26. Kapitel

Die Haustür fällt hinter mir ins Schloss. Obwohl es schon nach sieben ist, herrscht eine drückende Schwüle. Die Atmosphäre ist elektrisch aufgeladen, irgendwo in weiter Ferne ist ein Gewitter im Anzug. Bevor ich mich auf den Weg zur Höhle mache, muss ich Ma anrufen und ihr sagen, dass sie sich nicht sorgen soll.

Während ich mein Rad über den Plattenweg zum offenen Gartentürchen schiebe und über eine geeignete Lüge nachdenke, dringt plötzlich die aufgeregte Stimme von Kais Mutter an meine Ohren. Ich verharre einen Augenblick und lausche. Ellis Name fällt. Das hört sich nicht gut an. Ich lege das Rad leise auf dem Weg ab, steige über Agnes’ Blumenrabatte und schleiche mich zum Zaun, wo ich mich hinter einem dichten Fliederstrauch verstecke.

Vor der Hofeinfahrt der Hartungs steht eine kleine Menschentraube. Bianca Hartung, die auf Karsten und Caroline Merbach einredet und dabei wild mit den Händen fuchtelt. Die Nachbarn der Hartungs, Achim und Marga Roland, sie mit einem karierten Geschirrtuch in der Hand. Und noch zwei alte Weiber in bunten Kittelschürzen: Kais Oma Ruth und die Eier-Euchler. Mist, Kai ist auch dabei. Alle reden aufgeregt durcheinander, während Lasse das Grüppchen mit seinem quietschenden Dreirad umkreist wie ein Hütehund seine Schafherde.

Kai hat ihnen alles erzählt und nun zerreißen sie sich die Mäuler über den Dieb im Wald und seine Liebste, die Tochter des Försters. Das gibt ein wunderbares Drehbuch für einen Heimatfilm. Mein Ruf im Dorf ist endgültig ruiniert, ich werde wegziehen müssen.

Ich laufe zurück zu meinem Fahrrad und schiebe es aus der Gartenpforte. Verdrück dich unbemerkt, bevor sie über dich herfallen – das ist mein Plan. Doch Kais Mutter hat mich bereits entdeckt und zeigt anklagend auf mich.

»Da ist sie ja.«

Die Köpfe schwenken in meine Richtung, alle starren mich fragend an. Nur Lasse fährt unbeirrt seine quietschenden Runden.

Dann kommt der Pulk geschlossen auf mich zu, Kai vorneweg. Er sieht noch furchtbarer aus als vor ein paar Stunden. Die Haare stehen ihm wild vom Kopf, seine Augen sind gerötet und die Unterlippe ist aufgeplatzt.

Mein Magen zieht sich zusammen. »Was ist denn los?«, stoße ich hervor. »Ist was passiert?«

»Elli ist verschwunden.«

»Was?« Schlagartig wird mir speiübel. Meine Beine beginnen zu zittern. »Seit wann?«

»Das wissen wir nicht genau«, sagt Kai. »Ich dachte, sie ist bei meiner Mutter in der Küche, und die dachte, Elli ist mit mir zum Badesee, weil … ihr Rad ist weg. Ich bin ziellos durch die Gegend gefahren, ich musste einfach allein sein. Bin erst vor einer Stunde zurückgekommen und da fiel es dann auf, dass sie verschwunden ist.« Er beißt sich auf die Lippe, wie immer, wenn er zerknirscht ist.

»Sie ist mir nachgefahren«, denke ich laut. Ich bin jetzt umringt von Leuten.

»Nachgefahren?« Kai zieht die Stirn in Falten. »Wohin denn?«

Bianca Hartung packt mich am Oberarm und schüttelt mich. »Wohin ist Elli dir nachgefahren?«

»In den Wald«, antwortet Kai an meiner Stelle, »wohin sonst. Sie ist zum Stelldichein mit ihrem Dieb gefahren, deshalb konnte sie Elli nicht gebrauchen.« Er presst die Lippen zusammen, sein Mund ist ein verächtlicher Strich. »Ist doch so, oder?«

Wieder werde ich geschüttelt. »Ist das wahr, Jola? Nun rede schon.«

Ich kann es nicht glauben. Machen sie jetzt mich dafür verantwortlich, dass der kleine Satansbraten verschwunden ist? Ich wünschte, der Erdboden würde sich auftun, dann bräuchte ich nichts zu erklären.

»Ja, ich war im Wald heute Nachmittag.«

Plötzlich ist es still. Keiner sagt etwas, kalte Blicke durchbohren mich wie tödliche Pfeile. Lasses Räder sind das einzige Geräusch auf der Straße. Der Ton zerrt an meinen Nerven.

»Nachdem wir uns getroffen haben, bin ich zurück nach Hause«, wende ich mich an Kai, »aber zehn Minuten später bin ich wieder los. Das muss so gegen drei gewesen sein. Elli stand auf einmal mit ihrem Rad auf dem Gartenweg. Sie hatte ihren Rucksack dabei und wollte mit mir zum See. Ich habe sie nach Hause geschickt, mehrmals, aber sie hat gebockt. Du weißt ja, wie sie sein kann. Dann bin ich schnell weggefahren. Ich dachte, wenn sie mich nicht mehr sieht, gibt sie auf und dreht um.«

Kais Augen funkeln, sein Gesicht läuft rot an vor Zorn. »Vielleicht hält der Typ Elli ja in seiner Räuberhöhle fest, damit sie ihn nicht verraten kann.«

Räuberhöhle? Weiß Kai doch etwas von Oleks Höhle oder hat er einfach nur geraten? Ich versuche, ihn nicht zu hassen für seine fiese Anschuldigung, aber am liebsten würde ich ihn auf der Stelle erwürgen. Wie kann er so etwas nur sagen?

»Wir müssen die Polizei rufen«, sagt der kreidebleiche Karsten Merbach. »Jetzt ist es fast sieben, Elli ist also schon seit vier Stunden verschwunden.«

»Ojemine«, jammert Kais Oma, »die Kleine ganz alleine im Wald, wo dieses Untier herumstreift.«

Zuerst denke ich, sie meint Olek, aber dann wird mir klar, dass Kais Oma die Wölfin meint. »Vielleicht sitzt Elli ja auch hier irgendwo hinter einem Strauch, beobachtet uns und lacht sich eins ins Fäustchen«, sage ich wütend. »Zuzutrauen ist es ihr. Wenn sie sich ärgert, versteckt sie sich.«

Kais Mutter funkelt mich an. »Kai hat schon alles abgesucht«, sagte sie. »Bernd ist sofort zum Spielplatz, er sucht im Dorf nach ihr.«

»Spielplatz«, zischt Erna Euchler verächtlich, »soll er doch lieber beim Mörderhaus suchen.«

Unwillkürlich wandert mein Blick zu Alinas Vater. Karsten Merbach schluckt mehrmals, sein Adamsapfel wandert auf und ab. Seine Frau fasst ihn beruhigend am Arm und schüttelt unmerklich den Kopf.

»Bei Tobias war ich auch«, sagt Kai. »Dort ist sie nicht.«

»Vielleicht ist sie ja allein zum Badesee gefahren«, meldet sich Caroline Merbach.

»Aber da sind doch eine Menge Leute, die hätten sie längst nach Hause geschickt.«

Auf einmal ertönt lautes Stimmengewirr und gleich darauf biegt ein zweiter Trupp Leute um die Ecke, vorneweg Kais Vater. Pfarrer Kümmerling ist dabei, Frau Färber von der Gärtnerei, Hubert Trefflich, Gernot Schlotter und Hans Grimmer. Als sie bei uns angelangt sind, schüttelt Bernd Hartung den Kopf. »Nichts«, sagt er. »Wir haben das halbe Dorf auf den Kopf gestellt.«

Kais Mutter stößt einen gequälten Seufzer aus und ringt die Hände.

»Wahrscheinlich ist sie Jola in den Wald nachgefahren«, klärt Caroline Merbach ihn auf. »Vielleicht hat sie sich verlaufen und findet den Weg nicht zurück.«

»Dann müssen wir auch im Wald suchen«, schlägt Trefflich vor. »Es ist schon sieben durch und bald beginnt es zu dämmern. Zeit für die Bestie da draußen, sich nach einem Abendessen umzusehen.«

Ein kollektives Aufstöhnen erschüttert die Dorfstraße. Kais Mutter schlägt sich die Hände vors Gesicht und schluchzt. Trefflich, so ein Idiot.

»Der Dieb, dieser Kerl, mit dem Jola sich trifft, der haust irgendwo auf dem Truppenübungsplatz«, sagt Kai. »Wenn Elli ihr bis dorthin gefolgt ist, dann kann ihr alles Mögliche zugestoßen sein. Wer weiß, was der Typ noch auf dem Kerbholz hat.«

Ich starre ihn ungläubig an, mein guter Vorsatz ist dahin. Ich hasse dich, Kai. Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich.

»Wir finden sie.« Karsten Merbach tätschelt Kais Mutter den Arm.

Achim Roland, er ist an die siebzig, hebt die Hand. »Ich komme mit.«

»Ich weiß, wo Jola sich immer rumtreibt.« Kai wirft mir einen grimmigen Blick zu. »Ich kann euch führen.«

»Gut«, Trefflich ist sichtlich erfreut. »Suchen wir nach der Kleinen und dem Dieb und schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe.«

»Du musst dich erst umziehen«, zischt Marga Roland ihren Mann an. »So kannst du nicht in den Wald.«

Der alte Roland hat seine Sonntagssachen an. Eine gebügelte Anzughose, ein weißes, kurzärmliges Hemd und eine leichte Strickweste – trotz der lähmenden Hitze.

»Ich brauche auch zehn Minuten«, räumt Karsten Merbach mit einem Blick auf seine teuren Lederslipper ein. »Ich muss andere Schuhe anziehen.«

»Einverstanden«, beschließt Trefflich. »Vergesst nicht, Taschenlampen mitzubringen. Wir treffen uns in zwanzig Minuten am Ortsausgang. Und schnappt euch einen Prügel, falls uns da draußen der Schafkiller über den Weg läuft.«

Hämisch grinst er mich an. Jagdfieber brennt in seinen Augen. Trefflich muss ganz bestimmt nicht nach Hause, um sich umzuziehen und seine Schuhe zu wechseln. Er will sein Gewehr holen, da bin ich mir sicher.

Unauffällig schiebe ich mein Rad an den Leuten vorbei. Ich hoffe, dass keiner auf mich achtet, dass ich mich in den Sattel schwingen und davonradeln kann. Mit langsamen Bewegungen steige ich auf und setze den rechten Fuß auf die Pedale. Doch ich komme nicht vorwärts.

»Schön hiergeblieben, Fräulein.« Ein schneller Blick zurück: Bernd Hartung hält mein Rad am Gepäckträger fest.

Falsch gehofft, Jola.

Ich springe aus dem Sattel und sprinte los, höre den Aufschrei der Leute, als sie merken, dass ich ihnen entwischen will. Ich stolpere und stürze aufs Pflaster, schlage mir das Knie auf und zerschramme mir die Handflächen, aber mit einem Satz bin ich wieder auf den Füßen und laufe, als wäre der leibhaftige Teufel hinter mir her.

»Bleib sofort stehen, du falsche Schlange!« Das ist Hubert Trefflich. Schritte, irgendjemand verfolgt mich. Ich drehe mich nicht um, laufe, so schnell ich kann, und werde erst langsamer, als ich nichts mehr hinter mir höre und im Wald bin, meinem Refugium.

Keuchend beuge ich mich nach vorn, stemme die Hände gegen meine zitternden Oberschenkel, bis ich wieder zu Puste komme und das Hämmern in meinen Ohren aufhört. Mein rechtes Knie blutet und die Wunde ist voller Straßendreck, aber dagegen kann ich erst in der Höhle etwas tun.

Ich richte mich auf, ziehe den Gummi aus meinen Haaren und drehe sie zu einem Knoten am Hinterkopf, sodass Luft an meinen Nacken kommt. Mein Top ist nass von Schweiß, ich ziehe es am Saum vom Körper weg, während ich weiterlaufe in Richtung Truppenübungsplatz. Alle paar Meter bleibe ich stehen und rufe nach Elli, obwohl ich nicht wirklich glaube, dass sie hier irgendwo sitzt und sich versteckt. Sie ist das furchtloseste kleine Mädchen, das ich kenne, aber vier Stunden sind eine lange Zeit und meine Angst um Elli wächst mit jedem Schritt und jeder Minute. Längst zweifle ich an meinen eigenen Worten – warum sollte Elli sich vier Stunden lang freiwillig irgendwo verstecken? Sie muss sich verlaufen haben und ich bin schuld. Sie kennt sich nicht aus im Wald – was, wenn ihr etwas passiert?

Nachdem ich die Ringstraße überquert habe, höre ich auf zu rufen. Mit hämmerndem Atem erreiche ich den Brombeerfelsen und zwänge mich durch den Spalt in die Höhle. Ich rufe leise nach Olek, während ich mich durch den dunklen Gang taste.

Keine Antwort. Schwaches Abendlicht fällt durch das Fensterloch in Oleks verwaiste Behausung. Am Nachmittag war er nicht da und jetzt ist er es auch nicht. Wo ist Olek? Wo ist Elli? Wo ist Olek? Elli? In meinem Kopf beginnt sich alles zu drehen. Mir ist übel, meine Augen brennen. Todunglücklich lasse ich mich auf Oleks Lager sinken, von dem der Geruch nach wilden Kräutern aufsteigt.

Ich streiche mit den Händen über das Laken, als ich etwas Fusseliges in die Finger bekomme. Etwas, das nicht hier sein dürfte. Sammy, Ellis hässliches Stofftier. Sammy, ohne den sie keinen Schritt macht. Zuerst denke ich: Olek hat Elli gefunden, sie ist in Sicherheit. Gleichzeitig packen mich Zweifel. Wo sind die beiden?

»Elli?« Meine Stimme klingt hysterisch.

Da entdecke ich das Blut. Dunkelrote Tropfen am Höhlenboden zwischen Tisch und Bett. Mit fahrigen Bewegungen taste ich nach der Taschenlampe, aber sie ist nicht an ihrem Platz. Ich schnappe mir die Campinglampe und schalte sie ein. Es ist Blut, kein Zweifel.

Was ist hier geschehen? Ich habe das Gefühl, als werde ich innen ganz leer.

»Elli? Olek?«

Nichts.

Im Schein der Campinglampe inspiziere ich auch die anderen beiden Höhlenkammern. In der unteren Höhle wasche ich mir Gesicht und Hände. Das Blut am Knie ist samt Dreck getrocknet und ich lasse alles, wie es ist. Das Knie schmerzt, aber das ist jetzt nicht wichtig.

In der Grabkammer sitzt Tomasz an seinem Platz, den Kopf neben sich auf dem Fels. Was nun, Jola?, scheinen seine leeren Augenhöhlen zu fragen. Ja, was nun?

Ich verlasse die Höhle, lasse die Campinglampe im Eingang stehen. Sie ist mir zu sperrig, um damit durch den Wald zu laufen.

Für einen Moment stehe ich mit dem Rücken gegen den Felsen gelehnt da, Sammy an meine Brust gepresst. Irgendetwas ist furchtbar schiefgelaufen. Sammy dürfte nicht hier sein. Nicht ohne Elli. Dazu das Blut in der Höhle. Die Synapsen in meinem Hirn feuern, aber eine logische Erklärung, die gleichzeitig auch harmlos ist, will mir nicht einfallen.

Hat die Wölfin …? Nein. Nein. Nein. Kein frei lebender Wolf greift einen Menschen an. Rotkäppchen ist nur ein Märchen … nur ein Märchen.

Elli, verdammt, wo bist du? Wolltest du herausfinden, wie ein Dieb aussieht? Hat der Dieb dich gefunden?

Es hat keinen Sinn, noch länger hier zu warten, zumal aus Richtung Tambuch leiser Donner grollt. Wie viel Zeit mag inzwischen vergangen sein? Ich fische nach meinem Handy, aber meine Hosentasche ist leer. Vermutlich habe ich es bei meinem Sturz auf der Dorfstraße verloren. Verflixt. Ma muss halb durchgedreht sein vor Angst. Am Nachmittag war ich nicht im Haus, habe nur mein Rad aus dem Schuppen geholt.

Wo mag der Suchtrupp unterdessen sein? Schon im Sperrgebiet? Ich muss weg von der Höhle, ich will nicht, dass die Männer Oleks Unterschlupf finden, dass Kai oder einer wie Trefflich in seinen Sachen herumstöbert.

Entschlossen laufe ich los, den kürzesten Weg zurück in Richtung Dorf. Als ich mich der Ringstraße nähere, hat sich der Himmel zugezogen, schlagartig ist es dunkel geworden. Durch das lauter werdende Grollen des Donners dringen verhaltene Männerstimmen zu mir herüber und auf der anderen Seite der Straße sehe ich zwischen den Bäumen und Sträuchern das Licht von Taschenlampen aufblitzen.

So nah sind sie schon! Ich überlege, wie ich ihnen am besten aus dem Weg gehen kann, als mich ein herzzerreißender Aufschrei innehalten lässt: »Kai!«

Ich erkenne die hohe Kinderstimme sofort und bin so erleichtert, dass mir die Knie weich werden. Elli!

»Da ist das Mädchen!« Auf der anderen Straßenseite brechen Äste und mehrere Stimmen werden laut.

»Elli!«, ruft Kai. »Komm her zu mir, Elli!«

Am lautesten schreit Trefflich: »Haltet ihn, haltet den verdammten Dieb!« Olek! Die Hände nach vorn gestreckt, stolpere ich in Richtung der Lichter und Stimmen, denn wenn sie ihn kriegen, werden sie nicht glimpflich mit ihm umgehen. Scharfe Äste zerkratzen mir Arme und Beine, ich stoße mir das verletzte Knie an einem Ast und wimmere vor Schmerz. Trotzdem haste ich weiter, laufe, so schnell ich kann, zur Ringstraße.

Plötzlich wird die Nacht von einem Schuss zerrissen, auf den ein gellender Schrei folgt.

Taschenlampen irrlichtern durch den Wald, aufgeregte Stimmen schreien wild durcheinander. »Oh Gott«, ruft jemand.

Wie erstarrt bleibe ich stehen. Ein Blitz erhellt die Szenerie, zu kurz, um etwas zu erkennen.

»Olek«, rufe ich. »Olek.« Ich erwache aus meiner Erstarrung, als mich jemand von hinten am Arm packt und festhält.

»Schön hiergeblieben, junges Fräulein.« Bernd Hartung.

Donner kracht, das Gewitter kommt näher. Ich versuche, mich aus Hartungs Griff zu winden, habe jedoch keine Chance. »Ich muss zu Olek«, schreie ich, »lassen Sie mich los.«

»Glück für dich, dass Elli nichts passiert ist!« Grell leuchtet mir Hartungs Taschenlampe ins Gesicht. »Sonst könnte ich nämlich für nichts garantieren.« Er zerrt mich über den Asphalt in den Wald auf der anderen Seite der Straße.

»Lassen Sie mich los! Was ist mit Olek? Seid ihr wahnsinnig, auf ihn zu schießen?«

Noch geblendet vom Lichtstrahl der Taschenlampe, versuche ich, die verschiedenen Gestalten zwischen den Bäumen und Sträuchern auszumachen.

Neben Achim Arnold kann ich Kai erkennen. Elli klammert sich schluchzend an seinen Hals wie ein kleines Äffchen. Sie hat einen Verband am Unterschenkel, aber sonst scheint sie unversehrt zu sein. Gernot Schlotter, Hans Grimmer, der alte Arnold und Magnus stehen im Kreis um Kai und Elli herum. Magnus? Ich kann nicht fassen, dass Grimmer seinen Sohn zu dieser Suchaktion mit in den Wald geschleppt hat. Und Karsten Merbach? Vermutlich stolpert er noch irgendwo mit seiner Taschenlampe durch die Gegend.

Aber wo ist Olek? Hat Trefflich ihn erwischt? Konnte er in den Wald entkommen oder haben sie ihn geschnappt?

Der Schafkönig lässt mich endlich los.

»Ist Elli okay?«, frage ich.

Kais Augen funkeln vor Wut. »Sie steht unter Schock, bringt kein Wort heraus«, blafft er mich an. »Wer weiß, was das perverse Schwein mit ihr gemacht hat.«

Ich erschrecke über den Hass in seiner Stimme und begreife, dass Olek keine Fairness erwarten kann. Nicht von ihm, vermutlich von keinem der Männer hier.

»Elli, wo ist der Dieb?«, wende ich mich an die Kleine. »Hat er dir etwas getan? Elli, ich bin’s, Jola.«

Elli hat das Gesicht in Kais Halsbeuge vergraben, ihre Hände sind in seinem Nacken verschränkt. Sie reagiert nicht auf meine Frage – ich kann sie verstehen. Zuletzt habe ich »Verschwinde, du kleine Kröte, sonst frisst dich der böse Wolf« zu ihr gesagt.

»Komm, Junge«, sagt Kais Vater. »Bringen wir Elli hier weg, ehe wir noch nass werden.«

Die beiden laufen mit Elli zurück zur Ringstraße. Mein Blick streift die umstehenden Baumstämme und Sträucher, versucht, die Dunkelheit zu durchdringen, doch es ist zwecklos. Von Olek fehlt jede Spur.

»Und nun zu dir, du kleines Flittchen«, knurrt Hans Grimmer.

Arschloch.

»Oh, du lieber Augustin, Augustin«, beginnt Magnus zu singen.

»Sei still, du Idiot«, herrscht der Tischler seinen Sohn an.

Ich höre Autotüren klappen und gleich darauf wird ein Motor angelassen. Kais Vater hat einen Schlüssel für die Sperrschranken zum Übungsplatz, weil er seine Schafe darauf weiden lässt. Ich vermute, es ist sein Geländewagen, der davonfährt.

Ist Olek bei ihm?

Zwei Gestalten tauchen aus Richtung Ringstraße zwischen den Bäumen auf. Rudi Grimmer und Hubert Trefflich. Trefflich hält sein Gewehr in der Hand.

»Sie Idiot haben auf Olek geschossen?«, schreie ich ihn an. Mein Haarknoten hat sich gelöst, ich muss wie eine Furie aussehen.

»Ein kleines Mädchen war in Gefahr und ich habe auf ihren Entführer geschossen.«

Das war’s zum zweiten Mal an diesem Tag mit meiner Beherrschung. Mit Gebrüll stürze ich mich auf Trefflich, doch jemand stellt mir ein Bein. Ich habe solchen Schwung, dass ich gegen Trefflichs Brust pralle und der Mann mit einem verblüfften »Uff« unter mir zu Boden geht.

Sofort sind die anderen über uns, packen mich, überall sind Arme und Hände. Und für zwei Sekunden sehe ich im unsteten Lichtkegel einer Taschenlampe etwas, das mir das Blut in den Adern gefrieren lässt: einen deutlichen Elli-Bissabdruck auf der Innenseite eines Unterarms.

Verflixt! Vom Licht der Taschenlampe geblendet, kneife ich die Augen zusammen. Orangerote Kreise pulsieren hinter meinen Lidern. Der muffige Geruch von ungewaschenen Kleidern steigt in meine Nase. Ich werde von Hubert Trefflich heruntergehoben und unsanft wieder auf die Füße gestellt. Rudi und Gernot halten mich an den Oberarmen fest. Magnus hilft dem fluchenden Trefflich auf die Beine.

»Du verfluchtes Gör, du bist ja richtig gefährlich«, geifert Trefflich. »Wenn ich deinem Vater erzähle, dass du dich mit einem Verbrecher hier im Wald herumtreibst, dann …«

»Was dann?«

»Nun ist es aber wirklich genug, Jola«, mischt sich Schlotter ein. »Du hast schon genug Schaden angerichtet in deiner Naivität. Reiß dich endlich zusammen und bemühe mal deinen Verstand.«

»Schämen sollte sie sich!«, ereifert sich Achim Arnold. »Lässt sich mit einem Kindesentführer ein. Pfui Teufel!«

»Wenn sie nicht die ganze Zeit gelogen hätte, hätten wir ihn längst gefangen, den Dieb!«, bemerkt Rudi Grimmer.

Wie Richter stehen die Männer um mich herum, aus ihren Gesichtern spricht nichts als Abneigung. Und überhaupt: Was reden sie da für einen Schwachsinn? Ich soll meinen Verstand bemühen? Oh ja, das tue ich gerade. Fieberhaft.

Einer dieser Männer hat einen Elli-Zahnabdruck am Unterarm. Warum hat Elli ihn gebissen und vor allem: Wann?

Ich starre sie an: Hubert Trefflich, Gernot Schlotter, Rudi und Hans Grimmer, Magnus und den alten Arnold. Ist einer von ihnen ein perverses Arschloch? Aber welcher der Männer ist von Ellis Mal gezeichnet?

Blitzschnell lote ich meine Chancen aus. Alle hier sind stinkwütend auf mich. Na ja, bis auf Magnus vielleicht, aber was in seinem Kopf vorgeht, weiß keiner.

»Gehen wir«, sagt Schlotter. »Es fängt gleich an zu regnen und ich brauch jetzt ein ordentliches Bier. Ihr seid alle eingeladen.«

Erleichterte Zustimmung. Blitz und Donner beschleunigen den Aufbruch. Ich werde vom Gastwirt und Rudi Grimmer abgeführt wie eine Verbrecherin. Trefflich läuft vor uns und leuchtet mit seiner Taschenlampe den Pfad aus. Hinter uns tappt Magnus, gefolgt von seinem Vater und Achim Arnold.

Es fängt an zu tröpfeln. Noch schützen die Kronen der Bäume vor dem einsetzenden Regen, aber er wird schnell stärker. Die Männer beschleunigen ihre Schritte und grummeln Flüche vor sich hin. Keiner hat Lust, sacknass im Wirtshaus zu sitzen.

Hilf mir, Wald!

Fünf Minuten später hallt ein durchdringendes Wolfsheulen durch den Wald. Ich spüre, wie die Männer, die mich halten, vor Schreck erstarren. Für einen Moment lockert sich Rudi Grimmers Griff. Ich nutze meine Chance und reiße mich von seinen und Schlotters Händen los. Im nächsten Augenblick bin ich zwischen den Bäumen verschwunden. Danke, Wölfin.

»Komm zurück, du Miststück«, brüllt Trefflich und leuchtet mir mit seiner Taschenlampe hinterher.

»Lass sie«, höre ich Rudi Grimmer sagen. »Sie wird so schnell wie möglich nach Hause laufen.«

Ja, lass sie.

Magnus lacht und beginnt zu heulen wie ein Wolf.

»Halt die Klappe, Magnus.«

Die Wölfin antwortet und kurz darauf heulen auch ihre Welpen.

Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Zitternd kauere ich hinter dem Stamm meiner uralten Kiefer und versichere mich, dass keiner zurückbleibt. Die Wölfin und der Regen halten sie davon ab, nach mir zu suchen. Und selbst wenn: Sie würden mich nicht kriegen. Das ist mein Reich, ich kenne mich hier aus und ich bin schneller als diese Idioten.

Inzwischen regnet es in Strömen, die großen Tropfen nässen mein Haar und meine Haut. Das Zittern wird stärker, bald schlottere ich am ganzen Körper. »Olek«, flüstere ich und schlinge die Arme fest um meine angezogenen Knie. Tränen vermischt mit Regen laufen mir über die Wangen, ich mache mich ganz klein, möchte ein Tier sein, das vom Tod nichts weiß. Was, wenn Trefflich Olek erschossen hat? Hat da nicht einer »Oh Gott« gerufen?

Als ich mich mit steifen Gliedern aufrappele, habe ich jedes Zeitgefühl verloren. Nass bis auf die Haut und wie in Trance laufe ich durch den finsteren, tropfenden Wald. Aus Vorsicht schlage ich einen Bogen und quere den Forstweg, um mich über das Waldstück hinter dem Gartenweg an unser Grundstück heranzupirschen. Kann ja sein, dass der wütende Suchtrupp auf die Idee gekommen ist, jemanden vor unserem Haus zu postieren, um mich abzufangen.

Mein Knie schmerzt, die Kratzer an Armen und Beinen brennen und in meinem Magen wühlt die Angst um Olek. Ich arbeite mich zwischen den Himbeersträuchern bis zum Gartenweg voran, versichere mich, dass da niemand ist, und erreiche die Gartentür zu unserem Grundstück. Fast geschafft. Ich drücke die Klinke herunter, doch die Tür geht nicht auf. Ma muss von innen den Riegel vorgeschoben haben – das macht sie manchmal, obwohl es völlig idiotisch ist.

»Mist, verfluchter.« Wütend trete ich gegen die Tür. Nun muss ich zurücklaufen und unser ganzes Grundstück umrunden. Dann kommt mir die Idee, über den Kirschbaum auf meinen Balkon zu klettern. Ich trabe ein paar Schritte den Gartenweg hinunter und schwenke durch die offene Pforte in den Nachbargarten.

Meine Hände strecken sich nach den unteren Zweigen des Kirschbaumes. Plötzlich trifft mich ein harter Schlag auf den Kopf und alles versinkt in Finsternis.