erröten schöner ist als der Sonnenaufgang und dessen Lippen ihn in Wallung versetzen wie die Explosion einer Mine.
Emmas Gesicht überlagert die Hunderter anderer paarungswürdiger Syrena. Das ist eben noch eine Eigenschaft, die ich auf die Liste setzen muss: eine, der es nichts ausmacht, nur seine Nummer zwei zu sein. Er beißt die Zähne zusammen, als er einen Blick auf seinen eigenen Schatten unter sich erhascht, der von den silbernen Schlieren des Mondlichts geworfen wird. Da es hier kurz vor drei Uhr morgens ist, fühlt er sich wohl bei dem Gedanken, keine unbequeme Kleidung tragen zu müssen. Aber im Adamskostüm auf dem felsigen Ufer zu sitzen, ist weniger reizvoll. Und es spielt keine Rolle, an welchem Jersey-Ufer er sitzt, er kann dem Mond nicht entrinnen, der sie beide verbindet – und der ihn an Emmas Haar erinnert.
Während er sich im seichten Wasser treiben lässt, starrt er den Mond voller Groll an, wohl wissend, dass er ihn an noch etwas anderes erinnert, dem er nicht entfliehen kann – sein Gewissen. Wenn er sich doch nur vor seiner Verantwortung drücken könnte, vor seiner Loyalität gegenüber seiner Familie, seiner Loyalität gegenüber seinem Volk. Wenn er doch nur alles an sich und um sich herum ändern könnte … Er würde Emma einfach schnappen und nie mehr zurückblicken – das heißt, falls sie jemals wieder mit ihm spricht.
Als er genug davon hat, sich treiben zu lassen, wechselt er in Menschengestalt und steht jetzt im knietiefen Wasser; er blinzelt zum Horizont, als könne er sie dort sehen, wenn er nur lange genug hinsieht. Er sollte umkehren. Obwohl er Emmas unbekannten Verfolger diese Woche nicht mehr vor ihrem Haus gespürt hat, macht es ihn trotzdem nervös, sie unbewacht zurückzulassen. Aber vor ihrem Balkon herumzulungern, ist fast genauso beunruhigend – Mark hat Rachels telefonischen Abhöraufnahmen zufolge diese Woche dreimal angerufen. Und sie hat Galen ihm gegenüber nicht ein einziges Mal erwähnt.
Während er den Kopf darüber schüttelt, was er für ein liebeskranker Robbenwelpe ist, spürt er endlich einen Syrena, den er kennt. Toraf. Es dauert gute zehn Minuten, bis sein Freund endlich auftaucht.
Mit einem kräftigen Knuff gegen die Schulter sagt Toraf: »Also hast du beschlossen, endlich einmal länger als zwei Sekunden stillzuhalten, kleiner Fisch. Ich habe deine Spur fünf Stunden lang verfolgt, aber du warst zu schnell. Wo sind wir?«
»England.« Galen grinst. Er hat etwas Ablenkung dringend nötig, und jemanden abzulenken, gehört zufällig zu Torafs vielen Talenten.
Toraf zuckt die Achseln. »Wo immer das ist.«
»Also«, sagt Galen und verschränkt die Arme. »Was führt dich an diesem schönen Morgen quer durch das Hoheitsgebiet von Triton? Hast du mich vermisst?«
Toraf blickt zum Mond hinauf und zieht eine Augenbraue hoch. »Das Gleiche wollte ich dich fragen.«
Galen zuckt die Achseln. »Es ist viel stiller ohne diesen ganzen lästigen Hintergrundlärm.«
»Ah. Du hast mich vermisst. Das bedeutet mir eine Menge, kleiner Fisch. Ich habe dich auch vermisst.« Er sieht sich am Ufer um. »Wo ist Emma? Mag sie Eggland nicht?«
»Eng-land. Sie ist zu Hause und schläft wahrscheinlich friedlich. Du hast sie nicht gespürt, oder?« Für eine halbe Sekunde steigt sein Puls an. Sie ist ohne ihn ins Wasser gegangen. Jedes Mal, wenn er ihr nah genug ist, um sie zu spüren, geht sie raus. Was ihm nur recht ist.
»Ups. War ich an der Reihe, Emma im Auge zu behalten? Irgendwie dachte ich, du hättest mich von dieser Aufgabe entbunden, nachdem du mich losgeschickt hast, um Paca zu suchen und das alles.«
»Hast du sie gefunden?«
Toraf nickt.
»Und?«
Grinsend verschränkt Toraf die Arme. »Bist du dir sicher, dass du es wissen willst?« Als Galen die Fäuste ballt, lacht Toraf. »Schon gut, schon gut, kleiner Fisch. Ich sehe dir an, dass du in angriffslustiger Stimmung bist, aber ich würde mir meine Energie lieber für deine Schwester sparen.«
»Ich schwöre bei …«
»Sie hat die Gabe, Galen.«
Statt in die Höhe zu schießen, gerät Galens Puls ins Stottern. »Paca hat die Gabe von Poseidon? Bist du dir sicher?«
Toraf nickt. »Ich habe es selbst gesehen. Sie kann mit Fischen sprechen. Sie tun, was sie sagt. Sie hat es mir und Grom und ihrem Vater demonstriert. Sie hat einen Delfin dazu gebracht, Kunststückchen für uns zu machen.«
»Was für Kunststückchen?«
Toraf zuckt die Achseln. »Alles, was sie will, schätze ich. Wir waren auf jeden Fall alle zufrieden. Verblüfft, um genau zu sein.«
»Wo hat sie die ganze Zeit gesteckt?«, fragt Galen.
»Im Hoheitsgebiet von Triton, an der Küste des langen Landes. Sie sagte, sie hätte das Wasser gemieden. Für den Fall, dass König Antonis Fährtensucher hinter ihr herschickt. Ich habe sie erst gefunden, nachdem sie untergetaucht ist, um sich vor ein paar Menschen zu verstecken, die ihr Lager am Strand bemerkt hatten. Sie schien froh zu sein, mich zu sehen.«
Die Syrena bezeichnen es als das lange Land. Für die Menschen ist es Florida. Wo wir Emma gefunden haben. Allmählich kommt Galen der Gedanke, dass Florida eine geheimnisvolle Macht besitzt, Poseidons Gabe hervorzubringen. »Was sagt Grom dazu?«
»Grom hofft, dass du seine Verbindungszeremonie nicht versäumst. Es würde seine Gefühle verletzen.«
»Er wird sich mit Paca verbinden? Bist du dir sicher?«
»Ich wäre dir nicht rund um die Welt gefolgt, wenn ich mir nicht sicher wäre.«
Galen ignoriert das aufgeregte Ziehen in seinem Magen. »Sie ist kein Mitglied des Königshauses.«
»Und Emma schon?«
»Gutes Argument.« Wenn Grom bereit ist, sich mit Paca zu verbinden, die nicht zur Königsfamilie Poseidons gehört, wäre er dann auch bereit, sich mit Emma zu verbinden? Es spielt keine Rolle, Dummkopf. Er verbindet sich mit Paca.
»Wie auch immer, die Zeremonie wird in zwei Mondzyklen stattfinden. Grom will es momentan noch geheim halten, damit er sich in Ruhe überlegen kann, wie er es allen präsentieren kann. Er möchte, dass sie ihre Gabe einem Publikum vorführt. Anderenfalls wird er Blut an den Händen haben.«
»Das ist eine gute Idee.« Grom bewegt sich in eisigen Gewässern, wenn er gegen Antonis’ Wünsche eine Gefährtin von Poseidon nimmt. Und im Prinzip setzt er, als Erstgeborener und königlicher Triton-Spross der dritten Generation, das Gesetz außer Kraft, indem er sich mit Paca verbindet, die nach den gesetzlichen Maßstäben zum gemeinen Volk gehört. Diese Sichtweise ist allerdings nicht fair. Immerhin hat König Antonis Grom zu dieser Entscheidung gezwungen, als er sich geweigert hat, weitere Nachfahren zu zeugen. Aber wie werden die Königreiche das sehen? Werden sie es als selbstlose Bemühung Groms verstehen, um die Gabe zu erhalten? Oder werden sie es als einen machthungrigen Schritt betrachten, um beide Königreiche zu beherrschen – vor allem, wenn man Jagens Ruf als verräterischen Schwätzer bedenkt?
»Er will, dass ihr beide, du und Rayna, euch fernhaltet, bis er die Zeremonie ankündigt. Ich habe ihm erklärt, dass du bis dahin gut beschäftigt sein wirst.«
»Was meinst du?«
»Bist du wirklich so dumm wie ein Riff, kleiner Fisch? Jetzt kannst du Emma haben. Warum verplemperst du deine Zeit hier in Eggland – Galen? Galen, warte auf mich!«