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9

Wir biegen in seine gepflasterte Einfahrt ein, und ich muss mich im Sitz zurücklehnen, um das alles richtig zu sehen. Das Strandhaus meiner Träume. Vier Stockwerke, vielleicht fünf – je nachdem, ob dieses Quadrat auf dem Dach ein Raum ist oder nicht. Ganz aus Holz, seegrün gestrichen, mit weißen Fensterläden. Eine riesige Veranda voller weißer Schaukelstühle und dazupassender hölzerner Blumentöpfe, zum Bersten voll mit roten Stiefmütterchen. Ein schmiedeeisernes Tor führt auf die Rückseite des Hauses, von wo aus man einen fantastischen Blick über den Strand haben muss – wir sind so tief in den Wald hineingefahren, dass ich gedacht habe, wir würden jeden Moment nasse Füße bekommen, bevor wir auf sein Haus stießen.

»Nette Hütte«, sage ich zu ihm.

»Würde gerne mit dir tauschen.«

»Sofort!«

»Wirklich? Es gefällt dir?« Er scheint sich aufrichtig zu freuen.

»Was könnte einem daran nicht gefallen?«

Er macht einen Schritt zurück und mustert das Haus, als sehe er es zum ersten Mal. Er nickt. »Hm. Gut zu wissen.«

Wir steigen die drei Stufen zur Veranda hinauf, aber als er die Hand nach dem Türknauf ausstreckt, ergreife ich seinen Arm. Die Berührung schickt eine Hitzewelle durch meinen Körper und lässt mich bis ins Mark erglühen. »Warte.«

Er hält mitten in der Bewegung inne und starrt auf meine Hand. »Was ist los? Stimmt etwas nicht? Du hast deine Meinung doch nicht geändert, oder?«

»Nein. Aber ich sollte … ich muss dir etwas sagen.«

»Was denn?«

Ich zwinge mich zu einem nervösen Lachen. »Also, die gute Nachricht ist: Du brauchst dir keine Sorgen mehr um Zurückweisung zu machen.«

Er schüttelt den Kopf. »Das ist wirklich eine gute Nachricht. Aber es hört sich an, als ob das nicht alles wäre.«

Ich hole tief Luft. Wieso schlägt eigentlich nie ein Blitz ein, wenn man einen braucht? Selbst wenn ich noch hundertmal tief Luft hole, wird das hier nicht weniger peinlich …

»Emma?«

»Ich habe meiner Mom erzählt, dass wir miteinander gehen«, platze ich heraus. Da. Fühlt sich das nicht besser an? Nein. Echt nicht.

Sein Lächeln überrascht mich nicht nur, es hypnotisiert mich. »Machst du Witze?«, fragt er.

Ich schüttele den Kopf. »Alles andere hätte sie mir nie abgekauft. Also, jetzt … jetzt musst du so tun, als würden wir miteinander gehen, wenn du wieder zu mir nach Hause kommst. Aber keine Sorge, das brauchst du nie wieder. In einigen Tagen werde ich einfach so tun, als hätten wir Schluss gemacht.«

Er lacht. »Nein, wirst du nicht. Ich habe ihr dasselbe erzählt.«

»Halt. Den. Mund.«

»Warum? Was habe ich gesagt?«

»Nein, ich meine, du hast ihr das wirklich erzählt? Warum solltest du das tun?«

Er zuckt die Achseln. »Aus demselben Grund wie du. Sie hätte kein Nein als Antwort akzeptiert.«

Bei der Erkenntnis, dass wir dasselbe Gespräch mit meiner Mutter geführt haben könnten, dreht sich diese hübsche Veranda um mich herum. Dann bekommt sie auch noch überall schwarze Punkte. Als wir klein waren, haben Chloe und ich uns immer im Kreis gedreht, immer rundherum in Dads Bürosessel. Einmal hat sie mich so schnell und so lange herumgewirbelt, dass ich jedes Mal in die falsche Richtung getorkelt bin, wenn ich aufgestanden bin. Als Kinder fanden wir das zum Schreien komisch, genau wie Helium atmen, um wie ein Streifenhörnchen zu klingen. Aber jetzt ist das nicht halb so lustig. Vor allem weil Galens Gesicht gerade hinter einem schwarzen Punkt verschwunden ist. »Oh nein.«

»Emma? Was ist los?«

Jetzt verschwindet auch der letzte Rest der Veranda in diesem schwarzen Loch. Die »Willkommen«-Fußmatte unter mir schwankt wie ein Ruderboot im Hurrikan. Ich greife nach der Tür oder der Wand oder Galen, aber irgendwie verfehle ich sie alle drei. Plötzlich zieht es mir den Boden unter den Füßen weg und mein Gesicht klatscht zum zweiten Mal in meinem Leben an seine Brust. Diesmal habe ich gar keine andere Wahl, als mich an ihn zu klammern. Ich höre, wie die Tür geöffnet und geschlossen wird. Das Inferno seiner Berührung ist das Einzige, dessen ich mir gewiss bin. Alles andere – wie oben, unten, links und rechts – scheint miteinander zu verschmelzen. »Ich … ich werde vielleicht ohnmächtig. Tut mir leid.«

Er drückt mich. »Ich leg dich auf die Couch. Ist das okay?«

Ich nicke, ja, das ist es, aber ich will seinen Hals nicht loslassen.

»Sag mir, was du brauchst. Du machst mir Angst.«

Ich vergrabe das Gesicht an seiner Brust. »Ich kann nichts mehr sehen. Ich will mich nicht hinlegen, weil … weil ich dann nicht mehr weiß, wo ich bin.« Die Welt hat bereits aufgehört, sich zu drehen. Ich beschließe, dass seine Arme im Moment der sicherste Ort für mich sind.

Bis ich plötzlich falle. Ich schreie.

»Scht. Es ist alles gut, Emma. Ich habe mich nur hingesetzt. Du bist auf meinem Schoß.« Er streicht mir durchs Haar und wiegt mich sanft hin und her. »Ist es dein Kopf? Sag mir, was ich tun kann.«

Als ich in seine Brust nicke, durchtränke ich sein Hemd mit Tränen. »Es muss mein Kopf sein. So was ist mir noch nie passiert.«

»Nicht weinen, Emma. Bitte nicht.«

Er versteift sich, als ich anfange zu kichern. Zur Strafe pocht mein Kopf. »Ich wette, du bereust es, dass du mich hierhergebracht hast«, bemerke ich.

Er entspannt sich. »So würde ich das nicht sagen.«

Seine Worte sind Balsam. Im Schutz seiner starken Arme entspannt sich mein Körper wie von selbst. Die Panik fließt von mir ab wie Wasser aus einer zersplitterten Vase. Meine Augen weigern sich, sich zu öffnen. »Ich bin irgendwie müde.«

»Ist schlafen wirklich gut für dich? Nach allem, was ich über Kopfverletzungen gelesen habe, soll man nicht einschlafen.« Noch während er das sagt, ziehe ich die Beine enger an mich, schmiege meine Schulter in seine Armbeuge und rutsche höher auf seinem Schoß hinauf. In dieser neuen Position hält er mich sicher und fest in den Armen. Die Hitze brodelt zwischen uns und umhüllt mich wie ein Wintermantel. Sich an einen gemeißelten Granitblock zu kuscheln, dürfte eigentlich gar nicht so kuschelig sein.

»Ich denke, das gilt nur unmittelbar nach dem Unfall. Aber jetzt ist es okay, wenn ich schlafe, da bin ich mir ziemlich sicher. Ich meine, letzte Nacht habe ich ja auch geschlafen, oder? Ich bin mir auch gar nicht sicher, ob ich jetzt überhaupt wach bleiben könnte.«

»Aber … du wirst nicht ohnmächtig. Du schläfst nur? Das ist ein Unterschied.«

Ich gähne. »Nur schlafen. Vielleicht brauche ich einfach ein Nickerchen.«

Er nickt in mein Haar. »Du hast heute nach der Schule wirklich müde ausgesehen.«

»Du kannst mich jetzt auf die Couch legen.«

Er bewegt sich nicht, wiegt mich nur immer weiter. Wach bleiben ist da ungefähr so einfach, wie an einem rutschigen Abhang Halt zu finden.

»Galen?«

»Hm?«

»Du kannst mich jetzt hinlegen.«

»Ich bin noch nicht so weit.« Er verstärkt seinen Griff.

»Du brauchst mich nicht …«

»Emma? Kannst du mich hören?«

»Ähm, ja. Hören kann ich gut. Ich kann nur nichts sehen …«

»Da bin ich wirklich erleichtert. Für einen Moment habe ich schon gedacht, dass du mich vielleicht nicht gehört hast, als ich sagte, ich sei noch nicht so weit.«

»Trottel.«

Er lacht leise in mein Haar. »Schlaf jetzt.«

Und das ist das Letzte, woran ich mich erinnere.

Die schlechte Nachricht ist, dass er mich nicht länger in seinen Armen hält. Die gute Nachricht ist, dass ich wieder sehen kann. Ich sehe mich im Raum um, versuche aber noch nicht, mich aufzurichten. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass ich immer noch bei Galen zu Hause bin. Alles in diesem Zimmer schreit nach Luxus. Kunst, der man schon ansieht, dass sie teuer ist, weil sie so hässlich ist. Seltsam geformte Möbel, die mehr fürs Auge als zum Benutzen sind. Ein riesiger Flachbildfernseher, der an der Wand über dem Kamin klotzt. Die Kaschmirdecke, die über mir ausgebreitet ist – so weich, dass sie nicht einmal beim schlimmsten Sonnenbrand kratzen würde. Und yep, man sieht auf den Strand. Die ganze Rückwand des Hauses ist komplett aus Glas. Keine Dünen, die einem die Sicht versperren. Selbst im Liegen sehe ich, wie die Wellen heranrollen und sich in der Ferne ein Sturm zusammenbraut.

Mich aufzurichten, ist ein böser Fehler, und das aus zwei Gründen. Erstens dröhnt mein Kopf und ich sehe schwarze Punkte. Zweitens führt es dazu, dass jemand schreit: »Gaaaaaa-len!«

Stöhnend halte ich mir die Ohren zu und verkrieche mich in eine Höhle aus Kaschmir.

»Bei Tritons Dreizack, Rayna, du weckst sie noch auf!«

Rayna? Na toll. Galens feindselige Schwester. Aber diese Stimme gehört nicht Galen. Hat er auch noch einen Bruder?

»Sie ist schon wach, du Tintenschnaufer. Warum sollte ich sonst nach ihm rufen?«

»Aber er ist nicht hier, Prinzessin.«

Ich höre ein Schlurfen und bin beinahe neugierig genug, um unter der Decke hervorzulugen. Stattdessen wird die Decke von meinem Gesicht gerissen. Rayna starrt auf mich herunter und zeigt mit dem Finger auf mich. »Siehst du? Ich hab dir gesagt, dass sie wach ist.«

Der Junge neben ihr schüttelt den Kopf und beugt sich über mich. »Emma?« Ich bin schockiert, ein weiteres violettes Augenpaar zu sehen. Und natürlich ist auch dieser Junge attraktiv – nicht ganz so zum Anbeißen wie Galen, aber mal ehrlich, wer ist das schon? –, mit dem gleichen dichten, schwarzen Haar und der gleichen olivfarbenen Haut wie Rayna und ihr Bruder.

Ich beantworte seine Frage mit einem Nicken.

»Emma. Ich bin Toraf. Ich schätze, du kennst Rayna bereits?«

Toraf? Seine Eltern haben ihn wirklich Toraf genannt? Aber ich bohre nicht nach und nicke nur.

»Hör mal, du brauchst nicht aufzustehen oder so – Galen ist nur … ähm … schwimmen gegangen. Er wird bald zurück sein.«

Ich schaue zwischen ihnen und dem Strand hin und her. Dabei schüttele ich den Kopf.

»Was? Was ist los, Emma?«, fragt er. Ich mag Toraf. Er scheint sich aufrichtig um mich zu sorgen, ohne mir jemals vorher begegnet zu sein. Rayna macht ein Gesicht, als würde sie gern auf meinem Kopf herumtrampeln und den Job zu Ende bringen, den die Cafeteriatür begonnen hat.

»Sturm«, murmele ich. Nur eine Silbe, aber ich sehe trotzdem doppelt so viele Punkte.

Toraf lächelt. »Er wird vor dem Sturm zurück sein. Kann ich dir irgendwas bringen? Was zu essen? Was zu trinken?«

»Ein Taxi?«, wirft Rayna ein.

»Geh in die Küche, Rayna«, sagt er. »Außer du bist bereit, dir eine Insel zu suchen?«

Ich bin mir nicht sicher, wie weit entfernt die Küche ist, aber es klingt, als würde sie gute fünf Minuten lang dorthin stampfen. Mir ist nicht ganz klar, warum es eine Strafe für Unverschämtheit ist, sich eine Insel zu suchen. Aber ich habe ja auch eine Kopfverletzung und denke mir: im Zweifelsfall für die Angeklagte. Immerhin besteht die Möglichkeit, dass ich mir das Ganze nur eingebildet habe.

»Hast du was dagegen, wenn ich mich setze?«, fragt Toraf.

Ich schüttele den Kopf. Er lässt sich am Rand der Couch nieder und deckt mich wieder zu. Ich hoffe, er nimmt mein Nicken als Dankeschön.

Er kauert sich zusammen und flüstert: »Hör zu, Emma. Es gibt da etwas, das ich dich fragen will, bevor Galen zurückkommt. Oh, keine Sorge, es ist eine Ja-oder-Nein-Frage. Du brauchst nicht zu reden.«

Ich hoffe, dass er mein Nicken als »Sicher, warum nicht? Du bist nett« deutet.

Er sieht sich um, als wäre er drauf und dran, mich auszurauben, statt mir eine Frage zu stellen. »Fühlst du dich … ähm … kribbelig … wenn du in Galens Nähe bist?«

Diesmal bedeutet mein großäugiges Nicken »Omeingott, woher weißt du das?«.

»Wusste ich’s doch!«, zischt er. »Hör zu, ich wäre dir dankbar, wenn du das Galen gegenüber nicht erwähnen würdest. Es ist besser für euch, wenn er von allein dahinterkommt. Versprochen?«

Ich hoffe, er versteht mein Nicken als »Das ist der seltsamste Traum, den ich jemals hatte«.

Alles wird schwarz.

Ich brauche die Augen nicht zu öffnen, um zu wissen, dass der Sturm da ist. Der Regen klatscht wie aus Kübeln gegen das Fenster und ringsum ächzt der grollende Donner. Oder ist das mein Magen? Während ich mich in Richtung meines Bewusstseins vortaste, durchdringen Lichtblitze meine Augenlider wie die Lichter einer Discokugel. Ich öffne die Augen und spähe durch die winzigen Poren im Kaschmir. Es ist dunkel im Wohnzimmer und die zuckenden Blitze sehen wie ein Feuerwerk aus. Das Schauspiel würde mir noch besser gefallen, wenn dieser himmlische Essensduft meinen leeren Magen nicht ganz so sehr quälen würde.

Als ich mich aufrichte, gleitet die Kaschmirdecke zu Boden. Ich verharre in der Bewegung, klammere mich an die Couch und warte darauf, dass der Raum eine Pirouette dreht oder dass mir wieder schwarz vor Augen wird. Ich bewege den Kopf von einer Seite zur anderen, nach oben und nach unten, rundherum. Nichts. Kein Schwindel, kein Blackout, kein Pochen. Ein Blitz geistert durch den Raum, und als er wieder verschwindet, folgt mein Blick ihm zurück aufs Meer. In der Spiegelung des Fensters erkenne ich eine Gestalt hinter mir. Ich brauche mich nicht umzudrehen, um zu wissen, wem diese beeindruckende Silhouette gehört – oder wer meinen ganzen Körper mit Gänsehaut überzieht.

»Wie fühlst du dich?«, fragt er.

»Besser«, sage ich zu seinem Spiegelbild.

Er hüpft über die Rückenlehne der Couch, packt mein Kinn, dreht meinen Kopf von einer Seite zur anderen, dann nach oben und nach unten und rundherum und beobachtet meine Reaktion. »Das habe ich auch gerade gemacht«, erkläre ich ihm. »Nichts.«

Er nickt und lässt mich los. »Rach… ähm meine Mom hat deine Mom angerufen und ihr gesagt, was passiert ist. Daraufhin hat deine Mom euren Arzt angerufen. Er meint, das sei ziemlich normal, aber du solltest dich ein paar Tage lang ausruhen. Meine Mom hat darauf bestanden, dass du die Nacht über hierbleibst, damit niemand bei diesem Wetter fahren muss.«

»Und meine Mutter war damit einverstanden?«

Selbst in der Dunkelheit entgeht mir sein unterdrücktes Grinsen nicht. »Meine Mom kann ziemlich überzeugend sein«, erwidert er. »Am Ende des Gesprächs hat deine Mom sogar vorgeschlagen, dass wir morgen beide zu Hause bleiben sollen und hier abhängen, damit du dich entspannen kannst – natürlich nur, weil meine Mom zu Hause sein wird und uns im Auge behalten kann. Deine Mom sagte, du würdest nicht zu Hause bleiben, wenn ich in die Schule gehe.«

Ein Blitz beleuchtet meine erröteten Wangen. »Weil wir beide ihr erzählt haben, dass wir miteinander gehen.«

Er nickt. »Sie sagte, du hättest heute noch zu Hause bleiben sollen, hättest aber einen Anfall bekommen, weil du trotzdem gehen wolltest. Ehrlich, mir war nicht klar, dass du so besessen bist von … autsch!«

Ich versuche, ihn noch mal zu kneifen, aber er fängt mein Handgelenk ab und zieht mich über seinen Schoß, wie ein Kind, das eine Tracht Prügel bekommt. »Ich wollte sagen ›von Geschichte‹.« Er lacht.

»Nein, wolltest du nicht. Lass mich hoch.«

»Gleich.« Er tut es aber nicht.

»Galen, du lässt mich auf der Stelle hoch …«

»Tut mir leid, bin noch nicht so weit.«

Ich keuche. »Oh nein! Der Raum dreht sich wieder.« Ich halte angespannt inne.

Und dann dreht sich der Raum tatsächlich, als Galen mich hochreißt und wieder mein Kinn packt. Der besorgte Ausdruck auf seinem Gesicht erfüllt mich mit schwachen Gewissensbissen – schwach genug, um den Mund jetzt nicht zu halten. »Funktioniert jedes Mal«, sage ich und schenke ihm mein schönstes Ha-ha-reingefallen-Grinsen.

Ein Kichern von der Tür unterbricht das Donnerwetter, das sich über mir zusammenbraut. Ich habe Galen noch nie fluchen gehört, aber seine finstere Miene lässt darauf schließen, dass ihm das F-Wort auf der Zunge liegt. Wir drehen uns beide um und erblicken Toraf, der uns mit verschränkten Armen beobachtet. Auch er hat ein Ha-ha-reingefallen-Grinsen im Gesicht. »Das Abendessen ist fertig, Kinder«, sagt er.

Yep, ich mag Toraf. Definitiv. Galen verdreht die Augen und zieht mich von seinem Schoß. Er springt auf die Beine und lässt mich einfach stehen, während ich in der Spiegelung des Fensters beobachte, wie er Toraf die Faust in den Magen rammt, als er an ihm vorbeigeht. Toraf ächzt, was aber nichts an dem Grinsen auf seinem Gesicht ändert. Mit einem Nicken bedeutet er mir, ihnen zu folgen.

Während wir durch die Räume gehen, versuche ich, die luxuriöse, kultivierte Atmosphäre zu genießen, die Marmorböden und die grässlichen Gemälde, aber mein Magen macht Geräusche wie zur Fütterungszeit im Hundezwinger.

»Dein Magen macht Paarungsrufe«, flüstert Toraf mir zu, als wir die Küche betreten. Mir schießt die Röte ins Gesicht, was Toraf lautes Gelächter entlockt.

Rayna sitzt im Schneidersitz auf einem Barhocker an der Theke und versucht, sich die Zehennägel mit den sechs verschiedenen Farben zu lackieren, die vor ihr aufgereiht sind. Wenn sie nicht will, dass sie hinterher wie M&M’s aussehen, hat sie noch einen langen Weg vor sich. Hmmm … M&M’s …

»Emma, ich würde dir gerne meine Mutter vorstellen«, sagt Galen. Er legt seiner Mutter die Hand auf den Rücken und schiebt sie vom Herd weg, wo sie in einem Topf rührt, der größer als ein Autoreifen ist. Sie streckt mir ihre im Ofenhandschuh steckende Hand hin und kichert, als ich ihre Hand tatsächlich ergreife. Galens Mutter ist die italienischste Person, die mir je begegnet ist. Große braune Augen, schwarzes gelocktes Haar, das sich wie ein Berg auf ihrem Kopf auftürmt, und schockierend roter Lippenstift, der zu den Zehn-Zentimeter-Absätzen passt, die sie tragen muss, um an den oberen Rand dieses Topfes heranzukommen.

»Wie schön, dich kennenzulernen, Emma«, sagt sie. »Jetzt verstehe ich, warum Galen nicht aufhört, von dir zu sprechen.« Ihr jugendliches Lächeln überstrahlt die Fältchen, die sich um ihren Mund herum kräuseln. Es wirkt so aufrichtig und warm, dass ich ihr tatsächlich glaube, wie sehr sie sich freut, mich kennenzulernen. Aber sagen das nicht alle Moms, wenn sie der Freundin ihres Sohnes vorgestellt werden? Du bist nicht seine Freundin, Dummkopf. Oder denkt sie etwa auch, dass wir miteinander gehen?

»Vielen Dank«, sage ich ganz allgemein. »Er hat Ihnen bestimmt eine Million Mal erzählt, wie ungeschickt ich bin.« Wie sollte ich ihre Bemerkung sonst verstehen?

»Eine Million und ein Mal, um genau zu sein. Ich wünschte, du würdest zur Abwechslung mal was anderes erzählen«, sagt Rayna gedehnt, ohne aufzublicken.

Jetzt hat Rayna meine Nerven endgültig überstrapaziert. »Ich könnte dir beibringen, wie man sich die Nägel lackiert, ohne über den Rand zu malen«, schieße ich zurück. Bei dem Blick, den sie mir zuwirft, könnte Milch sauer werden.

Toraf legt ihr die Hände auf die Schultern und küsst sie auf den Kopf. »Ich finde, du machst deine Sache großartig, meine Prinzessin.«

Sie windet sich aus seiner Umarmung heraus und steckt den Nagellackpinsel zurück in sein Fläschchen. »Warum lackierst du dir denn deine eigenen Zehen nicht, wenn du so gut darin bist? Wahrscheinlich sind sie ganz kaputt von deinen ständigen Zusammenstößen. Stimmt’s?«

Ja? Und? Ich will sie gerade über ein paar Dinge aufklären – zum Beispiel, dass es den Effekt von hübschen Zehen ruiniert, wenn man mit einem Rock im Schneidersitz auf einem Hocker sitzt –, als Galens Mom mir sanft eine Hand auf den Arm legt und sich räuspert. »Emma, ich bin ja so froh, dass du dich besser fühlst«, sagt sie. »Ich wette, mit einem Abendessen im Bauch bist du viel schneller wieder auf den Beinen, meinst du nicht auch?«

Ich nicke.

»Du hast Glück, meine Liebe. Essen ist fertig. Galen, würdest du bitte die Pfanne aus dem Ofen holen? Und, Rayna, du hast den Tisch nur für vier gedeckt! Toraf, schnapp dir noch ein Gedeck, ja? Nein, anderer Schrank. Danke.« Während sie Befehle erteilt, führt sie mich zum Tisch und zieht einen Stuhl heran. Nachdem sie ihn mir in die Kniekehle gerammt hat, dass ich auf das Sitzkissen falle, flitzt sie in ihren hochhackigen Schuhen zurück an den Herd.

Toraf stellt das Gedeck so schnell vor mich hin, dass es wie ein kreiselnder Penny wackelt. »Hoppla, tut mir leid«, murmelt er. Ich schaue lächelnd zu ihm auf. Er tippt mit der Hand auf den Teller, um das Vibrieren zu stoppen. Dann wirft er eine Gabel und ein Messer obendrauf. Als er mein Trinkglas hinstellen will, hält Galen ihn am Unterarm fest und reißt es ihm aus der Hand.

»Das ist Glas, du Idiot. Schon mal gehört?«, fragt Galen. Er stellt es hin, als sei es ein rohes Ei, dann zwinkert er mir zu. Ich bin froh, dass er die Kontaktlinsen herausgenommen hat – er hat die hübschesten violetten Augen von allen hier. »Tut mir leid, Emma. Wir haben nicht oft Besuch.«

»Das stimmt«, bestätigt Toraf und setzt sich neben Rayna.

Als alle Platz genommen haben, benutzt Galen einen Topflappen, um den Deckel von der riesigen, fleckigen Pfanne in der Mitte des Tisches zu nehmen. Und ich muss mich fast übergeben. Fisch. Krabben. Und … sind das etwa Tintenfischarme? Bevor ich mir eine höfliche Ausrede einfallen lassen kann – ich würde eher meinen eigenen kleinen Finger essen als Meeresfrüchte –, klatscht Galen das größte Stück Fisch auf meinen Teller. Dann löffelt er eine Mischung aus Krabbenfleisch und Muscheln obendrauf. Als mir der Dampf in die Nase zieht, schwinden meine Chancen, höflich zu bleiben. Ich habe nur eine Chance: es so aussehen lassen, als hätte ich Schluckauf, statt zu würgen. Was habe ich vorhin gerochen, dass mir fast das Wasser im Mund zusammengelaufen ist? Das hier kann es nicht gewesen sein.

Ich spieße das Filet auf die Gabel und drehe es hin und her. Es fühlt sich an, als würde ich meine eigenen Eingeweide hin und her drehen. Zermatsch es, würfel es, misch alles zusammen. Aber ganz egal, was ich tue, ich kann es nicht einmal in die Nähe meines Mundes bringen. Versprochen ist versprochen, Traum hin, Traum her. Selbst wenn mich in Grannys Teich kein echter Fisch gerettet hat, haben mich die unechten, von meiner Fantasie heraufbeschworenen getröstet, bis Hilfe kam. Und jetzt wird von mir erwartet, dass ich ihre Cousins esse? Nie im Leben.

Ich lege die Gabel beiseite und nippe an meinem Wasser. Ich spüre, dass Galen mich beobachtet. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass die anderen sich das Zeug ins Gesicht schaufeln. Außer Galen. Er sitzt reglos da, den Kopf zur Seite geneigt, und wartet darauf, dass ich den ersten Bissen nehme.

Jederzeit ein Gentleman! Was ist bloß mit dem Jungen passiert, der mich noch vor wenigen Minuten wie eine Dreijährige übers Knie gelegt hat? Ich krieg das Zeug immer noch nicht runter. Und sie haben nicht einmal einen Hund, den ich unter dem Tisch füttern könnte – mein Masterplan, wenn wir bei Chloes Großmutter zu Besuch waren. Einmal hat Chloe sogar eine Essensschlacht angezettelt, um mich zu retten. Ich blicke in die Runde, aber Rayna ist die Einzige, der ich diesen Matsch an den Kopf werfen würde. Außerdem würde ich am Ende noch selbst etwas von dem Zeug abkriegen.

Galen stößt mich mit dem Ellbogen an. »Hast du keinen Hunger? Es geht dir doch nicht wieder schlechter, oder?«

Das erregt die Aufmerksamkeit der anderen. Das wilde Reinschaufeln hört abrupt auf. Alle starren mich an: Rayna verärgert, weil ihre kleine Völlerei unterbrochen wurde. Toraf grinsend, als hätte ich etwas Witziges getan. Galens Mom besorgt. Kann ich lügen? Soll ich lügen? Was, wenn ich wieder eingeladen werde und sie noch mal Meeresfrüchte kocht, weil ich sie dieses Mal angelogen habe? Wenn ich Galen erzähle, dass mein Kopf wehtut, bewahrt mich das nicht vor zukünftigen Meeresfrüchtebuffets. Und es wäre sinnlos, ihm zu sagen, ich hätte keinen Hunger, weil mein Magen gurgelt wie ein sich leerendes Abflussrohr.

Nein, ich kann nicht lügen. Nicht, wenn ich jemals wieder hierherkommen will. Und das möchte ich. Ich seufze und lege die Gabel beiseite. »Ich hasse Meeresfrüchte«, erkläre ich ihm. Torafs plötzliches Husten lässt mich zusammenzucken. Er würgt wie eine Katze, die mit einem Haarball kämpft.

Ich richte den Blick auf Galen, der aussieht, als wäre er zur Statue geworden. Himmel, ist das das einzige Gericht, das seine Mom kochen kann? Oder habe ich gerade das preisgekrönte Forza-Familienrezept für Zackenbarsch runtergemacht?

»Du … du meinst, du magst diese Art von Fisch nicht, Emma?«, fragt Galen diplomatisch.

Ich will schon verzweifelt nicken, will sagen: »Ja, genau, nicht diese Art von Fisch« – aber dann komme ich nicht um den Krabbenfleisch- und Muschelberg auf meinem Teller herum. Ich schüttele den Kopf. »Nein. Nicht nur diese Art von Fisch. Ich hasse Fisch ganz grundsätzlich. Ich kann nichts davon essen. Kann es kaum riechen.«

Warum springst du ihm nicht gleich an die Kehle, du Dummkopf! Hätte ich nicht einfach sagen können, dass ich nichts dafür übrighabe? Musste ich gleich sagen, dass ich Fisch hasse? Dass ich sogar den Geruch hasse? Und warum werde ich rot? Es ist kein Verbrechen, bei Meeresfrüchten zu würgen. Und um Gottes willen, ich werde nichts essen, was noch Augäpfel hat.

»Du willst damit sagen, dass du keinen Fisch isst?«, blafft Rayna. »Ich hab’s dir gesagt, Galen! Wie viele Male habe ich es dir gesagt?«

»Rayna, sei still«, erwidert er, ohne sie anzusehen.

»Wir verschwenden unsere Zeit!« Sie legt krachend ihre Gabel auf den Tisch.

»Rayna, ich sagte …«

»Oh, ich habe gehört, was du gesagt hast. Und es wird langsam Zeit, dass du zur Abwechslung mal jemand anderem zuhörst.«

Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt für eine Ohnmacht. Oder vor zehn Minuten – bevor sie die Meeresfrüchteüberraschung enthüllt haben. Aber mir ist kein bisschen schwindelig. Ich bin auch nicht müde. Raynas Ausbruch hat die Stimmung im Raum verändert. Es fliegen Funken, als hätte sie eine versteckte Energie freigesetzt. Daher bin ich nicht überrascht, als Galen so schnell aufsteht, dass sein Stuhl umkippt. Ich stehe ebenfalls auf.

»Geh, Rayna. Sofort«, stößt er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Als Rayna aufsteht, folgt ihr Toraf mit unbewegter Miene. Ich habe das Gefühl, dass er an solche Ausbrüche gewöhnt ist. »Du lenkst mit ihr nur von deinen wahren Verpflichtungen ab, Galen«, zischt sie. »Und jetzt hast du uns alle in Gefahr gebracht. Wegen ihr

»Du kanntest diese Gefahr, bevor du hergekommen bist, Rayna. Wenn du dich bloßgestellt fühlst, geh«, entgegnet Galen kühl.

Verpflichtungen? Bloßgestellt? Irgendwie warte ich darauf, dass irgendjemand zugibt, dass sie Teil eines Violette-Augen-Kultes sind und dass ich die Initiation vermasselt habe. »Ich glaube, ich verstehe das nicht ganz«, murmele ich.

»Oh, tja, das ist echt schockierend, was?«, bemerkt Rayna. Dann dreht sie sich wieder zu Galen um und fügt hinzu: »Sieht aus, als würdest du immer versuchen, mich wegzuschicken.«

»Sieht aus, als würdest du niemals hören«, gibt Galen zurück.

»Ich bin deine Schwester. Mein Platz ist an deiner Seite. Was bedeutet sie schon für uns?« Sie weist mit dem Kopf auf mich.

Ich rücke ein wenig vom Tisch ab, um Abstand zwischen Galens Schwester und mich zu bringen. Die Energie im Raum wirft schon längst keine Funken mehr, sondern hat sich in ein ausgewachsenes Inferno verwandelt.

»Alles okay?«, fragt er mich. »Setz dich lieber wieder hin.«

Rayna kommt um die Ecke des Tisches und umklammert die Rückenlehne eines Stuhls. »Warum bist du immer noch hier, Galen? Sie ist doch eindeutig bloß ein armseliger, kleiner Mensch, der nicht mal seine eigene Freundin retten konnte. Und wir wissen doch, wie mordgierig sie sind und dass sie sich grundlos gegenseitig töten. Vielleicht hat sie sie ja mit Absicht sterben lassen.«

Ich stoße mich von der Theke ab. »Was hast du gerade gesagt?«

»Rayna!«, brüllt Toraf. »GENUG

»Emma, sie weiß nicht, was sie sagt«, sagt Galen und zieht an meinem Handgelenk, damit ich wieder zu ihm komme.

Rayna lächelt gehässig, als sie sagt: »Oh doch, das weiß ich, Emma. Ich weiß genau, wovon ich rede. Du. Hast. Chloe. Getötet.«

Ich war noch nie zuvor in einen Kampf verwickelt. Technisch gesehen wird das hier auch nicht als Kampf durchgehen – es wird Mord sein. Zum ersten Mal in meinem Leben gewinnt Präzision die Oberhand über meine Ungeschicktheit. Selbst mit nackten Füßen bin ich so schnell bei ihr, dass ihr die Luft wegbleibt. Ich ramme meine Schulter in ihre Eingeweide, hebe sie an den Beinen hoch und klatsche sie an die nächste Wand. Sie ist muskulöser als ich. Vor ungefähr zwei Sekunden dachte sie auch noch, sie sei wütender. Aber Rayna weiß nicht, was jenseits von stinksauer wirklich bedeutet – und ich bin drauf und dran, es ihr beizubringen.

Bei dem Aufprall beißt sie die Zähne zusammen und knirscht: »Siehst du, Galen? Jetzt kommt ihre wahre Natur zum Vorschein!«

Ich schlage sie so heftig, dass meine Faust und ihr Gesicht beide gebrochen sein müssten. Aber beide funktionieren immer noch prächtig, als sie mir ihren Kopf direkt zwischen die Augen rammt und ich ihr einen Faustschlag aufs Ohr verpasse. Irgendwie prügeln wir uns gegenseitig ins Wohnzimmer. Ich nehme undeutlich wahr, dass Galen und Toraf raufen. Galens Mom schreit, als sei ihr das Bein amputiert worden.

Ich habe die Gastfreundschaft hier überstrapaziert. Ich werde niemals wieder eingeladen werden. Meine Chancen bei Galen sind auf null gesunken, als ich seine Schwester angegriffen habe. Und sie geschlagen habe. Und trotzdem trete ich sie so heftig, dass sie fast kotzen muss.

Als sie dann auch noch sagt: »Ist es das, was du mit Chloe gemacht hast, als du sie unter Wasser hattest?«, habe ich nichts mehr zu verlieren. Also ramme ich ihr die Schulter in den Brustkorb, hieve sie vom Boden hoch und katapultiere uns beide durch die Glasfront nach draußen in den Sturm.