Wie geht es Elli? Hat Grimmer sie …?«
»Nein, er hat ihr nichts getan und es geht ihr gut. Sie hat eine Verletzung am Bein, abgesehen davon ist sie völlig unversehrt.« Die Frau mit den kurzen Haaren und den vielen Sommersprossen, die sich mir als Hauptkommissarin Hanna Schilling vorgestellt hat, sitzt neben mir auf dem Bett, während ein älterer Polizist kopfschüttelnd das Verlies begutachtet.
»Sie ist mir in den Wald nachgefahren.«
Die Kommissarin nickt. »Elli hat dich aus den Augen verloren und wollte ins Dorf zurückfahren, da hat Grimmer sie sich geschnappt. Aber sie hat ihn gebissen und ist ihm entkommen. In ihrer Panik ist sie immer tiefer in den Wald gerannt, dabei ist sie gestürzt und hat sich böse das Bein aufgerissen. Dieser junge Mann, Olek, er hat sie gefunden. Elli sagt, er hat sie in seine Räuberhöhle gebracht, um ihr Bein zu verbinden. Als er Elli dann ins Dorf tragen wollte, sind sie dem Suchtrupp in die Arme gelaufen. Und dabei hat es wohl einige Irritationen gegeben.«
»Irritationen? Hubert Trefflich hat auf Olek geschossen und …«
Die Kommissarin tätschelt meine Schulter. »Es geht ihm gut. Herr Merbach hat ihn im Wald gefunden und einen Krankenwagen gerufen. Er ist in Arnstadt im Krankenhaus. Dieser Trefflich hat ihn angeschossen, aber es ist nichts Lebensbedrohliches.«
Eine Welle der Erleichterung erfasst mich so intensiv, dass ich beinahe ohnmächtig werde. Hanna Schilling legt ihren Arm um meine Schultern. »Na, kommen Sie, Jola. Über den jungen Mann muss ich Sie noch genau befragen, aber gehen wir erst einmal hier raus – die letzten Stunden müssen schlimm für Sie gewesen sein.«
Die Kommissarin führt mich durch die Metalltür aus dem Verlies. Im davorliegenden Kellerraum hat offenbar ein Regal auf Rollen, vollgestellt mit Eingewecktem und altem Krempel, die Eisentür versteckt. Eine steile Betontreppe führt nach oben in einen gefliesten Flur. Die Haustür steht offen und ich sehe die Blätter eines Baumes im Sonnenlicht funkeln. Darüber ein Stück strahlend blauer Himmel. Es zieht mich dorthin, doch auf dem Weg durch den Flur kommen wir an der halb offenen Küchentür vorbei und ich sehe Rudi Grimmer zusammengesunken auf einem Küchenstuhl sitzen, die Hände in Handschellen. Ich bleibe stehen. Die Uhr an der Wand macht tak, tak, tak. Einen Augenblick lang stehen beide Zeiger auf der Zwölf. Fast vierzehn Stunden war ich in diesem Kellerloch eingesperrt.
Das leise Zischen des elektrischen Rollstuhls dringt an meine Ohren und Elvira erscheint in der Küchentür. Sie schiebt sie ganz auf und rollt zu mir in den Flur. Heute sieht sie ein wenig verwahrlost aus. Auf ihren Wangen glitzern Tränenspuren.
Elviras Hand greift zaghaft nach meiner, sie spitzt die Lippen: »Hü… Hü…«
»Hühnerkacke«, sage ich. »Ja, ich weiß. Das ist alles verdammte Hühnerkacke. Es tut mir sehr leid, Frau Grimmer.«
Elvira drückt meine Hand und lächelt. In der Küche hebt Rudi den Kopf. Er starrt mich aus schmalen Augen an.
»Was haben Sie mit Alina gemacht?«
Grimmer schüttelt schweigend den Kopf.
»Kommen Sie, Jola«, die Kommissarin nimmt mich am Arm, »da draußen wartet jemand auf Sie.«
Nach dem Gewitter hat sich die Luft abgekühlt, die Welt ist sauber gespült vom Regen. Alles atmet. Unten auf der Straße stehen Polizeifahrzeuge und ein Krankenwagen.
Auf einer Holzbank in Grimmers Garten sitzt ein Mädchen in schwarzen Klamotten mit einer schwarz-roten Punkfrisur.
»Geh nur.« Die Kommissarin nickt mir aufmunternd zu. »Wir reden später.«
Die Schwarze ist behängt mit Ketten. Nase, Ohrläppchen, Augenbrauen sind zerstochen von Piercings. Wer soll das sein? Ich habe dieses Mädchen noch nie gesehen – oder doch? Diese blauen Augen … das kann nicht sein, ist schier unmöglich.
»Alina?«
»Hallo, Waldschrat, von dir hört man ja schlimme Sachen.« Das Mädchen grinst und in diesem Augenblick weiß ich, dass es wirklich Alina ist. Oder besser: war. Sie ist nicht mehr Tinkerbell im hellblauen Taftkleid. Sie ist eine dunkle Gothik-Queen, auferstanden von den Toten.
»Du lebst?«
»Sieht ganz so aus.«
»Aber …« Ich schließe die Augen, schüttele den Kopf. Das kann einfach nicht wahr sein. Alina lebt. Und sie sieht nicht aus wie jemand, der aus einem Kerker kommt. Ihre Haut hat eine gesunde Bräune, ihre blauen Augen sind klar und da ist Bitternis und Trotz, aber keine Angst.
»Du willst Antworten?«
Ich setze mich neben sie auf die Bank. »Keine schlechte Idee.«
Alina holt ein Tabakpäckchen aus ihrer von Buttons übersäten Umhängetasche und beginnt, sich eine Zigarette zu drehen. Ihre lackierten Fingernägel funkeln im Sonnenlicht wie schwarze Edelsteine.
»Ich war zwei Jahre da unten.« Sie nickt hinüber zu Grimmers Haus. »Zwei Jahre. Grimmer hat mich mit einem greinenden Katzenbaby aus dem Garten in den Wald gelockt, hat mich mit Äther betäubt und in seine rosafarbene Gruft gesperrt.«
»Am helllichten Tag?«
Alina zuckt mit den Achseln. Sie befeuchtet das Zigarettenpapier mit ihrer gepiercten Zunge, dreht die Zigarette fertig und zündet sie mit einem Feuerzeug an.
»Hat er dich?«, ich schlucke. »Ich meine, hat er …?«
»Sex mit mir gehabt?« Sie nimmt einen tiefen Zug und schüttelt den Kopf, während sie den Rauch durch Mund und Nase ausstößt. »Nein, nicht wirklich«, antwortet sie, schaut mich dabei jedoch nicht an. »Das war es nicht, was er von mir wollte. Meine Zimtprinzessin hat er mich immer genannt. Er war mein Prinz, mein Beschützer. Laurentia, liebe Laurentia mein musste ich mit ihm singen und … na ja, solche Sachen eben. Er hat da irgendeine Macke, was seine tote Schwester angeht.«
»Wie … wie bist du ihm entwischt?«
»Grimmer war unten bei mir und hat mir wieder dieses wirre Zeug von seiner Schwester erzählt, als Biene vor der Tür plötzlich fürchterlich zu jaulen anfing. Grimmer liebt den blöden Köter wie verrückt und ist sofort zu ihr raus. In seiner Panik hat er die eiserne Tür nicht richtig verriegelt. Die Hündin hatte eine Kolik oder so was, jedenfalls ist er mit Biene hoch und weggefahren, wahrscheinlich zum Tierarzt. Das war der Moment, auf den ich seit zwei Jahren gewartet habe.«
In meinem Kopf beginnen die Rädchen, sich zu drehen. »Zwei Jahre, sagst du?«
»Ja. Es war Mai, als ich ihm entkommen bin. Kirschblütenzeit.« Sie hustet und nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. Ihre schwarz umrandeten Augen verengen sich dabei zu Schlitzen, aus denen sie mich mit kühlem Blick mustert.
»Klingelt da was bei dir, Waldschrat?«
Und ob. Ich sehe wieder die bleiche Gestalt mit den Feenflügeln unter meinem Balkon stehen und zu mir heraufschauen.
»Ich war zwei Jahre im Keller von diesem perversen Arschloch eingesperrt und habe an nichts anderes gedacht, als dass ihr mich da rausholen würdet – du, meine beste Freundin, und meine Eltern. Aber niemand kam, niemand holte mich. Meine Eltern nicht und du auch nicht. Ihr habt mich einfach aufgegeben und vergessen.«
Ich will protestieren, doch Alina spricht schon weiter: »Und dann hilft mir der Zufall. Ich bin frei und Grimmer ist weg. Das hat mich beinahe umgehauen, verstehst du? Ich stand völlig neben mir. Wie in Trance bin ich durchs dunkle Dorf gelaufen, niemand ist mir begegnet, nirgendwo brannte Licht. Bis ich zum Haus meiner Eltern kam.«
Alinas holt tief Atem. »Licht fiel aus dem Wohnzimmer auf die Veranda und ich bin hingegangen. Weißt du, was ich gesehen habe?« Ihre Stimme bebt. »Meinen Vater mit einer fremden Frau und einem Baby. Eine glückliche neue Familie. Kannst du dir vorstellen, was damals in mir vorging?«
Ich schüttele den Kopf, schweige, einen dicken Kloß im Hals. Nein, ich kann mir nicht annähernd vorstellen, wie das für Alina gewesen sein muss, und ich weiß, dass sie keine Antwort von mir erwartet. Vermutlich brach ihre Welt damals endgültig zusammen.
»Mein Vater hat die Frau, die nicht meine Mutter war, geküsst und sie hat ihm das Baby gereicht. Das war eindeutig, mehr brauchte ich nicht sehen. Mama war nicht mehr da und mein Vater hatte sie und mich sehr schnell ersetzt. Eine neue Frau, ein neues Kind. Ich war längst vergessen.«
»Niemand hat dich vergessen, Alina«, flüstere ich. »Wir dachten alle, du wärst tot.«
»War ich aber nicht, verdammt.« Ihre Unterlippe zittert. »Oder habt ihr meine Leiche gefunden und ich weiß nichts davon? Ich habe gewartet und gehofft und resigniert und doch wieder gehofft. Ich hatte zwei Jahre lang Angst, Waldschrat. So wahnsinnige Angst, dass er irgendetwas Schreckliches mit mir anstellen könnte.«
»Wieso hast du nicht einfach geklingelt? Dein Vater war immer noch dein Vater.«
»Ich konnte nicht. Ich …« Alina schüttelt den Kopf.
Beschämt wende ich mich ab, Tränen füllen meine Augen. Mit dem Handrücken wische ich sie weg. »Du hast unter meinem Balkon gestanden, in dieser Nacht, nicht wahr? Warum hast du nichts gesagt und bist einfach wieder verschwunden? Ich war krank und hatte Fieber. Ich dachte, du wärst ein Geist, Alina.«
Sie zuckt mit den Achseln und schnippt die Kippe ins Gras. »So krank hast du aber gar nicht ausgesehen. Du hast auf deinem Balkon gestanden und gelacht. Es ging dir gut, auch du hast mich nicht vermisst.«
»Das stimmt nicht, Alina. Ich habe dich jeden Tag vermisst, bis heute. Aber das Leben ging weiter. Es musste weitergehen.«
»Pah.« Sie stößt verächtlich Luft durch die schwarzen Lippen. »Ein Leben in diesem beschissenen engen Kaff. Ist es das, was du willst?«
»Es ist mein Leben – und ich mag es«, erwidere ich und ärgere mich über den Trotz in meiner Stimme.
Alina lächelt mitleidig, doch ich beschließe, dieses Lächeln zu übersehen. Ich war vierzehn Stunden dort unten und Alina zwei lange Jahre. Sie musste ungeheuer stark sein, um das durchzustehen, ohne verrückt zu werden.
»Rudi Grimmer hatte an diesem Abend einen Unfall«, erzähle ich ihr. »Er lag ein paar Tage im Koma und war danach noch lange im Krankenhaus. Es hat ihn übel erwischt.«
»Ich dachte, das Schwein wäre tot.«
»Was? Du hast von dem Unfall gewusst?«
»Ja.« Sie springt auf, beginnt, vor mir hin und her zu laufen. »Er kam mir im Wald mit seinem Auto entgegen. Er muss geglaubt haben, er hätte einen Geist gesehen. Sein Wagen kam ins Schleudern und er ist gegen einen Baum gekracht. Ich wusste nicht, dass er es war. Ich bin hingegangen und habe ihn gesehen, das Gesicht blutüberströmt. Er hat keinen Mucks von sich gegeben, deshalb dachte ich … na ja, er sah ziemlich tot aus. Ich war sicher, dass er seine gerechte Strafe bekommen hat und keinem Mädchen mehr etwas tun konnte.«
»Und du bist einfach weitergelaufen?«
»Ja. Ich stand unter Schock, Waldschrat – was glaubst du denn? Ich bin bis in die Stadt gelaufen, habe mich in einen Garten verkrochen und auf einer Hollywoodschaukel schlafen gelegt. Am nächsten Morgen hat Joshi mich gefunden, ein Junge, der mit ein paar Leuten in diesem Haus lebte. Es gehörte einem alten Mann, der nicht mehr ganz beisammen war. Sie haben ihm geholfen und er war froh, nicht allein sein zu müssen. Seine Rente hat für uns alle gereicht. Als er ein paar Monate später starb, bin ich mit Joshi nach Erfurt gegangen.«
»Du warst die ganze Zeit in Erfurt?«
»Die letzten eineinhalb Jahre – ja.«
»Wow«, ist alles, was ich dazu hervorbringe.
»Wenn Grimmer die Tür an diesem Abend richtig verriegelt hätte«, ich schlucke trocken, »dann …« Ich sehe Alina an.
»Dann Waldschrat, wäre ich in der rosaroten Gruft verhungert, während Grimmer im Krankenhaus lag.«
Sie gibt sich nur so cool. Das alles muss sie doch in ihren Träumen verfolgen. Sie braucht Hilfe. Ich muss daran denken, dass alles anders gekommen wäre, wenn Alina damals bei ihren Eltern geklingelt hätte. Sie hätten die Polizei angerufen und Grimmer wäre noch beim Tierarzt verhaftet worden.
Als er damals in seinem Krankenhausbett erwachte, hat er sich vermutlich gewundert, dass seine ehemaligen Kollegen nicht kamen, um ihm Handschellen anzulegen. Dass Alina ihn nicht anzeigte, nachdem sie ihm entkommen war.
»Es tut mir leid, Waldschrat, dass er dich auch da unten eingesperrt hat. Ich dachte, er wäre tot.«
Ja, denke ich, das Ganze hätte auch anders ausgehen können für Elli und für mich.
»Alina!«
Der Aufschrei lässt uns beide herumfahren. Es ist Alinas Vater, der auf uns zukommt, der mehr stolpert als läuft, bleich im Gesicht wie ein kalter Mond. Als er bei uns ankommt, reißt er Alina in seine Arme. Merbach stammelt ungläubige Worte, Tränen strömen über sein Gesicht. Er nimmt seine Tochter an den Schultern, schiebt sie ein Stück von sich, um sie gleich darauf wieder an seine Brust zu pressen. Alinas Arme schlenkern wie die einer Puppe.
Da sind auch meine Eltern. Ma rennt und ich laufe ihr entgegen, fliege in ihre Arme. Sie drückt mich und küsst mich ab, als wäre auch ich fünf Jahre und nicht nur ein paar Stunden vermisst gewesen.
Pa umarmt uns beide und ich fühle mich in dieser Umarmung sicher und geborgen – wie früher, als ich noch ein kleines Kind war.
»Jola, Mädchen, du hast uns vielleicht einen Schrecken eingejagt.«
»Ich bin bald gestorben vor Angst um dich.« Ma hält meine Hand fest umklammert.
Ich hatte auch Angst, Ma. Eine Scheißangst.
»Ich muss zu Olek ins Krankenhaus.«
»Aber das geht jetzt nicht«, sagt Pa, »die Polizei ist bei dem Jungen.«
»Ich muss zu ihm.« Ich muss wissen, ob er den Tod von Agnes’ Enkeltochter zu verantworten hat.
»Jola«, Ma nimmt mich am Arm, »du warst vierzehn Stunden im Keller eines Verrückten und kaum bist du draußen, denkst du nur an diesen Jungen. Er ist ein Dieb, hat das ganze Dorf bestohlen.«
»Ulla«, sagt Pa. »Jetzt nicht, okay?«
»Ja, Ma.« Ich mache mich von ihr los. »Ich denke an Olek. Ich denke an dich und Pa, an Kai und Alina. Und ich denke an Olek und mich. Ich liebe ihn. Und ich muss etwas Wichtiges herausfinden.«
Doch aus meinem Plan wird nichts. Ich werde von der sommersprossigen Kommissarin zur Befragung in einen Polizeibus geholt. Meine Eltern wollen dabei sein, aber ich bestehe darauf, alleine mit Hanna Schilling zu sprechen, und schließlich geben sie nach.
Diesmal ist es anders als vor fünf Jahren. Ich bin fast siebzehn und ich verstehe die Dinge – na ja, zumindest fast.
»Es ist eine lange Geschichte«, warne ich die Kommissarin.
»Erzählen Sie von Anfang an, Jola, und bitte alles, jedes Detail ist wichtig.«
Ich beginne mit meiner Geschichte zu dem Zeitpunkt, als ich anfing, mich im Wald beobachtet zu fühlen. Ich erzähle alles, nur die Liebe, die bleibt mein Geheimnis.
Eine Klimaanlage kühlt den Bus. Durchs Fenster kann ich sehen, wie sich ein Polizeibeamter über Frau Grimmer in ihrem Rollstuhl beugt, und frage mich, was jetzt aus ihr wird.
»Dieser Olek, Jola …« Ich wende den Kopf und schaue die Kommissarin wieder an. »Der Junge gilt in Polen seit fünf Jahren als vermisst. Seine Familie dachte, er wäre tot. Damals ist etwas Schreckliches passiert mit seiner kleinen Schwester.«
»Ich weiß.«
»Okay.« Sie mustert mich eindringlich. »Mir ist klar, dass in so einem kleinen Dorf wie Altenwinkel viel geredet wird und nicht immer ist was dran. Aber die Leute sagen, Sie und der Junge …«
Ich spüre, wie ich rot anlaufe. »Das geht nur mich und Olek etwas an.«
»Verstehe.«
»Aber wenn Sie Oleks Höhle durchsuchen …«
»Ja?«
»Dann werden Sie auf ein Skelett stoßen.«
Die Kommissarin schnappt nach Luft.
Ich muss lächeln. »Es ist nicht, wie Sie denken. Olek hat niemanden umgebracht. Der Mann, der da sitzt, ist schon seit fast fünfzig Jahren tot. Olek … Alexander, er ist Agnes Scherers Neffe und gleichzeitig ihr Adoptivenkel. Agnes wohnt hier im Dorf. Und der Mann in der Höhle ist ihr Vater. Oleks Großvater Tomasz.«
Kommissarin Schilling klappt das Kinn nach unten.
»Ich habe doch gesagt, es ist eine lange Geschichte.«
Als ich den Polizeibus endlich verlassen kann, steht ein Übertragungswagen des Regionalfernsehens an der Straße. Fotografen und Reporter werden von den Beamten zurückgehalten.
Ich kann die Schlagzeilen schon vor mir sehen: Expolizist hält Mädchen als Liebessklavin in seinem Keller und Polnischer Dieb auf Truppenübungsplatz gefasst.
Die Reporter rufen mir Fragen zu. »Hat Grimmer dir etwas getan? Wer ist der Wolfsjunge?«
Der Wolfsjunge? Ich lächele in mich hinein. Wolfsjunge gefällt mir viel besser als Dieb.
Pa lässt sich schließlich doch breitschlagen und fährt mich nach Arnstadt ins Krankenhaus. Er gibt mir eine gute Stunde, dann soll ich wieder auf dem Parkplatz sein.
Olek liegt allein in einem Zimmer mit zwei Betten. Halb aufrecht sitzt er ans hochgestellte Kopfteil gelehnt und starrt wie gebannt auf den Fernseher. Die dunkle Haut seiner Arme bildet einen scharfen Kontrast zur blütenweißen Bettwäsche.
Als er mich bemerkt, wendet er den Kopf zur Tür und jähe Freude erhellt sein Gesicht. »Jola!«
»Hey.« Ich setze mich zu ihm aufs Bett und er stellt den Fernseher aus. Erst jetzt bemerke ich, dass Olek ein blaues Auge hat.
Ich strecke meine Hand aus und fahre mit den Fingern vorsichtig über seine rechte Schläfe. »Haben diese Idioten dich auch noch verprügelt?«
»Nein, das war Ellis Faust.« Er stützt sich mit beiden Händen im Bett ab und versucht, sich ein wenig nach oben zu schieben. Dabei verzieht er das Gesicht vor Schmerz.
»Wo hat der Idiot dich überhaupt getroffen?«
Olek hebt die dünne Decke an, zieht sein Krankenhaushemd unters Kinn und zeigt mir seinen von versprengten roten Punkten gemusterten Oberkörper.
Ich atme geräuschvoll ein. »Schrotkugeln. Das tut bestimmt furchtbar weh?«
Kopfschüttelnd zieht Olek die Mundwinkel nach unten. »Sieht schlimm aus, ist aber nicht«, sagt er, doch ich weiß, dass er lügt. In seinen gelbgrünen Augen sehe ich, wie weh es tut. »Ein paar sie haben rausgeholt, der Rest bleibt drin. Der Arzt sagt, Schaden ist größer, wenn sie Schrotkörner rausholen, als wenn sie drinbleiben.«
Ich ziehe Oleks Krankenhaushemd wieder über seinen gesprenkelten Bauch und decke ihn zu. Anscheinend weiß Olek noch gar nichts von Grimmer und wo ich die Nacht verbracht habe, sonst hätte er längst gefragt. Ihm davon zu erzählen, dazu ist auch später noch Zeit. Zuerst muss ich Antworten auf zwei Fragen haben, die mir unter den Nägeln brennen.
Ich nehme seine linke Hand. »Olek, was genau ist im Wald mit Elli passiert?«
Olek stößt einen Seufzer aus, bevor er zu erzählen beginnt. »Ich kam von Wölfin, da war auf einmal das Mädchen, ganz nah bei der Höhle. Ich wusste, wer sie ist, habe sie nach dir gefragt. Sie hatte Angst, ihr Bein blutete. ›Bist du Jolas Dieb?‹, hat sie gefragt. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also ich sagte: ,Ja, der bin ich.‹ Da war sie, wie sagt man: zufrieden. Sie hatte keine Angst mehr vor mir, ich konnte sie mit in Höhle nehmen, ihr Bein verbinden.«
»Elli ist mir am Nachmittag gefolgt, als ich zu dir wollte. Rudi Grimmer, ein Mann aus unserem Dorf, hat sie sich geschnappt, er wollte sie in seinen Keller sperren. Elli hat ihn gebissen und ist ihm entkommen.«
»In Keller sperren?« Olek runzelt die Stirn.
»Ja, so wie Alina, meine Freundin. Aber das erzähle ich dir später. Was ist dann passiert, nachdem du Ellis Bein verbunden hast?«
»Ich wollte Mädchen ins Dorf bringen, zu dir. Aber da waren auf einmal Männer mit Taschenlampen und Elli hat geschrien. Ich wusste ja nicht … ich habe sie festgehalten, ich wollte sie …« Er sucht nach dem richtigen Wort.
»Beschützen«, helfe ich und merke, wie angespannt ich bin.
»Ja, beschützen. Sie hat sich losgerissen, ist zu den Männern gelaufen. Ich bin weggerannt, aber Mann hat geschossen. Ich dachte, ich bin tot. Als ich aufgewacht bin, war Mann bei mir, dann kam der Krankenwagen.«
»Der Mann, das war Alinas Vater. Zum Glück hat er dich gefunden.«
»Du warst auch da, Jola?« Olek schaut mich fragend an und in seinem Blick liegt eine müde Traurigkeit.
»Ja, ich war auch da. Kai hat uns zusammen gesehen, Olek. Er weiß, dass du der Dieb bist. Ich bin zur Höhle gelaufen, um dich zu warnen, aber du warst nicht da. Ich wollte auf dich warten, habe in Grimms Märchen gelesen und dabei den Zeitungsartikel gefunden von dir und …«
»Kamila«, flüstert er. In seinen Augen glimmt plötzlich Unaussprechliches, eine bleischwere Last auf seiner Seele.
»Kamila, ja. Ich habe mich daran erinnert, bei Agnes in der Küche ein Foto von dir und diesem Mädchen gesehen zu haben. Also bin ich mit dem Zeitungsartikel zu Agnes gelaufen und sie hat mir erzählt, wie deine Schwester gestorben ist.«
Olek zieht seine Hand weg, sein Blick kehrt sich nach innen. Gleich wird er gar nichts mehr sagen.
»Sie hat mir auch erzählt, wo Brigitta dich gefunden hat. Auf diesem Hof, in einer Hundehütte.«
Ein paar Minuten vergehen im Schweigen. Als Olek zu sprechen beginnt, sind seine Worte so leise, dass ich ihn kaum verstehe.
»Ab und zu bei der Hündin zu schlafen, das war nicht so schlimm. Sie hatte Welpen und ich gehörte dazu.«
Stockend und mit starkem Akzent erzählt Olek, wie er zu Brigitta und Marek kam, wie bei den beiden ein völlig neues Leben für ihn begann. »Auf einmal ich hatte richtige Eltern, die mich liebten, die für mich da waren. Ich hatte ein richtiges Bett und immer genug zu essen. Wir haben Spiele gespielt, gelacht und alles war warm, war sicher und …«
»Und dann wurde Kamila geboren.«
Olek nickt. »Ich war sehr eifersüchtig auf dieses kleine, schreiende Ding.«
Eine eiserne Klammer legt sich um mein Herz und drückt zu. Will ich die Wahrheit überhaupt wissen? Ist es nicht besser, wenn das Ungeheuerliche unausgesprochen bleibt? Aber ich bringe kein Wort heraus und Olek spricht weiter.
»Ich wollte nicht eifersüchtig sein. Brigitta und Marek waren gut zu mir, sie hatten nur weniger Zeit für mich. Das Baby hat viel geschrien. Ich habe gehasst. Das Schreien … Kamila.«
Er macht eine Pause, holt tief Luft. Schleppt sich mühsam von Wort zu Wort. »Dann ich wurde älter und Kamila auch. Kein Geschrei mehr. Ich war großer Bruder und sie hat mich geliebt. Sie war verrückt nach mir.« Er hält inne und schaut aus dem Fenster.
»Und du? Hast du sie noch gehasst?«
»Nein, Jola. Aber immer wollte sie machen, was ich mache, wollte dabei sein, wenn ich mit Freunden zusammen war, sie …« Wieder sucht er nach Worten.
»Sie ging dir tierisch auf die Nerven.«
»Ja.« Er nickt. »Sie ist mir hinterhergelaufen wie ein kleiner Hund. Meine Freunde haben mich ausgelacht, weil jedes Mal meine kleine Schwester aufgetaucht ist, wenn wir zusammen etwas machen wollten.«
Ich muss mir auf die Lippen beißen, um nicht zu schreien. Weil ich es kaum noch aushalten kann. Weil das alles nach einem furchtbaren Geständnis klingt. Weil ich Olek liebe. Ich liebe ihn, egal, was er gleich sagen wird.
»Und dann war da dieser schreckliche Tag. Meine Freunde und ich, wir haben oft auf Baustelle von unfertige Haus gespielt. Die Leute sind nach Deutschland gegangen, Geld verdienen. Marek hat uns mal erwischt und mir verboten, da zu spielen, weil es war gefährlich.
An diesem Tag ich bin auf die Baustelle gegangen, obwohl meine Freunde gar nicht dort waren. Marek und ich, wir haben gestritten und ich wollte ihn ärgern. Kamila ist mir wieder nachgelaufen. Sie ging mir auf Nerven. Ich war wütend auf Marek, wollte allein sein. Ich bin auf eine hohe Mauer geklettert und auf ihr balanciert. Ich dachte: Das schafft sie nicht. Aber sie war wie ein kleiner Affe. Sie ist mir hinterhergeklettert. Um sie loszuwerden, bin ich von Mauer gesprungen. Es waren mehr als zwei Meter. Meine Freunde und ich hatten es schon ein paarmal gemacht. Unten am Boden steckten rostige Eisenstäbe im Beton. Ich habe nicht nachgedacht, Jola. Ich wollte nur … Kamila sollte wissen, dass ich schon groß war und sie noch ein kleines Mädchen.«
Das Elend in seiner Stimme zieht die eiserne Klammer enger um meine Brust, sodass ich kaum noch atmen kann. Für einen Moment sehe ich alles vor mir. Kamila, das kleine blonde Mädchen im blauen Kleid, wie es Olek auf die Baustelle folgt. Genauso, wie Elli mir in den Wald gefolgt ist.
»Sie bekam Angst da oben. Ich glaube, sie wollte umkehren. Dabei hat sie das Gleichgewicht verloren und ist gefallen. Direkt in so eine Eisenstange hinein. Ich habe neben ihr gekniet, als sie starb.
Der rote Fleck auf ihrer Brust, er sah aus wie eine rote Rose.« Oleks Blick brennt vor Schmerz, Tränen laufen über seine Wangen. Er wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. Schluckt. Und schluckt noch einmal. »Ihr letztes Wort war mein Name. Alexander. Der wollte ich nie mehr sein. Ich war ein Verdammter.«
Ich heule jetzt auch. »Und du bist weggelaufen?«
»Ja. Ich konnte nicht mehr zu ihnen zurück.« Oleks Blick zerschneidet mir das Herz. »Es war meine Schuld. Kamila war tot und es war meine Schuld.«
Vehement schüttele ich den Kopf. »Nein, Olek. Das war es nicht.« Ich bin so unendlich erleichtert, dass mir ganz schlecht ist. »Es war ein furchtbarer Unfall.«
Oleks Lippen beben, als wolle er etwas sagen, aber es kommt kein Wort heraus.
»Warum hast du es mir nicht einfach erzählt?«
»Ich dachte, dann … ich dachte, du könntest dann nicht mehr mit mir zusammen sein. Ich hatte Angst, wieder allein sein zu müssen.« Ich beuge mich zu ihm herüber und vergrabe mein Gesicht in seiner Halsbeuge. Hilflos legt Olek seinen Arm um mich. »Ich will nicht mehr allein sein, Jola.«
»Das musst du auch nicht«, flüstere ich an seinem Hals. »Ich versprech’s.«