Noch einmal betrachte ich mich prüfend in dem großen Spiegel in meiner Schranktür. Gewöhnungsbedürftig, aber nicht übel. Als es klingelt, schnappe ich meinen Rucksack (der so gut zu meinem neuen Aussehen passt wie Wanderstiefel zu einem Abendkleid) und laufe nach unten. Kai steht mit einer Decke unter dem Arm vor der Tür. Ihm bleibt der Mund offen stehen, als er mich mit seinen blauen Augen von oben bis unten mustert.
Überraschung gelungen, denke ich mit einem zufriedenen Lächeln.
»Entschuldigen Sie die Störung«, stottert Kai. »Ich möchte meine Freundin abholen. Sie heißt Jola … ähm, wohnt sie überhaupt noch hier?« Er späht an mir vorbei in die Diele.
Ich kichere, drehe mich einmal um die eigene Achse. »Gefalle ich dir etwa nicht?«
»Jola«, ruft Kai übertrieben erstaunt und reißt die Augen auf. »Bist du das wirklich?«
»Ach, komm schon.« Ich boxe ihn freundschaftlich gegen die Schulter.
Kai macht einen Schritt auf mich zu und umarmt mich mit seinem freien Arm. Erst ganz vorsichtig, als ob er sich immer noch nicht sicher ist, dass ich es tatsächlich bin. Dann küsst er mich sanft.
»Du siehst megatoll aus«, sagt er endlich. »Oh Mann, wie soll ich das denn den ganzen Abend lang aushalten?«
Ich muss noch Ma Tschüss sagen und Kai kommt mit ins Haus. Er verspricht meiner Mutter, mich heute Nacht wieder an der Haustür abzuliefern.
Wir laufen an den schicken Einfamilienhäusern der Zugezogenen vorbei Richtung Ortsausgang. Als wir am grünen Gartentürchen der Wagners vorbeikommen, will ich bei Saskia klingeln, aber Kai hält mich davon ab.
»Wahrscheinlich ist sie sowieso längst auf dem Platz.«
Bis zur Bühne im Wäldchen sind es ungefähr anderthalb Kilometer. Auf einem mit weißer Litze umzäunten Wiesenstück hinter dem letzten Haus schnattern fröhlich Achim Rolands Weihnachtsgänse.
»Wenn die wüssten, dass sie allesamt unausweichlich als Weihnachtsbraten mit Rotkohl und Klößen enden«, sagt Kai.
Oder im Rachen einer hungrigen Wölfin, denke ich, schiebe den Gedanken aber schnell wieder beiseite. »Sie wissen es aber nicht. Genauso wenig, wie wir nicht wissen, ob wir morgen vielleicht schon tot sind.«
»Musst du immer solche Sachen sagen, Jo?«
Nach dem Gänsegeschnatter folgt das träge Geblöke und Gemümmel der Schafe. Die kleinere Herde von Kais Vater grast zurzeit auf einem Wiesenstück neben dem Wäldchen. Kais Blick streift wachsam und mit einem gewissen Besitzerstolz über die Herde. Das merkt er gar nicht, es passiert ganz automatisch.
Am Einlass zur kleinen Freiluftbühne auf der Lichtung zahlen wir jeder unsere siebzehn Euro Eintritt und bekommen ein Bändchen ums Handgelenk verpasst. Kai breitet die Decke auf der Wiese aus und wir lassen uns im Schneidersitz darauf nieder. Die erste Band ist noch am Aufbauen, At-Lantic, drei Jungs aus Erfurt, die für ihre geradlinigen Rocksongs bekannt sind.
Kai und ich genießen jeder einen Cocktail aus der Wunderbar. Sich selbst hat er einen Erdbeer-Caipirinha geholt und mir eine Erdbeer-Colada mitgebracht. Ich fühle mich beschwingt und frei. Ich lasse mich auf den Rücken sinken und blicke in den blauen Himmel. Aus Richtung Süden kommen wattig weiße Wolken gezogen, die sich genau über uns in nichts auflösen. Sie scheinen vom Blau des Himmels einfach aufgesaugt zu werden.
Fasziniert beobachte ich die verschwindenden Wolken, während Kai sich über das Schlagzeugsolo mokiert. Der Bassist von At-Lantic ist wegen Krankheit ausgefallen, aber die beiden verbliebenen Bandmitglieder ziehen sich achtbar aus der Affaire, finde ich jedenfalls.
Ich mag Musik, aber ich kenne mich nicht so aus wie Kai und Saskia und ich bin kein Fan von irgendwem. Es gibt Musik, die finde ich gut, weil sie gerade zu meiner Stimmung passt. Aber ich mag es auch gerne still und bin wohl die Einzige in meiner Klasse, die keinen MP3-Player besitzt und ständig mit Ohrstöpseln herumläuft.
Zu den Klängen von Footsteps füllt sich nach und nach die kleine Wiese mit Zuhörern zwischen dreizehn und fünfzig. Na ja, vielleicht sind ein paar auch schon an die sechzig und ihre jugendlichen Klamotten täuschen über ihr wahres Alter hinweg. Althippies, Grauhaarige in Lederkluft, schwarz gekleidete Gruftis und Jungvolk – alles ist vertreten.
Saskia, in ihren blutroten Jeans und einem blauen Shirt mit offenherzigem Ausschnitt, gesellt sich zu uns auf die Decke.
»Na, was hat er gesagt?« Neugierig schaut sie mich an und ich lächele in mich hinein.
»Er hat gedacht, er hätte sich in der Haustür geirrt«, antwortet Kai für mich. »Er findet, dass seine Freundin wunderschön ist, aber das ist ihm natürlich nicht erst heute aufgefallen.«
Saskia macht ihr Ist-er-nicht-süß-Gesicht und mein Lächeln wird breiter.
Da entdecke ich Tilman, der mit seinem Kumpel Marco aus Eulenbach gekommen ist, und winke den beiden. Über Saskias Gesicht legt sich ein Schatten. Ich schaue in die Richtung, in die sie mit verkniffenem Mund blickt. Clemens und seine Schwester Tizia stehen am Einlass und zahlen gerade. Oje!
»Hey«, sage ich, »vergiss ihn, Sassy. Heute taucht bestimmt dein Märchenprinz auf.«
Da ist er wieder, ihr Das-glaubst-du-doch-selber-nicht-Blick. Bis jetzt sind tatsächlich nur wenige Leute unter zwanzig gekommen und ich frage mich, wieso. Ist ihnen der Eintritt zu teuer? Siebzehn Euro für neun Bands, das macht knapp zwei Euro pro Band – ein echtes Schnäppchen. Doch wo sind all die jungen Leute aus den umliegenden Dörfern?
Als Carpe Noctem ihre Instrumente stimmen und Soundcheck machen, setze ich mich auf. Die Jungs aus Jena spielen Metal und Rockmusik auf klassischen Instrumenten und ihre Musik trifft genau meinen Nerv. Sie passt. Abgesehen davon, dass die fünf auch noch um die zwanzig sind und super aussehen.
Als der Geiger den Bogen ansetzt, bin ich wie elektrisiert. Die wilde Musik trägt mich weg von den anderen, ich vergesse, wo ich bin. Geigenklang und Cellotöne verwandeln mich. Von Jola Schwarz in eine Wölfin mit rötlich grauem Fell. Für einen Moment bin ich sie, die Herrin des Waldes. Federleicht jage ich über eine Lichtung, meine Pfoten berühren kaum den taunassen Boden.
Die Bögen der beiden Cellisten entlocken den Instrumenten tiefe, erdige Töne, in denen ich die Tiere des Waldes wiedererkenne. Fuchs, Reh und Baumfalke. Ich wittere Beute, ein Rehkitz mit dünnen Beinen und großen Ohren. Aber was ist das? Ein Mann mit einer Flinte!
Plötzlich ein Misston – wie ein Gewehrschuss. Dem Geiger ist eine Seite gerissen. Ich reiße die Augen auf und werde jählings aus meinem Film katapultiert. Bis die Saite im Tourbus gefunden und aufgezogen ist, vergehen ein paar Minuten, doch dann erklingt erneut mittelalterlicher Heavy Metal aus den Boxen und die Haare des Geigers fliegen, als würde er vor Tausenden kreischenden Fans in Roskilde auf der Bühne stehen und nicht auf einem waldigen Hügel hinter Altenwinkel.
Ich beobachte Saskia beim Tanzen mit Marco und auf einmal durchfährt es mich wie ein Blitz, denn ich glaube, meinen Augen nicht zu trauen. Der junge Mann, der am linken Rand der Bühne halb verdeckt von einem Pfosten steht und ebenfalls die Tanzenden betrachtet, ist Olek, mein Waldelf. Er trägt dieselben abgerissenen Klamotten wie vor ein paar Tagen, als wir uns an der Wildsuhle begegnet sind.
So ohne Pfeil und Bogen sieht er wie ein normaler junger Mann aus. Trotzdem spüre ich diese seltsame Aufregung, ein Kribbeln, als würden Hunderte Ameisen unter meiner Haut entlangrennen.
Kai und Tilman sind in ein Gespräch vertieft. Verstohlen beobachte ich Olek, wie sein Blick an Lisa hängen bleibt, der hübschen Siebzehnjährigen mit dem lockigen weißblonden Haar, die aus Eulenbach stammt und in die Elfte geht. Lisa ist klein und zart – und sehr weiblich. Sie ist ein Wildfang, kann jeden Jungen des Arnstädter Gymnasiums haben, wenn sie nur möchte, und legt sich auch gerne mal mit den Lehrern an, wenn ihr etwas nicht passt.
Das Kribbeln in meinem Inneren ist von einem auf den anderen Moment verschwunden, ich bin enttäuscht. Wieso macht es mir etwas aus, dass Olek Lisa so anstarrt? Ich bin mit Kai zusammen. Ich bin mit Kai zusammen hier. Ich habe mich für Kai schön gemacht. Was ist bloß los mit dir, Jola?
Offensichtlich hat Lisa das Interesse des fremden Jungen bemerkt und flirtet mit ihm. Ich bin immer wieder überrascht, wie gut die Antennen bei anderen Mädchen funktionieren. Jetzt geht sie auf ihn zu und fordert ihn mit einem kecken Lächeln zum Tanzen auf. Greift sogar nach seiner Hand. Aber Olek zieht seine Hand zurück, er schüttelt den Kopf. Achselzuckend lässt Lisa ihn stehen. Sie ist es nicht gewohnt, einen Korb zu bekommen.
Ein Gefühl von Genugtuung durchströmt mich und gleichzeitig wundert mich Oleks Reaktion. Warum starrt er Lisa so an und schlägt ihr den Tanz dann doch aus? Irgendetwas stimmt mit ihm ganz und gar nicht. Und ich würde zu gerne herausfinden, was es ist.
»Hat jemand Hunger?«, frage ich und stehe auf. Die beiden Jungs schütteln die Köpfe. »Dann bis später, ich hole mir mal was zu essen.«
Ich reihe mich in die Schlange vor dem Essenszelt, bekomme eine Schüssel mit Erbsensuppe und eine dicke Scheibe duftendes Brot. An einem der massiven Holztische am Rand der Bühne löffle ich meine Suppe und halte wieder nach Olek Ausschau. Überraschend entdecke ich ihn nun doch unter den Tanzenden, zwischen Lisa und Clemens und zwei anderen Mädchen. Seine Bewegungen sind wild, sein zerzaustes Haar fliegt ihm um den Kopf und wieder wundere ich mich über ihn: Woher kommt der plötzliche Stimmungsumschwung?
Lisa tanzt um ihn herum, dreht sich dabei um die eigene Achse und klatscht in die Hände. Sie lacht, lässt sich von seinen wilden Bewegungen anstecken, ihre blonden Locken wippen im Takt. Vielleicht kennt Lisa den Elf ja, denke ich und merke, wie erneut das Gefühl der Eifersucht in meinem Magen sticht.
Mit einem Mal werden Oleks Bewegungen langsamer. Das ist kein Tanzen mehr, sein Körper schwankt nur noch. Und plötzlich sinkt er wie vom Blitz getroffen in sich zusammen. Mit angehaltenem Atem beobachte ich, was passiert. Lisa und Clemens knien sofort neben ihm und helfen ihm wieder auf die Beine, sodass kaum jemand etwas von diesem Zwischenfall mitbekommt. Sie stützen Olek, führen ihn von den Tanzenden weg direkt auf mich zu und auf die freie Bank auf der anderen Tischseite.
Ich bin so überrumpelt, dass mir die Worte fehlen.
Die sonnengebleichten Haare hängen Olek wirr ins Gesicht, trotzdem erwische ich einen Blick in seine Augen. Er scheint weit weg zu sein, aber seine Pupillen sehen normal aus. Changierendes Funkeln. Erkennt er mich überhaupt wieder?
»Ist auch wirklich alles okay mit dir?«, fragt Clemens Olek besorgt und tätschelt seine Schulter.
»Ja, alles okay«, bringt Olek leise hervor. »Danke.«
»Ach komm, Clemens, der hat doch bloß zu viel getrunken«, Lisa ist ohne Zweifel genervt. »Das ist nicht unser Problem.«
Clemens schaut mich an. »Er ist plötzlich umgekippt, aber ich glaube nicht, dass er betrunken ist. Kannst du noch einen Moment ein Auge auf ihn haben?«
»Ja, klar«, stottere ich, völlig verdattert über Clemens Neumanns unerwartet fürsorgliche Seite.
Sichtlich erleichtert, die Verantwortung abgeben zu können, verschwindet Lisa wieder auf die Tanzfläche. Clemens wirft einen letzten Blick auf Olek, nickt mir zu und folgt Lisa.
Olek streicht sich die verschwitzten Haare aus der Stirn, die von kleinen Schweißperlen übersät ist. Er stützt den Kopf in beide Hände. Seine Rechte ist mit einem angegrauten Stück Stoff umwickelt, das nicht sehr appetitlich aussieht – aber ich bin zum Glück fertig mit meiner Suppe.
»Was war denn mit dir los?«
»Nichts. Alles gut.«
»Und was ist mit deiner Hand?«
»Geschnitten«, sagt er und lässt die Hand unter dem Tisch verschwinden. »Ist nicht schlimm.«
Tja, so ein Opinel ist sehr scharf, denke ich. »Bist du auch wirklich in Ordnung? Brauchst du Hilfe?«
»Alles ist gut.« Er versucht ein Lächeln, mein Elf.
Ich kann nichts dagegen tun: Dieses Lächeln jagt einen Stromstoß durch meinen ganzen Körper, von den Zehen bis zu den Haarwurzeln. Das Schönste an Olek sind seine Augen, sie schimmern wie grüngelbe Kiesel in einem Bach. Ich will mehr über ihn wissen, aber ein Blick zu Kai und mir wird klar, dass er mit gerunzelter Stirn zu uns herüberschaut.
Ich will nicht, dass Kai herkommt und eifersüchtige Sprüche vom Stapel lässt. Ich will nicht, dass er Olek begegnet, denn dieser Junge, wer auch immer er sein mag, gehört zu meinem Geheimnis.
»Meine Freunde suchen mich schon.« Ich stehe auf. »Ich würde dich gerne wiedersehen, aber du verrätst mir ja nicht, wo du wohnst.« Ich werfe die leere Plastikschüssel in den Abfalleimer und sehe ihn abwartend an. Olek sagt nichts und ich wende mich zum Gehen.
»Jola?«, höre ich ihn in meinem Rücken flüstern. Nur meinen Namen, doch mit solch einer traurigen Zärtlichkeit, dass ich weiche Knie bekomme und Mühe habe, normal zu atmen.
Erstaunt drehe ich mich um und sehe ihn an. Doch er sagt nichts mehr, schüttelt nur unmerklich den Kopf. Ich atme dreimal tief durch und gehe wieder zu den anderen.
»Wer war das denn?«, empfängt Kai mich in gereiztem Tonfall. Er ist tatsächlich eifersüchtig, ich habe es geahnt.
Ich drehe mich um und blicke zum Tisch zurück, doch dort sitzt niemand mehr. Achselzuckend spiele ich die Ahnungslose. »Ich weiß nicht. Er ist beim Tanzen plötzlich zusammengeklappt und Lisa und Clemens haben ihn zu mir an den Tisch gesetzt. Er war nicht sonderlich gesprächig.«
Kai schaut mich an, als wolle ich ihn auf den Arm nehmen.
Tilman fängt an zu lachen und klopft Kai auf die Schulter. »Na komm, Alter, das ist eine ziemlich geniale Ausrede, das musst du doch zugeben. Darauf muss man erst mal kommen. Wahrscheinlich hat Jola die blühende Fantasie von ihrer Mutter geerbt.«
Saskia kommt von der Tanzfläche zurück und lässt sich erschöpft auf die Decke fallen. »Oh Mann, das hat gutgetan«, seufzt sie. »Die Jungs sind unschlagbar mit ihren Instrumenten! Aber sag mal«, wendet sie sich im selben Atemzug an mich, »was war denn mit diesem Typen los, den Lisa und Clemens da bei dir abgeladen haben? Hat der ein paar Pillen zu viel eingeworfen?« Sie greift nach der Wasserflasche und trinkt in tiefen Zügen.
»Keine Ahnung, er hat es mir nicht verraten.« Ich werfe Kai und Tilman einen triumphierenden Blick zu. Von wegen blühende Fantasie.
Nachdem die Jungs von Carpe Noctem die Bühne geräumt haben, folgen Jimmy Glitschy, der einarmige Karusselbremser, und danach die Band Hasenscheiße aus Berlin, zu deren Musik alles tanzt, was Beine hat – sogar ich.
Inzwischen tummeln sich auch ein paar Leute aus Altenwinkel und Eulenbach auf der Lichtung, die nicht in erster Linie wegen der Musik, sondern vor allem wegen des Bierwagens und der Mädchen gekommen sind. Vermutlich ist der »Jägerhof« an diesem Samstagabend wie leer gefegt und Gernot Schlotter hat nichts zu tun. Ich entdecke die Grimmer-Brüder und sogar Karsten und Caroline Merbach. Wahrscheinlich haben sie einen Babysitter für den Abend. Auch Tobias Zacke ist da, mit Luzifer, der seinen Maulkorb trägt und einen harmlosen Eindruck macht.
Magnus steht schon seit geraumer Zeit vor der Bühne und bewegt sich wie ein Tanzbär, obwohl zurzeit gerade umgebaut wird und nur Musik aus der Konserve läuft. Eine Frau steht neben ihm und wiegt ihre Hüften. Als sie sich umdreht, erkenne ich Laura, die er heiraten wollte, bevor der Granatsplitter der Taliban seinen Verstand beschnitt. Sie sieht hübsch aus und gar nicht traurig. Sie neckt Magnus und er grinst schief. Die Jeans und das weiße Leinenhemd, das er trägt, stehen ihm richtig gut.
In der letzten Abendsonne steigt Phil Schoenfeldt, der Engländer aus Prag, mit seiner Band auf die Bühne. Melancholische Songs von dunkler, verwunschener Atmosphäre kommen aus den Boxen und ich finde, es ist die perfekte Untermalung für die hereinfließende Dämmerung. Doch nicht nur Schoenfeldts Musik erzeugt Gänsehaut. Nachdem die Sonne hinter den Baumwipfeln verschwunden ist, sinkt die Temperatur rapide und ich wünschte, ich hätte meine Jeans an und keine dünnen Strumpfhosen.
Plötzlich wird es schlagartig still und auf der Bühne herrscht Dunkelheit. Wie sich nach ein paar verwirrenden Minuten herausstellt, ist eine der drei Phasen der Zuleitung aus dem Dorf ausgefallen.
Gelächter und Gemurmel erfüllen die Dunkelheit. In Windeseile muss jemand gefunden werden, der an den Verteilerkasten im Dorf kommt, für eine halbe Stunde herrscht einiger Tumult auf dem Platz, bis das Problem behoben ist und die Musiker mit ihrem Song »Darkest Hour« weitermachen können.
Kai hat mir sein Sweatshirt geliehen, trotzdem friere ich und habe genug, aber er will auch noch die letzte Band hören. Nach einer weiteren halben Stunde gibt auch er auf. Mit meiner kleinen Taschenlampe treten wir den Heimweg an.
Kais Hand, die meine Hand hält, ist warm und noch vor ein paar Wochen hätte sie auch meine Seele gewärmt. Doch an diesem Abend gehört Kai nur meine Hand, während meine Gedanken sich in Oleks Lächeln sonnen und in seiner Stimme mit dem fremden Akzent, die meinen Namen flüstert.
Diesmal nehmen wir einen anderen Weg als gewöhnlich, der uns an einem raschelnden Maisfeld entlangführt, denn Kai will noch nach der zweiten Schafherde seines Vaters schauen. Ein Knacken aus dem Wäldchen hinter der Bühne lässt uns zusammenzucken. Kai schwenkt den Strahl der Taschenlampe in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Auf einem schmalen Waldweg, halb verborgen hinter Sträuchern, steht ein kleiner Jeep, den ich sofort erkenne.
»Was macht der denn hier?«, rufe ich aus.
»Wer denn?«
»Das ist Trefflichs Jeep.«
»Wahrscheinlich sitzt er mit den anderen am Bierwagen und lässt sich volllaufen«, meint Kai.
»Aber ich habe ihn dort nicht gesehen, er wäre mir ganz bestimmt aufgefallen.«
»Mein Gott, Jola, du kannst den Typen nicht ausstehen und denkst sofort etwas Verwerfliches, sogar wenn du nur sein Auto irgendwo stehen siehst.«
Ich lasse Kais Hand los, der letzte Rest Wärme verschwindet. »Ich wette, er läuft hier irgendwo mit seiner dämlichen Schrotflinte herum, erschreckt fremde Leute und fühlt sich großartig dabei.«
»Und wenn.« Kai greift wieder nach meiner Hand und zieht mich weiter. Wir lassen das Wäldchen und das Maisfeld hinter uns und kommen am Schafpferch vorbei. Die Tiere schlafen dicht zusammengedrängt. Kai leuchtet über den schlafenden Wollhügel und schwenkt den Strahl der Taschenlampe wieder auf den Weg.
»Vielleicht ist es ja Trefflich, der Alina auf dem Gewissen hat«, platze ich heraus, als wir das Gewächshaus der Gärtnerei passieren.
»Was?« Abrupt bleibt Kai stehen und entzieht mir seine Hand, als hätte er an einen Stromzaun gefasst. »Ich glaube, jetzt gehst du ein bisschen zu weit, Jola«, sagt er mit verständnisloser Stimme. »Was spinnst du dir da eigentlich zusammen in deinem Wald? Na gut, Hubert Trefflich ist ein alter Schluckspecht mit einer Schrotflinte. Aber deswegen ist er noch lange kein Mörder.«
»Er hat Kasimir erschossen.« Ich merke selbst, dass ich mich wie ein trotziges Kind anhöre, das Aufmerksamkeit will. Das eine zu blühende Fantasie hat.
Kai lacht. »Das weißt du gar nicht genau. Und außerdem: Kasimir war ein Reh, Jola. Auch dein Vater erschießt Bambis und kleine niedliche Frischlinge.«
Wo Kai recht hat, hat er recht, trotzdem hasse ich ihn in diesem Moment für das, was er sagt. Wie er es sagt. Ich laufe schneller, entlang des Bretterzauns vor Rudi Grimmers Grundstück, als direkt neben mir Biene anschlägt. Ich bin so erschrocken, dass ich einen gellenden Schrei ausstoße und einen Satz weg vom Zaun mache.
Das Bellen der Hündin klingt jähzornig, aber ich weiß, dass der Zaun an der Straße hoch genug ist. Immer wieder springt Biene gegen die Bretter, außer sich vor Wut.
»Sei still, du blöder Köter«, fauche ich. Eigentlich mag ich jedes Tier und diese Schäferhündin kann nichts dafür, dass sie so drauf ist, aber sie hat mich mörderisch erschreckt und ich bin sauer.
»Mann, hast du eine Laune«, bemerkt Kai kopfschüttelnd.
Ich laufe noch schneller. Als wir am Friedhof vorbei in die Dorfstraße biegen, sehe ich, dass bei Tante Lotta noch Licht brennt. Ein Geländewagen steht neben ihrem Van vor dem Haus. STA steht auf dem Nummernschild. Starnberg. Es ist Thomas’ Wagen. Er ist schon wieder da. Vierhundert Kilometer für Sex. Also bahnt sich da tatsächlich etwas an. Meine Laune verschlechtert sich rapide, wenn das überhaupt noch möglich ist.
Als wir vor Kais Hoftor angelangt sind, habe ich mich noch immer nicht beruhigt: »Tschau … ich finde alleine nach Hause.«
»Ich habe deiner Mutter versprochen, dass ich dich an der Haustür abliefere.« Auch Kai ist jetzt richtig genervt.
»Es sind keine zweihundert Meter, Kai. Glaubst du, ich werde mitten im Dorf gekidnappt?«
»Nein, aber Biene war ziemlich sauer auf dich, und wenn sie ein Schlupfloch findet, dann … na ja, Grimmer sitzt mit seinem Bruder am Bierwagen und kippt ein Bierchen nach dem anderen, der wird dir jedenfalls nicht helfen.«
Blödmann. Ich schiebe die Hände in die Taschen meines geborgten Sweatshirts und trabe los. Als ich die Klinke zu unserem Hoftor herunterdrücke, sehe ich Kai in ein paar Metern Entfernung unter der Laterne auf der Straße stehen. Er ist mir gefolgt, er hat sein Versprechen gehalten. Kai hält immer seine Versprechen.
Im Hof springt der Bewegungsmelder an. Pa ist noch auf, er sitzt mit Paul auf der Couch und schaut sich im Fernsehen eine Dokumentation über den Yellowstone an. Vielleicht träumt er ja immer noch heimlich von einer Wildnis mit Bären und Wölfen.
Er gähnt. »Na, wie war’s?«
»Total super. Aber es ist auf einmal ziemlich kalt geworden, und wenn man nicht pausenlos tanzt, erfriert man.«
»Das sind die Eisheiligen«, sagt Pa, »sie haben im Wetterbericht Nachtfrost angekündigt und deine Mutter hat Angst um ihre Bohnen.« Er hebt die Rechte mit der Fernbedienung und schaltet den Fernseher ab. Pauls Pfoten zucken. Er träumt, jagt Mäuse im Schlaf.
»Schlaf gut«, sage ich. »Ich bin müde.« Ich wende mich zum Gehen.
»Jola?«
Ich drehe mich um. »Ja?«
»Deiner Mutter geht es nicht gut. Dass Thomas von diesem toten Mädchen erzählt hat … nun ja, das hat alles wieder aufgewühlt in ihr. Sie hat Angst um dich.«
»Sie hat immer Angst um mich, Paps.«
»Ja, ich weiß. Aber vielleicht kannst du sie ein wenig beruhigen.«
»Wie denn?«, frage ich. »Indem ich die ganze Zeit bei ihr zu Hause hocke?«
Pa zuckt resigniert mit den Schultern.
»Ma braucht eine Therapie.«
Er nickt, reibt sich das Gesicht mit den Händen.
Ich sage nichts mehr und gehe nach oben in mein Zimmer.
* * *
Laurentia, liebe Laurentia mein, wann wollen wir wieder beisammen sein?
So viele Prinzessinnen. Er hat sich nicht sattsehen können an ihrem fliegenden Haar, den Brüsten, den feuchten Lippen. Doch wo ist seine Zimtprinzessin? Sie bleibt verschwunden. Er hat etwas getan, etwas Schreckliches getan. Doch sosehr er sein Hirn auch anstrengt, es will ihm nicht einfallen.
Er weiß nur eins: Seine Zimtprinzessin ist fort. Sie ist unerreichbar für ihn. Aber ohne sie kann er nicht sein. Er braucht sie, braucht ihre Liebe.
Er braucht eine neue Zimtprinzessin.
So schwer kann das doch nicht sein. Sie sind so viele. Sie haben keine Angst, nicht einmal im Dunkeln. Er kann sie kichern hören. Eine davon wird es sein, eine, die ihn braucht. Sie wird sein neuer Engel sein. Er muss nur warten, warten auf seine Gelegenheit.
Laurentia, liebe Laurentia mein,
wann wollen wir wieder beisammen sein? Am Sonntag!
Ach, wenn es doch endlich schon Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag wär
und ich bei meiner Laurentia wär, Laurentia!