Ich gehe allein zu Marie Scherer«, eröffne ich Saskia am nächsten Morgen an der Bushaltestelle.
»Und wieso kommt Kai nicht mit? Habt ihr euch geprügelt?« Sie deutet auf meine inzwischen blaugrün gefärbte Beule.
»Ich bin gegen einen Baum gelaufen.«
Saskia hält sich eine Hand vor den Mund und prustet los.
»Und ich habe heute Nachmittag Fußballtraining.« Kai mustert Saskia mit stoischem Gesichtsausdruck.
»Danke, Jo«, sagt sie und grinst immer noch. »Du bist eine echte Freundin. Ich wäre mir schäbig vorgekommen, wenn ich der alten Frau hätte absagen müssen.«
»Schon gut.«
Als Benni und Kevin an der Bushaltestelle eintreffen, muss ich mir ihre spöttischen Kommentare über meine Beule anhören. Die beiden Fünfzehnjährigen werden von allen nur Dick und Doof genannt. Benni Maul, ein rotgesichtiger Dickwanst mit Bürstenhaarschnitt und kindlichen Pausbacken, in zehn Jahren ist er reif als Kandidat für »Bauer sucht Frau«. Und sein Kumpel Kevin Schlotter, dürr wie ein Zweig, mit käsebleichem Gesicht (nach der Schule muss er in der Kneipe mithelfen) und nervösem Blick.
»Ach, haltet doch die Klappe, ihr Idioten«, sagt Kai, mein edler Ritter.
»Selber Klappe, du Schaffurz«, erwidert Benni.
Schaffurz? Saskia und ich sehen uns an und müssen kämpfen, um nicht in Lachen auszubrechen. Was uns nur schlecht gelingt.
Kai wirft uns einen ärgerlichen Blick zu.
»Willst du ein paar auf ’s Maul, Maul?«
»Nö.« Benni grinst seinen Kumpel Kevin an, sie nicken sich zu und dann legen sie los. Zuerst ruft Benni: »Was frisst das Schaf, was frisst das Schaf?«
»Gras, Gras, Gras«, antwortet Kevin.
Benni ruft: »Was wollen wir?«
»Spaß, Spaß, Spaß«, plärren sie gemeinsam.
Der Schulbus kommt und wir steigen ein. Kai gibt Benni einen kleinen Stoß, sodass er die Stufen hinaufstolpert.
Das war’s dann auch schon. Kai ist viel zu gutmütig.
Weil Herr Schmalfuß, unser Sportlehrer, in der Nacht eine Nierenkolik hatte, haben wir in der Dritten und Vierten überraschend zwei Freistunden. Wir vier nutzen die Zeit, um in der Schul-Cafeteria unsere Powerpoint-Präsentation noch einmal durchzusprechen.
»Stellt euch vor«, erzählt Kai, »letztes Jahr hat ein Reisebüro eine Exkursionsreise auf den Truppenübungsplatz angeboten und einen ganzen Bus voller neugieriger Touristen ins munitionsverseuchte Gelände gekarrt. Und in diesem Internet-Forum behauptet doch tatsächlich einer, dass Hitlers Telefonanlage im Stollensystem noch intakt ist. Er hat sogar die Nummer herausgefunden – aber es ist dauernd besetzt.«
Wir lachen und ich muss an den spektakulären Polizeieinsatz im Tal denken, der vor ein paar Jahren unter den amüsierten Blicken des halben Dorfes stattgefunden hatte.
»Erinnert ihr euch noch an das Hitler-Fenster?« Ich nehme einen Schluck von meinem Cappuccino.
Kai und Tilman nicken grinsend, nur Saskia schaut mich fragend an. Sie hat damals noch nicht in Altenwinkel gewohnt.
»Vor fünf Jahren (ich weiß es so genau, weil Alina noch da war) hat sich jemand – wahrscheinlich waren es zwei oder drei – bei Nacht mit Seilen ein Stück am Steilhang herabgelassen und mit Bauschaum ein kleines Fenster hoch oben an der Wand in eine Felsnische gesetzt. Am nächsten Morgen hat Adolf Hitler hinter weißen Spitzengardinen hinab auf die Talstraße geblickt.«
»Verrückt!« Saskia schüttelt den Kopf.
»Das Ganze ging einige Tage lang«, sagt Kai. »Der Clou war: Wenn es dunkel wurde, gingen bei Hitler die Lichter an. Wer immer sich das ausgedacht hat, er hatte zwei Solarlampen in der Felsnische installiert.«
»Ganz schön böse.« Saskia nippt an ihrem Latte. »Haben sie die Typen erwischt?«
»Nein.« Kai lehnt sich kippelnd zurück. »Der Staatsschutz hat damals gegen unbekannt ermittelt, wegen des Verdachtes auf einen rechtsextremen Hintergrund. Aber man hat nichts in der Richtung herausgefunden. Es war ein Witz. Da hat sich vermutlich jemand lustig gemacht über all die Verschwörungstheorien, die über das Tal im Internet kursieren.«
»Und dabei ziemlich viel riskiert«, bemerkt Saskia. »Wenn sie die erwischt hätten, wären sie bestimmt für eine Weile in den Knast gegangen.«
»Und du behauptest immer, hier wäre nichts los«, sage ich.
Saskia schnaubt spöttisch. »Wie lange sagst du, ist das her? Fünf Jahre? Vielleicht ist das Hitlerfenster ja auch bloß eine Legende (sie setzt das Wort in imaginäre Anführungszeichen), genauso wie die Geschichte von der Blutbuche und dem toten Ami.«
Kai verdreht die Augen. »Jetzt fängst du schon wieder damit an, Sassy.«
»Ja, tut mir leid, aber für mich ist das Thema noch nicht erledigt. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass da etwas dran ist.« Sie schiebt mir einen Zettel über den Tisch. »Hier, ich habe ein paar Fragen vorbereitet, die du Marie Scherer stellen kannst. Aber überfall die alte Dame nicht gleich damit, ja? Lass sie erst einmal reden, vielleicht kommt sie ja von selbst mit der Geschichte.«
»Klar«, sage ich, überfliege die Fragen, falte den Zettel zusammen und stecke ihn ein.
Kai, der die ganze Zeit gekippelt hat, lässt sich nach vorne plumpsen. »Ihr verrennt euch da in was, Mädels. Jeder im Dorf weiß, dass die Neumeister gewaltig einen an der Waffel hat.«
Saskia zuckt nur mit den Achseln. »Das werden wir ja sehen.«
Nachdem wir noch zwei Stunden Deutsch bei Herrn Neudert hinter uns gebracht haben, verabschieden sich Kai und Tilman zum Fußballtraining und Saskia und ich laufen zur Bushaltstelle.
Als der Bus vor dem »Jägerhof« hält, wandert mein Blick unwillkürlich zu Tonia Neumeisters schmalem Haus, das gleich nebenan steht. Sie sitzt am offenen Fenster, die Unterarme auf einem geblümten Kissen, und beobachtet mit Argusaugen, wer alles aussteigt. Neugier und Kontrolle.
Natürlich habe auch ich so dies und das über die Bewohner meines Dorfes gehört, das bleibt einfach nicht aus. Dank seiner redseligen Oma Ruth ist Kai immer auf dem neuesten Stand der Dinge und erzählt mir alles weiter. Oma Ruth kann Tonia Neumeister zwar nicht leiden, steht aber fast jeden Tag vor ihrem Fenster, je nach Wetterlage und Neuigkeiten.
Durch Kai erfahre ich, was in Altenwinkel über Familie Schwarz geredet wird. Vor allem über meine Mutter, die Verrückte. Für die Leute im Dorf ist Ma eine überdrehte Schriftstellerin, zu hochnäsig, um sich mit ihnen abzugeben. Ihre Zurückgezogenheit wird ihr als Überheblichkeit ausgelegt. In Wahrheit ist Ma für die Leute ganz einfach ein Rätsel: Je weniger sie wissen, umso mehr dichten sie dazu.
Mein Vater hat dann alle Hände voll zu tun, um alles zu dementieren. Er ist »ein Jung aus dem Dorf«, genießt als Revierförster und Jäger Ansehen und sitzt regelmäßig mit den anderen bei Bier und Spiel im Wirtshaus – da verzeiht man ihm sogar seine seltsame Frau.
Und ich … nach Alinas Tod war ich nicht mehr Jola Schwarz, sondern nur noch »die kleine Freundin von dem armen Ding«. Sie haben auch mich zu einer bedauernswerten Namenlosen gemacht. Aber das hörte ein paar Wochen später auf. Wenn allerdings mal wieder ein Fest ansteht, mokiert sich regelmäßig das halbe Dorf darüber, dass ich lieber im Wald herumstreife als mich in die Gemeinschaft einzubringen. »Die kleine Schwarz ist völlig verwildert« – Kai macht sich gerne einen Spaß daraus, mir den Dorfklatsch brühwarm zu erzählen.
Die meiste Zeit des Jahres bin ich den Leuten jedoch völlig egal und umgekehrt ist es genauso. Das habe ich damals Alina abgeguckt: Es interessiert mich nicht mehr, was die Altenwinkler über mich denken – und bis vor Kurzem dachte ich nichts über sie.
Kurz vor drei mache ich mich auf den Weg. Marie Scherer und ihre Tochter Agnes wohnen in einem Fachwerkhaus, an dem schon eine Weile nichts mehr gemacht worden ist. Doch auch wenn die Balken des Scherer-Häuschens einen neuen Anstrich brauchen und hier und da der graue Putz abblättert, das Grundstück ist tipptopp in Schuss. Der sauber gefegte Plattenweg zum Eingang ist gesäumt von blühenden Maiglöckchen und Vergissmeinnicht.
Ich bin aufgeregt, denn mehr als »Guten Tag« und »Schönes Wetter heute« habe ich bisher mit den beiden Frauen nicht gesprochen. Marie Scherer ist ein hochbetagtes Mütterchen, um das sich ihre Tochter Agnes fürsorglich kümmert. Im vergangenen Jahr habe ich Marie an schönen Tagen noch mit ihrem Rollwägelchen durchs Dorf tappen sehen, aber offensichtlich ist sie inzwischen zu klapprig dafür und das holprige Pflaster der Dorfstraße macht es auch nicht einfacher.
Soweit ich weiß, hat Agnes eine Tochter, aber die lebt mit ihrer Familie irgendwo in Polen.
Ich drücke auf den Klingelknopf und kurz darauf öffnet Agnes die Tür. Sie hat ihr dichtes graues Haar zu einem Knoten gebunden und trägt einen bunt gemusterten Kittel über einem blauen T-Shirt. Ihre Füße stecken in roten Gummiclogs. Sie muss Mitte sechzig sein und dafür sieht sie erstaunlich fit aus.
Agnes bittet mich herein. Durch einen niedrigen dunklen Flur führt sie mich in eine kleine Stube, wo ihre Mutter Marie auf einer plüschigen Couch sitzt.
Maries Haar hat die Farbe von Birkenrinde und ringelt sich in dünnen Löckchen, durch die matt die Kopfhaut schimmert. Sie trägt graue Hosen, die dunkelbraune Strickjacke mit dem Zopfmuster ist bis zum Hals zugeknöpft. Aber der Blick ihrer Augen wirkt klar und aufmerksam. Maries Hand fühlt sich kalt an, als ich sie begrüße, die Haut wie knittriges Backpapier.
Agnes bedeutet mir, neben ihrer Mutter Platz zu nehmen. Ich schiebe mich hinter den Couchtisch mit den gedrechselten Füßen, auf dem ein Glaskrug mit Saft und Gläser stehen. Die Luft riecht nach Möbelpolitur und Fensterputzmittel. Auf einer schweren Anrichte aus dunklem Holz fallen mir neben einem Margeritenstrauß in einer Kristallvase verschiedene Stellrahmen mit Fotos auf.
»Tja«, sage ich verlegen und fische das Diktiergerät und den Zettel mit Saskias Fragen aus meinem Rucksack. Die Idee mit dem Aufnahmegerät ist mir gekommen, kurz bevor ich losging. Mir ist eingefallen, dass Ma so ein Ding besitzt. »Ist es in Ordnung, wenn ich unser Gespräch aufzeichne?«
»Ja«, sagt Agnes, »mach das.« Sie gießt Saft in drei Gläser und holt ein in Leder gebundenes Fotoalbum von der Anrichte, das sie vor mir auf den Tisch legt. Das braune Leder ist rissig und abgegriffen. Ich stelle das Diktiergerät an und lege es auf den Tisch.
»Mutter hat gern fotografiert«, sagt Agnes und setzt sich in den zum Sofa passenden Plüschsessel auf der gegenüberliegenden Tischseite. »Bis im April 1945 die Amerikaner kamen und sämtliche Fotoapparate einkassierten. Immerhin, den letzten Film haben sie ihr gelassen. Schau dir die Fotos an«, ermuntert sie mich.
Vorsichtig klappe ich das Album auf und beginne zu blättern. Zwischen brüchigem Pergament sepiafarbene Zeugen aus dem Altenwinkler Dorfleben. Mai 1944 bis Anfang April 1945. Ich erkenne den alten Dorfladen (früher das Schulgebäude), die Kirche, das Wirtshaus und ein paar der alten Häuser. Pfingstfest 1944. Der mit Zweigen und Eiern geschmückte Dorfbrunnen neben der Blutbuche, die damals noch ein kleines Bäumchen war. Junge Männer in Wehrmachtsuniform im Biergarten vom »Jägerhof«. Die Reichsflagge. Männer und Frauen bei der Feldarbeit.
Marie hat unterdessen umständlich ihre Hornbrille aufgesetzt und betrachtet die Bilder ebenfalls. Ich frage mich, wann sie sie das letzte Mal angesehen hat.
»Ich gehe davon aus«, sagt Agnes, »dass du Bescheid weißt über die Stollen unten im Tal, die Munitionsfabrik und die Häftlingslager?«
»Ja, klar«, antworte ich. »Wir haben viel recherchiert für unsere Projektarbeit, aber das alles ist lange her und irgendwie fehlte uns der Bezug zur Gegenwart.« Ich räuspere mich. »Da kam Saskia die Idee, im Dorf nach Zeitzeugen zu suchen und ein oder zwei Erinnerungsberichte in unser Projekt aufzunehmen.«
Agnes nickt. »Eine gute Idee.«
»Sie hat versucht, mit ein paar Leuten ins Gespräch zu kommen«, erkläre ich weiter, »aber keiner, der vom Alter her infrage kam, wollte ihr etwas erzählen.«
»Kein Wunder«, sagt Marie. »Einige, die sich noch erinnern können, haben die schrecklichen Bilder fast ein Menschenleben lang mit sich herumgetragen und wollen nun nicht mehr daran rühren, weil es zu schmerzlich für sie ist. Andere würden diesen Teil der Vergangenheit am liebsten ausradieren. So ist der Mensch nun mal.« Ihre hellen Augen betrachten mich aufmerksam. »Auch ich wollte vergessen. Und dabei ist es so wichtig, dass wir uns erinnern an das, was geschehen ist.«
Ich blättere weiter und habe ein Foto von zwei jungen Frauen in Kittelkleidern beim Rupfen einer Gans vor mir. Ihre ernsten Gesichter blicken in die Kamera.
»Das ist Tonia und das bin ich.« Marie zeigt zuletzt auf ein hübsches Mädchen mit dunklen Zöpfen. Aber auch Tonia, die alte Hexe, war einmal jung und schön, wie ich verblüfft feststellen muss.
Marie hebt den Blick von den Fotos und schaut mich an. Ich spüre, dass die Bilder aus ihrer Jugend jetzt mit aller Macht wieder hochkommen. Sie war siebzehn oder achtzehn damals, nicht viel älter als ich.
Wie war es, 1945 jung zu sein?
Ich frage Marie, ob die Leute im Dorf von der unmenschlichen Behandlung der Zwangsarbeiter durch die SS-Wacheinheiten wussten. Sie nickt und erzählt, dass die Altenwinkler oft unfreiwillig Zeuge waren, wie die Männer von den Aufsehern geschunden wurden.
»Es war eine böse Zeit damals, Kleine. Der Krieg tötet und beschmutzt alles, auch die Menschlichkeit. Er hat viel Hässliches in uns zum Vorschein gebracht. Mut und Hilfsbereitschaft konnten den Tod bedeuten und die Angst, getötet zu werden, beherrschte unser Leben.« Sie schluckt hart. »Einmal sah ich, wie ein Häftling mit der Peitsche geschlagen wurde, bis ihm das Leder das Fleisch mitsamt seinen gestreiften Lumpen vom Körper riss. Nur weil er sich einen Apfel genommen hatte. Ich habe nichts getan.« Sie schüttelt den Kopf. »Ich konnte nichts tun.«
Maries blutleere Lippen beben. Die Erinnerung wiegt jetzt schwerer als die Gegenwart, das ist deutlich zu spüren. Ihre Augen scheinen ins Leere zu blicken, doch ich ahne, dass sie zurück in die Vergangenheit starren und Ungeheuerliches sehen. Bilder, die nicht auf den schwarzen Seiten in diesem Fotoalbum haften, sondern in Maries Seele. Ihre von Altersflecken übersäte und verkrümmte Hand tastet über das Pergament, als wolle die alte Frau sie durch die Zeit strecken und wiedergutmachen, was sie so lange als Schuld mit sich herumgetragen hat.
Ist man feige, wenn man nicht getötet werden will?
Ein Sonnenstrahl fällt durch die blanke Fensterscheibe. Draußen ist Licht und Leben und Vergangenheit ist Vergangenheit, aber in Maries leisen Worten hat sie mich an die Hand genommen und ich bewege mich mit ihr auf dem Weg ins Dunkel. An einen Ort, den Marie Scherer jahrzehntelang in sich getragen hat; einen Ort, an dem ich nicht sein will.
Ich merke erst jetzt, wie trocken meine Kehle ist, doch ich wage nicht, von meinem Saft zu trinken, weil ich fürchte, durch die Banalität meines Bedürfnisses die Gegenwart in den Raum zu holen und Maries Erinnerungsfaden zu kappen.
Ich blättere weiter, stelle meine Fragen und Marie antwortet mir. Ja, trotz des Krieges wurde zu Pfingsten das Brunnenfest gefeiert. Ja, auch Kinder und Jugendliche trugen Uniformen, das war ganz normal.
In einem jungen Mann mit hellem Haar und Försteruniform erkenne ich meinen Opa August. Marie erwähnt ihn nicht und ich traue mich nicht, sie näher über ihn auszufragen.
»Während des Krieges und in der Nachkriegszeit ruhte die Jagd, aber trotz schwerster Strafen haben die Männer mit Schlingen, Fallgruben und alten Kriegswaffen gewildert. Der Hunger war so groß.«
Auf dem nächsten Foto ist wieder unsere Dorfkirche zu sehen, diesmal mit einem weißen Laken an der Turmspitze.
»Anfang April 1945 wurden einige der umliegenden Dörfer von amerikanischen Jagdbombern beschossen«, greift Marie den Faden wieder auf. »Nur Altenwinkel bekam nichts ab. Der Pfarrer hatte dieses weiße Laken am Kirchturm gehisst, vielleicht wurde unser Ort deshalb von den Amerikanern verschont. Niemand kam zu Schaden, alle Häuser blieben heil, es war wie ein Wunder.«
Die Fotos auf der nächsten Seite zeigen amerikanische Soldaten in ihren Wagen.
»Als dann ein paar Tage später die Amerikaner mit ihren Fahrzeugen über das Dorfpflaster rollten, fragten wir uns, was nun folgen würde. Zu Beginn des Krieges hatten nicht wenige aus Altenwinkel lautstark Hurra gebrüllt. Und nun überkam sie die Angst vor der Bestrafung durch die Sieger.«
Marie seufzt, ihre Hände streichen über das knisternde Pergament. »Doch es passierte nichts«, fährt sie schließlich fort. »Die Amerikaner besetzten Altenwinkel und die umliegenden Ortschaften, sie quartierten sich in unsere Häuser ein und beschlagnahmten sämtliche Waffen, Ferngläser, Fotoapparate und was ihnen sonst noch nützlich erschien. Aber sie behandelten uns freundlich.«
Ich blättere um. Die restlichen Seiten des Albums sind schwarz. Wie schade, dass die Bilderreise in die Vergangenheit meines Dorfes so abrupt endet. Als ich das Album zuklappe, rutscht ein Foto heraus, das ich noch nicht gesehen habe.
Es ist das vergilbte Schwarz-Weiß-Foto zweier Männer mit kahl rasierten Schädeln, deren magere Körper in abgerissenen Häftlingskleidern stecken. Sie ähneln einander und in ihre großen, von Hunger gezeichneten Augen ist unsägliches Leid gebrannt. Doch während der Ältere desillusioniert zu Boden schaut, sieht der Jüngere direkt in die Kamera, den Blick voller trotziger Zuversicht.
Dieser Blick fährt mir geradewegs ins Herz und auch aus Maries Kehle kommt ein leises Seufzen.
»Wer sind diese beiden?«
Marie richtet sich auf, sie schaut aus dem Fenster, als überlege sie, ob sie meine Frage beantworten, ob sie diese Erinnerung zulassen kann. Ihre alten Augen sind auf einmal glasig von Tränen. Sie holt tief Luft, wendet den Kopf und schaut mich an.
»Tomasz und Ignaz Kaminski.« Ihre Stimme klingt dünn und brüchig, wie das Pergamentpapier zwischen den schwarzen Seiten. »Sie waren Vater und Sohn, kamen aus der Stadt Zary in Polen. Tomasz war gerade erst achtzehn Jahre alt. Er und sein Vater mussten als Zwangsarbeiter in den Stollen im Berg schuften. Untergebracht waren sie drüben auf der anderen Talseite in einem großen Zeltlager.«
Meine Hand, die das vergilbte Foto der beiden Männer hält, beginnt zu zittern und ich spüre ein unangenehmes Prickeln im Rücken. Im Album sind sonst keine Fotos von Zwangsarbeitern, was hat es also mit den beiden Polen auf sich?
Marie will weitersprechen, doch unter der Last der Erinnerung versagt der alten Frau die Stimme.
»Bist du bereit, Mutter, Jola auch diese Geschichte zu erzählen?« Agnes betrachtet Marie mit sorgenvollem Blick.
Die alte Frau nickt. Sie räuspert sich, holt geräuschvoll Luft und spricht weiter. »Als die Wehrmacht aus Angst vor den heranrückenden Alliierten die Häftlingslager räumte und die Gefangenen auf den Todesmarsch nach Buchenwald schickte, konnten Tomasz und sein Vater aus dem Zeltlager fliehen.
Die beiden versteckten sich im Wald hinter unserem Dorf und beim Holzsammeln, da habe ich sie durch Zufall entdeckt. Die Augen des Jungen waren voller Angst und zehrendem Hunger. Der Vater war so krank und geschwächt, dass er nicht vor mir davonlaufen konnte. Alle drei waren wir furchtbar erschrocken.
Uns Leuten in den Dörfern war es unter Strafe verboten, den Gefangenen aus den Lagern zu helfen. Mitleid zu zeigen, konnte einen Kopf und Kragen kosten. Meine Eltern hatten mir wieder und wieder eingetrichtert, dass die Häftlinge ihre Strafe verdient hätten, dass sie keine vollwertigen Menschen seien.« Marie schüttelt den Kopf. »Aber ich konnte nicht anders, die beiden ausgemergelten Männer dauerten mich. Ich führte sie zu einer versteckten Höhle am Tambuch und brachte ihnen heimlich Decken und gekochte Kartoffelschalen.«
Die alte Frau schließt die Augen. Wie still es auf einmal ist. Einen Moment lang fürchte ich, dass ihre Seele die Erinnerung nicht verkraftet. Doch Marie spricht weiter.
»Und dann war der Krieg vorbei. Dem Todesmarsch entkommene Zwangsarbeiter wie Tomasz und Ignaz waren von einem Tag auf den anderen freie Menschen. Einige arbeiteten wieder für die Bauern auf den Feldern oder als Handwerker in den Dörfern, um sich einen Schlafplatz und ein wenig Brot zu verdienen. Wir alle wollten den Krieg vergessen, so schnell wie möglich. Erst nach ein paar Tagen wagten sich Tomasz und sein Vater ins Dorf, denn Ignaz war inzwischen so krank, dass er einen Arzt brauchte. Aber jede Hilfe von den Amerikanern kam zu spät … Tomasz hingegen erholte sich schnell.«
Marie erzählt, dass er ein geschickter Tischler war und gebraucht wurde, denn an arbeitsfähigen Männern mangelte es in Altenwinkel. Sie waren entweder an der Front gefallen oder noch in Gefangenschaft, so wie der Tischlermeister. Seine Frau gab Tomasz einen Schlafplatz in der Scheune und er arbeitete für sie. Niemand kümmerte sich weiter um ihn, das Schicksal der eigenen Familie sorgte die Leute mehr als das des Fremden.
»Unterdessen wurde Frühling. Es war ein ungewöhnlich heißer Frühling, die Kirschen blühten schon Ende April. Wir bestellten die Felder, so gut es eben ging, mit dem wenigen, was wir hatten, und alles schien sich endlich zum Guten zu wenden. Bis der alte Wirt vom Jägerhof den amerikanischen Soldaten tot an der Blutbuche fand, mit aufgerissenen Augen und einem Messer im Rücken.« Marie seufzt. »Was ich dir jetzt erzähle, Jola, ist die Version des alten Schlotter. Beim Anblick des toten Soldaten war ihm schlagartig klar, dass die Amerikaner von nun an alle Dorfbewohner wie Kriegsverbrecher behandeln würden, und er wusste, was das bedeuten konnte. Er schickte seinen Sohn Willi, drei Männer zu wecken, denen er vertraute, und sie zur Dorfbuche zu holen. Einer von ihnen erkannte den Griff des Messers und der aufgebrachte Trupp zog los zur Scheune, in der Tomasz schlief. Kurz darauf brach im Dorf die Hölle los.«
Marie schweigt und ich wage kaum meine Frage zu stellen: »Die Männer … haben sie Tomasz umgebracht?«
Marie sieht mich an und ist gleichzeitig weit weg. »Ich weiß es nicht, Jola. Als die Amerikaner sie verhörten, behaupteten die Männer, Tomasz wäre fortgewesen, als sie in der Scheune ankamen. Die Amerikaner nahmen uns alle in die Mangel, doch schließlich akzeptierten sie die Geschichte vom feigen Mörder, der geflohen war. Niemand im Dorf protestierte dagegen, alle waren froh, so glimpflich davongekommen zu sein. Auch ich schwieg, obwohl ich mir sicher war, dass Tomasz den Soldaten nicht getötet hatte. Was hätte der arme Junge auch für ein Motiv haben sollen.«
Ich schaue die alte Frau an und bin jetzt mit ihr dort, in der Scheune. Versuche zu sehen, was sie sieht. Versuche zu verstehen und habe das Gefühl, etwas steht zwischen uns, etwas fehlt in ihrer Geschichte. Als ob da ein Schmerz lauert, der zu groß ist für diesen Nachmittag im Mai.
Marie schüttelt den Kopf, als könne sie das, was passiert ist, bis heute nicht begreifen. »Die Wahrheit war das letzte Opfer des Krieges, Jola.«
»Wie ging es weiter?«, frage ich, nachdem ich das Aufnahmegerät ausgeschaltet habe. »Ist jemals herausgekommen, wer der Mörder des amerikanischen Soldaten war und warum er das getan hat?«
Marie reagiert nicht und zuerst denke ich, sie hat meine Frage gar nicht gehört. Doch dann hebt sie den Kopf und sagt: »Der junge Soldat, er hieß David und war schwarz wie die Nacht, hat mir schöne Augen gemacht und er hat mir Schokolade geschenkt. Du hast ja selbst gesehen, was für ein hübsches Mädel ich damals war, keck und voller Sehnsucht nach Leben. David hat mich manchmal mit kleinen Späßen zum Lachen gebracht, aber das war alles vollkommen unschuldig.«
Die alte Frau fasst sich ans Herz, eine unsichere Geste, und ich ahne, dass die Zeit nicht alle Wunden heilt. Vermutlich hat sie den jungen Soldaten sehr gemocht, mehr, als das Dorf wissen durfte.
»Wie dem auch sei, es gab einen jungen Mann in Altenwinkel, der ein Auge auf mich geworfen hatte. Er sah gut aus und schmeichelte mir, aber ich wusste, dass er böse war, und wollte nichts mit ihm zu tun haben. Er hatte eine schwarze Seele. Ich vermutete damals, dass er den … dass er David auf dem Gewissen hatte. Vielleicht hatte er es aus Eifersucht getan, vielleicht aber auch, weil er die Amerikaner hasste, die Hitler besiegt hatten. Beweisen konnte ich es allerdings nicht.«
»Wer war der Mann mit der schwarzen Seele?«, hake ich nach. »Lebt er etwa noch?«
Bevor Marie antworten kann, winkt Agnes vehement ab. »Tot und begraben, schon lange.«
»Und wer waren die Männer, die zur Scheune zogen? Wer hatte das Messer wiedererkannt?«
Marie schweigt und Agnes schüttelt unmerklich den Kopf.
Dieser Tomasz, denke ich, war ein Fremder, und keiner im Dorf hat ihn verteidigt, auch Marie nicht. Weil alle Angst hatten, war der Mörder davongekommen. Das war feige von den Dorfbewohnern und falsch.
Maries Blick wandert über mein Gesicht, und als ob sie meine Gedanken lesen kann, sagt sie: »Es waren Tage, in denen richtig und falsch nur schwer zu unterscheiden war.«
Meine Kehle ist staubtrocken. Endlich greife ich nach meinem Glas und trinke es in einem Zug leer.
»Ich denke, es ist nun genug«, wendet sich Agnes an mich. »Wie du siehst, hat meine Mutter das Reden sehr erschöpft.«
Die Fragestunde ist zu Ende. Ich packe meine Sachen wieder in meinen Rucksack und verabschiede mich von Marie. Sie nimmt meine Hand in ihre verkrümmten Hände und schaut mich mit einem seltsamen Lächeln an.
»Danke«, stammele ich verunsichert und stehe auf.
Agnes legt das Foto ins Album zurück und begleitet mich nach draußen. Als ich mich von ihr verabschieden will, sagt sie: »In letzter Zeit schläft Mutter sehr schlecht. Sie hat schlimme Träume vom Krieg und dann weint sie, ohne aufzuwachen. Ich vermute, die Ereignisse von damals suchen sie jetzt unaufhaltsam heim in den Nächten. Manchmal reden wir und dann schlafe auch ich schlecht, obwohl ich nicht gesehen habe, was sie erlebt hat.« Sie seufzt. »Dieses Gespräch hat sie sehr aufgewühlt, aber ich glaube dennoch, dass es gut war für sie.«
Ich nicke. »Ihre Mutter ist die Einzige aus dem Dorf, die bereit war, mit uns zu sprechen. Ich werde mich gleich hinsetzen und alles aufschreiben. Die Präsentation unserer Projektarbeit ist nämlich schon nächste Woche, deshalb konnten wir das Treffen auch nicht mehr verschieben. Ich werde noch einmal vorbeikommen und Ihnen den Text zu lesen geben, wenn ich fertig bin.«
Agnes nickt. »Das ist gut. Was damals passiert ist in unserem Dorf, kann niemand ungeschehen machen. Aber es sollte auch nicht einfach vergessen werden.«
Wir sehen uns an und endlich wage ich die Frage, die mir nicht aus dem Kopf geht: »Glauben Sie, das Tomasz es gaschafft hat?«
Agnes schaut mir in die Augen, als sie sagt: »Vielleicht hat er ja einen Schutzengel gehabt, Jola.«
Ich verabschiede mich noch einmal und laufe zum Gartentor. Als ich Agnes hinter mir schimpfen höre, drehe ich mich um. Kopfschüttelnd hält sie einen grünen Gummischuh in der Hand.
»Im Dorf ist ein Schuhdieb unterwegs«, sagt sie. »Das ist schon das zweite Mal, dass mir ein Gartenschuh fehlt. Die hier waren nagelneu, ich habe sie erst vor ein paar Tagen gekauft.«
»Muss ein einbeiniger Schuhdieb sein«, bemerke ich.
»Ja«, bestätigt Agnes nachdenklich. »Das ist tatsächlich merkwürdig.«