21. Kapitel

Die letzten beiden Schultage vor den Ferien scheinen um Stunden längere Vormittage zu haben als normale Tage. Am Freitag klettert die Temperatur auf siebenundzwanzig Grad im Schatten und trotz offener Fenster steht die verbrauchte Luft im Raum, denn draußen geht kein Wind.

Endlich ist Zeugnisausgabe.

Die Zeit, bis auch der Letzte sein Zeugnis in den Händen hält, kriecht wie eine Schnecke. Alle in unserer Klasse haben die BFL-Prüfungen bestanden. Nach den Sommerferien werden wir in Oberstufen-Kurse aufgeteilt, ich werde nicht mit Kai und Saskia in einem Kurs sein.

Es klingelt zum Schulschluss, und als das Klingeln verstummt, hallt fröhliches Geschrei durch das gesamte Schulhaus. Aus den Klassenzimmern strömen Schüler, rempeln sich an und lachen und stolpern wie bekifft dem Ausgang entgegen. Nur raus hier, denke ich. Endlich frei – für ganze sechs Wochen.

Diesmal bin ich dabei, als wir im »La Gondola« den Ferienbeginn mit einem Eisbecher feiern.

»Kommst du nachher mit zum See?«, fragt Kai, als wir später von der Bushaltestelle nach Hause laufen.

»Weiß noch nicht«, murmele ich.

Er fasst nach meiner Hand. »Hey, du hast wohl den Schuss nicht gehört: Es sind Ferien, Jo. Was ist nur los mit dir? Habe ich irgendetwas gesagt oder getan, was dich gekränkt hat?«

Ich schüttele den Kopf, muss schlucken, kann ihn nicht ansehen. Meine Kehle brennt und ich schäme mich. Ich muss es ihm endlich sagen, alles andere ist unfair.

»Ist es immer noch wegen diesem dämlichen Zeitzeugenbericht?«

Ich zucke mit den Achseln. Eine wortlose Lüge. Kai kommt überhaupt nicht auf die Idee, dass ich mich in einen anderen verliebt haben könnte. Er vertraut mir blind und ich habe dieses Vertrauen missbraucht. Wenn du wüsstest, Kai. Wenn du wüsstest, dass in unserem Wald eine Wölfin jagt und ihren Nachwuchs aufzieht. Wenn du wüsstest, dass Olek dort draußen in einer Höhle lebt, der polnische Elf, der mein Herz im Sturm erobert hat. Olek, der Dieb, der dir nicht nur dein Lieblings-T-Shirt, sondern auch deine Freundin gestohlen hat. Der in seiner Höhle sitzt und Lektionen der Liebeskunst lernt, weil er alles richtig machen will.

Vor der Einfahrt zum Hof der Hartungs steht ein alter Kombi mit Berliner Kennzeichen. »Oh nein«, stöhnt Kai auf. »Johanna und Elli sind schon da. Eigentlich wollten sie erst am Sonntag kommen.« Er seufzt. »Das mit dem See hat sich wohl für heute erledigt. Ich kann es nicht glauben, dass ich diesen kleinen Satansbraten jetzt drei Wochen lang am Bein habe.«

Danke, Johanna, denke ich, als ich wenig später kräftig in die Pedale trete, um zu Olek zu kommen. Ich kann es kaum erwarten, ihn wiederzusehen, auch, wenn es nur für eine Stunde sein wird. Vielleicht werden wir in der Sonne sitzen und reden, vielleicht besuchen wir die Wölfin und ihren Nachwuchs. Vielleicht werfen wir aber auch einen Blick in Tante Lottas Buch der Liebeskunst und lernen zusammen eine weitere Lektion.

Ich bin so glücklich, dass die Euphorie das schlechte Gewissen in den Hintergrund drängt.

In der Nähe der Höhle gibt es ein verstecktes Plätzchen: von drei Seiten schützender Fels und weiches Gras, in dem man liegen und träumen kann. Olek liegt mit geschlossenen Augen auf dem Rücken und kaut auf einem Grashalm herum. Sein nackter Oberkörper glüht in der Sonne. Ich sitze neben ihm und studiere seine Rippenbögen unter der sonnenbraunen Haut, die flachen, schlanken Muskeln, die feine Linie blonder Härchen unter seinem Bauchnabel, die unter dem Hosenbund verschwindet. Er hat überall am Körper kleine Narben, helle Zeichen, die etwas erzählen. Nur was?

Über Oleks Vergangenheit weiß ich noch immer so gut wie nichts. Ihn danach zu fragen, ist vergebliche Liebesmüh, sein Blick kehrt sich jedes Mal nach innen und ich kann spüren, dass irgendwo tief in ihm ein wilder Schmerz lauert. Er wirkt dann verkrampft und verschlossen, deshalb habe ich aufgehört zu fragen.

Ich lege mich neben ihn. »Was heißt Schwalbe auf Polnisch?«

»Jaskólka.«

»Und Fuchs?«

»Lis.«

»Eule?«

»Sowa.«

»Ich liebe dich?«

»Kocham cie.« Olek beugt sich lächelnd über mich und küsst mich.

»Ich dich auch.«

Seine graugrünen Augen blicken sanft und ich frage mich, was sie schon alles gesehen haben. Woher rührt die Trauer, die stets in seinem Lächeln mitschwingt? Was sind die geheimen Gedanken hinter Oleks Blick?

Nach seiner Vergangenheit kann ich ihn nicht fragen, also frage ich, was er sich wünscht, in der Hoffnung, dass ich in seiner Zukunft vorkomme.

»Für einen wie mich gehen Wünsche selten in Erfüllung«, antwortet er leise. »Sie tun nur weh.« Der Schmerz in Oleks Stimme treibt seine Worte tief unter meine Haut. »Ich versuche, im Augenblick zu leben, Jola, wie die Tiere. Nichts hoffen und nichts wünschen. Der Mensch ist einzige Tier, das wünscht.« Die schwüle Hitze, das Summen der Insekten und die Rufe eines Baumfalken mischen sich in seine Worte. »Ich will nichts wünschen, ich will mich nicht mehr erinnern.«

Schnell hat sich der Himmel zugezogen und nun türmen sich dunkle Wolken am Himmel. Auf dem Heimweg erwischt mich das Gewitter, ich werde nass bis auf die Haut.

In den nächsten Tagen bleibt das Wetter warm und sonnig. Jeden Morgen bin ich vor Sonnenaufgang im Verbotenen Land und verbringe die Zeit bis zum Mittagessen mit Olek. An den Nachmittagen schlüpfe ich in mein Die-alte-Jola-Ich, fahre mit den anderen zum Badesee, um die Fassade der Normalität aufrechtzuerhalten, hinter der ich meine Geheimnisse bewahre – und um mein Versprechen gegenüber Kai einzuhalten, dass ich ihn mit seiner wilden Nichte nicht alleinlasse.

Elli ist gewachsen, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe, und Kai hat nicht übertrieben: Seine Nichte ist ein wahrer Satansbraten. Mager und flink wie ein Eichhörnchen, allerdings eins ohne Schneidezähne. Blonde Ringellöckchen, Sommersprossen, Stupsnase und ein loses Mundwerk, das sich gewaschen hat. Entweder rennt sie oder springt wie ein Jojo auf und ab – normal laufen scheint bei ihr nicht einprogrammiert zu sein. Und sie schleppt immer ein hässliches behaartes Stofftier namens Sammy mit sich herum, von dem sie sich niemals trennt.

Wir haben ein Plätzchen im Halbschatten einiger Jungbirken und die Nachmittagssonne funkelt auf dem dunklen Wasser des Sees. Sammy sitzt am Uferrand, gerade so weit von der Wasserlinie entfernt, dass seine grauen Fusselfüße nicht nass werden. Kai steht im Wasser und hält Elli in ihrem Hello-Kitty-Badeanzug auf seinen Unterarmen. Sie hat rosafarbene Schwimmflügel an den Armen, Kai soll ihr das Schwimmen beibringen.

»Okay«, ruft er, »so ist es gut. Die Beine bewegen wie ein Frosch und mit den Händen das Wasser zerteilen und wegschieben. Pass auf, ich zeige es dir noch mal.« Er lässt sie von seinen Armen gleiten und wartet, bis sie sicher steht. Dann stellt er sich hinter sie, fasst nach ihren Händen und zeigt ihr die Schwimmbewegungen.

»Süß, oder nicht?« Saskia stupst mich an.

»Wer? Kai oder Elli?«

Sie kichert. »Na, wer schon. Sieh ihn dir doch nur an, diese Wahnsinnsmuskeln.«

Saskia hat recht. Kais Figur ist in den letzten Wochen männlicher geworden, er hat Muskeln bekommen. Ich weiß, dass er heimlich Gewichte stemmt in seinem Zimmer.

»Als kleiner Kerl war er ein Dickerchen mit Mopsgesicht«, verrate ich leise.

Sie seufzt. »Ihr beide passt einfach perfekt zusammen, Jo. Ich beneide dich um deine Figur und diesen heißen Bikini.« Der heiße Bikini stammt aus dem Fundus ihrer englischen Cousine.

»Ach, hör doch auf, Sassy, du weißt genau, dass alle Typen hier am See sich nach dir umdrehen und nicht nach mir. Weil du einen supersexy Busen hast.«

»Und warum hast du dann so einen tollen Freund und ich sitze alleine hier?«

»Weil du so verdammt wählerisch bist, Sassy, das ist alles.« Ich sehe sie an, ihr fröhliches Gesicht, und spüre einen Stich. Wie gerne würde ich ihr erzählen, dass alles ganz anders ist, als es aussieht. Dass Kai längst nicht mehr der Junge ist, auf dessen Ruf mein Herz hört. »Sassy?«

»Ja?«

»Ich …«

In diesem Moment quietscht Elli auf und schreit übermütig: »He, alle mal herschauen.« Saskia und ich wenden unseren Blick wieder zum Wasser und der Moment ist vorbei. Elli steht auf Kais Schultern und springt mit lautem Kreischen ins Wasser.

»So, Mücke«, er schnappt sie sich. »Jetzt geht es raus aus dem Wasser, du hast schon ganz blaue Lippen.«

Elli zieht einen Flunsch und protestiert heftig. Aber Kai trägt sie aus dem Wasser und rubbelt sie trocken. Schließlich sitzt Elli mit Sammy in ein großes buntes Handtuch eingewickelt neben mir auf der Decke, klappert mit den Zähnen und vertilgt Kekse, von denen auch Sammy ab und zu ein Krümelchen abbekommt.

Kai beugt seinen Kopf herüber und gibt mir einen schnellen Kuss, wie ein Tier, das nach seiner Beute schnappt.

»Seid ihr jetzt ein richtiges Liebespaar?«, fragt Elli mit vollem Mund.

»Ja«, antwortet Kai, »Jola und ich sind ein richtiges Liebespaar.« Er wirft mir einen spöttisch fragenden Blick zu. »Das sind wir doch, oder?«

»Na klar.«

»Aber wenn ihr ein richtiges Liebespaar seid, dann war das kein richtiger Kuss. Liebespaare küssen mit der Zunge.«

Mist!

Saskia gibt ein leises Schnauben von sich. Sie grinst in sich hinein.

»Tja«, meint Kai, »wenn das so ist, dann werden wir dir auf der Stelle beweisen, dass wir ein richtiges Liebespaar sind.« Er beugt sich über Elli hinweg und küsst mich, dass mir Hören und Sehen vergeht. Ich versteife mich, kann an nichts anderes denken als daran, dass Olek vielleicht wieder irgendwo in einem Versteck sitzt und uns beobachtet.

Elli zieht die Schultern hoch und kichert wie ein kleiner Gnom. Saskia klatscht und von einigen Leuten auf den umliegenden Decken und Handtüchern kommen Pfiffe.

Ich kann es nicht verhindern, dass ich rot anlaufe. Es ist die Schamesröte, die mir ins Gesicht steigt. Du musst es ihm sagen, Jola. Du musst es ihm endlich sagen, dass du nicht mehr von ihm geküsst und berührt werden willst. Weil es nicht funktioniert mit dem Liebespaar. Weil er dein Freund ist und nur das.

Saskia stößt mir ihren Ellenbogen in die Rippen. »Guck mal, da drüben.« Sie zeigt mit der Nase auf die gegenüberliegende Seeseite. Auf einem winzigen Handtuch sitzt Hubert Trefflich und hat ein Fernglas vor dem Gesicht, mit dem er ungeniert die Mädchen in ihren knappen Bikinis beobachtet.

»Dieser dämliche Spanner«, sage ich.

Saskia steht auf und lässt vor Trefflichs Fernglas provokant die Hüften kreisen.

Als wir später zu dritt nach Hause laufen, macht Elli schon nach hundert Metern schlapp und Kai muss sie auf seinen Schultern den Berg hinauftragen. Sie zappelt und plappert und drückt ihm immer wieder fast die Luft ab. Am Dorfeingang setzt Kai Elli ab und sie hüpft los wie aufgezogen.

Rudi Grimmer steht mit Pinsel und einem Eimer Farbe am Zaun, als wir im Anmarsch sind. Er sieht auf, glättet seine fettigen Haarsträhnen auf der Halbglatze und brummt auf unseren Gruß hin eine vage Erwiderung.

Kaum ist Elli an ihm vorbei, dreht sie sich um, zieht eine Grimasse und streckt die Zunge raus. Leider hat Grimmer es gesehen. »He, du kleine Hexe, was soll denn das?«

»Tut mir leid«, entschuldigt sich Kai, »sie hat es nicht so gemeint. Sie ist eine Großstadtgöre«, sagt er achselzuckend, als ob das alles erklärt.

»Na dann wird es Zeit, dass ihr jemand ein bisschen Benehmen beibringt«, poltert Grimmer hinter uns her.

Plötzlich schießt Biene aus dem offenen Gartentor. Laut bellend rast sie auf Elli zu, die stocksteif und mit hochgezogenen Schultern stehen bleibt.

»Biene, aus«, ruft Grimmer scharf. Die Hündin zieht winselnd den Schwanz ein, sie trottet zurück zu ihrem Herrchen und setzt sich brav ins Gartentor.

Kai schnappt sich Elli und wir laufen an der großen schwarzen Schäferhündin vorbei. »Wird Zeit, dass Sie Biene ein bisschen Benehmen beibringen«, rufe ich, als wir ein paar Meter entfernt sind.

Grimmer schüttelt den Kopf und winkt ab.

»Arschloch«, zischt Kai.

»Das A-Wort sagt man nicht.« Elli ist aus ihrer Erstarrung erwacht.

»Man streckt auch nicht fremden Leuten die Zunge raus«, entgegnet Kai.

»Er hat mich so blöd angeguckt, der Mann.«

Kai schnaubt ärgerlich. »Du hast sie ja nicht mehr alle. Wir sind hier auf dem Dorf, Mücke, da gucken alle blöd, wenn sie so ein Mädchen wie dich sehen.«

Elli befreit ihre Hand aus Kais, streckt ihm die Zunge raus und hüpft davon.

Kai macht ein so verdutztes Gesicht, dass ich laut loslachen muss. Und schließlich lacht auch Kai.