14. Kapitel

Es ist es schon fast neun, als ich am nächsten Tag wach werde. Nicht mal Erna Euchlers Hahn hat mich geweckt. Auch meine Eltern sind gerade erst aufgestanden. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal so lange geschlafen habe. Wir frühstücken und ich stelle überrascht fest, wie gut gelaunt sie an diesem Morgen sind. Vielleicht hatten sie ja guten Sex. Vielleicht sollte auch ich endlich mal guten Sex haben.

Heute ist Pfingstsonntag und nicht einmal Pa wagt es, am Tag des Brunnenfestes zu arbeiten. Seit Ostern haben Frauen und Männer der Altenwinkler Kirchgemeinde ausgeblasene Eier gesammelt und bunt bemalt. Gestern haben sie dann den Dorfbrunnen mit vier Birkenstämmen geschmückt und sie mit Eierketten verziert. Diese alte Tradition geht bis auf die Mönche zurück, die jedes Frühjahr den Laufbrunnen reinigten, damit das Wasser für Mensch und Tier sauber blieb. Oma Hermine hat dieses Fest geliebt und mich als Kind immer zum Eierbemalen in den Gemeinderaum mitgenommen. Seit sie gestorben ist, habe ich nicht mehr mitgemacht.

Am Nachmittag gehen Ma und Pa zum »Jägerhof«, wo im Biergarten der Rost brennt und die dorfeigene Blasmusikkapelle zum Pfingsttanz aufspielt. Ma hat ein hübsches Kleid an, weinrot, mit kleinen blauen Blüten. Sie tanzt für ihr Leben gerne, deshalb freut sie sich auf den Abend und war schon den ganzen Tag furchtbar aufgeregt.

Kai musste seinen Eltern tagsüber im Dorfladen helfen. Gestern (vor unserem Streit) haben wir ausgemacht, dass er mich gegen sieben abholt, damit wir zusammen zum Pfingsttanz gehen können. Ich habe mich hübsch gemacht für ihn, trage einen kurzen, glockenförmigen Rock und ein raffiniertes grünes T-Shirt mit Spitzenärmeln dazu – beides aus Saskias Fundus. Um halb acht ist er immer noch nicht da. Draußen ändert sich das Wetter. Wind kommt auf und weht Blätter und taube Fruchtstängel herein. Ich überlege, ob ich mich wieder umziehe. Als es endlich klingelt, ist es schon Viertel vor acht und meine Laune ist nicht mehr die beste. Ich reiße die Tür auf, setze an, Kai wegen seiner Verspätung Vorhaltungen zu machen – doch ich komme nicht dazu.

Kai steht auf den Eingangsstufen vor dem Haus, mit einer wilden Krone aus Blättern auf dem Kopf. »Ich bin der Laubkönig, meine Schöne«, sagt er mit verstellter Stimme. »Ich bin gekommen, um meine Pfingstbraut zu holen.«

Ich kann mir ein Grinsen nur schwer verkneifen. Nach altem Altenwinkler Pfingstbrauch bittet der Laubkönig die Eltern seiner Auserwählten, sie für zwei Tage im Dorf herumführen zu dürfen, um seine ernsthaften Absichten zu unterstreichen. Nur, dass meine Eltern gar nicht da sind und Kai das mit Sicherheit weiß.

»Da bin ich, mein König. Ich hole nur meine Jacke, dann können wir los.« Ich bin froh, dass er nicht mehr sauer auf mich ist. Er hat ja recht. Manchmal geht die Fantasie mit mir durch und ich spinne mir etwas zusammen.

Kai folgt mir ins Haus, die Tür fällt hinter ihm ins Schloss.

Als ich mich umdrehe, mustert er mich von oben bis unten und dann bekommt er wieder diesen Blick eines liebestollen Katers. Da weiß ich, was er wirklich will. Nicht herumführen, sondern verführen. Er küsst mich. Ich rieche den vertrauten Geruch der Schafwolle in seinen Kleidern, seinem Haar.

Kai schnappt meine Hand und zieht mich die Treppe hinauf. Kaum in meinem Zimmer, schließt er die Tür ab. »Für alle Fälle«, brummelt er und zaubert im gleichen Moment ein silbernes Kondompäckchen aus der Tasche. »Tadam.« Siegessicher funkeln seine Augen unter den Blättern hervor.

Ich muss wieder kichern. Kais Blätterkrone ist alles andere als sexy, aber irgendwie finde ich das auch süß. Es ist Kai, denke ich. Dein Kai. Der witzige, zärtliche Kai, der zuhören kann und Sinn für Kirschblütenschnee hat. Der niemals nachtragend ist, der deine Macken erträgt und immer zu dir hält.

Na gut, er interessiert sich nicht für Ödlandschrecken oder Raubwürger und Artenschutz ist ein Fremdwort für ihn. Aber hey, man kann schließlich nicht alles haben. Und der Sex? Übung macht den Meister, hat Tante Lotta gesagt. Mit wem soll ich in diesem Kaff schon üben, wenn nicht mit Kai?

Kurz leuchtet das Bild von Olek vor meinem inneren Auge auf, dem Elf mit den Kieselaugen, der mein Herz so in Aufruhr versetzt hat. Aber einmal mehr scheint er ein Wesen aus einer anderen Welt zu sein. Nicht wirklich, nicht erreichbar.

Kai nimmt seine Laubkrone vom Kopf und lässt sie auf den Boden fallen. Wieder küssen wir uns und er kommt ohne lange Umschweife zur Sache, während draußen der Wind immer heftiger an den Zweigen des Kirschbaumes zerrt. Als die Balkontür mit einem lauten Schlag gegen meinen Schreibtisch kracht, starren wir erschrocken nach draußen. Eine zweite Windböe weht abgerissene Blätter und kleine Zweige durch die offene Tür ins Zimmer. Nur unwillig löst Kai sich von mir, tappt zur Tür und schließt sie.

Küssend schiebt er mich zum Bett, wo er mich mit sanftem Druck erst zum Sitzen und dann zum Liegen bringt. Alles, was er tut, kommt mir vor wie einstudiert. Er mimt den großen Verführer, aber ich spüre die Unsicherheit, die hinter seinem forschen Vorgehen lauert. Keine Ahnung, warum, aber ich lasse ihn um jeden Zentimeter Haut kämpfen.

Schließlich bin ich nackt, und als Kai sich aufsetzt, um seine Jeans auszuziehen, schlüpfe ich schnell unter meine Decke.

Alles im grünen Bereich, sagt mein Kopf. Es ist schließlich nicht dein erstes Mal. Meine Hände streichen fahrig über seinen Rücken. Kais Körper ist mir vertraut und trotzdem fühlt sich das Ganze nicht richtig an. Etwas fehlt. Es wird niemals richtig sein. Ich komme mir unehrlich vor, als sei mit ihm zu schlafen eine wortlose Lüge.

Warum spürt er es nicht?, denke ich. Verdammt. Ich sollte in diesem Moment nicht denken, aber ich kann nichts dagegen tun. Warum merkt er nicht, dass ich mit meinen Gedanken ganz woanders bin?

Weil er dich liebt, Jola. Weil er nicht denkt.

Plötzlich fliegt etwas mit lautem Krachen gegen die Scheibe der Balkontür. Unsere Körper fahren auseinander, wir sitzen mit aufgerissenen Augen im Bett und lauschen. Vielleicht war das Paul – er hasst es genauso wie ich, wenn die Tür verschlossen ist, und dann springt er manchmal dagegen. Aber nichts rührt sich auf dem Balkon und der Schlag, der war zu hart für einen weichen Katzenkörper.

Kai schlüpft in seine Shorts und öffnet die Tür – mein tapferer Ritter. Ich folge ihm, in meine Decke gewickelt.

»Nur ein abgebrochener Ast«, sagt er. »Der Wind wird ihn heruntergerissen haben.«

Ich schaue nach draußen auf den Kirschbaum. Der Wind hat nachgelassen, die Blätter bewegen sich kaum noch. Es hat angefangen, leise zu regnen.

Kai versetzt dem Ast einen Fußtritt und kommt ins Zimmer zurück.

»Ich habe einen Schatten gesehen!«, sage ich hastig.

»Du spinnst, Jola.« Kai lacht. Es ist diese Art Lachen, die er ausstößt, wenn er unsicher ist. Kai weiß, dass ich mich nicht vor Schatten fürchte. »Du willst doch bloß kneifen.«

Der ungeschminkte Vorwurf in seinem Blick setzt mir zu, ich komme mir schäbig vor. Doch ich will nicht mit ihm ins Bett zurückkriechen. Jetzt nicht mehr. Dieser Ast ist ein Zeichen. Es ist definitiv falsch, was wir da begonnen haben. Das mit Kai und mir, mit der Liebe, dem Häuschen und den drei Kindern wird nicht funktionieren, dessen bin ich mir auf einmal vollkommen sicher. Aber ich bringe es nicht über mich, ihm das zu sagen.

Stattdessen beginne ich, mich wieder anzuziehen. »Ich kann nicht, okay?«

»Ich kann nicht heißt: Ich will nicht.«

»Es tut mir leid, Kai.«

Kai Hartung kennt mich gut genug, um zu wissen, wann Überredungsversuche bei mir nicht fruchten. Mit einem unglücklichen Kopfschütteln gibt er sich geschlagen. »Kommst du wenigstens noch eine Weile mit in den ›Jägerhof‹?«

»Ja, klar«, antworte ich. Obwohl ich auch keinen Bock mehr auf Pfingsttanz habe, schlüpfe ich wieder in meine geborgten Stiefel. Ich kann Kai nicht auch noch den Pfingsttanz verweigern.

Feiner, kalter Nieselregen fällt, als wir unter Pas großem schwarzem Schirm durchs Dorf zum Wirtshaus laufen. Die Eisheiligen werden uns ein paar kühle und unbeständige Tage bescheren. Kai hält den Schirm, ich habe mich bei ihm untergehakt. Während des ganzen Weges sagt keiner von uns beiden ein Wort.

Im Schankraum des »Jägerhofes« ist die Luft zum Schneiden, denn ein Rauchverbot gibt es bei Gernot Schlotter nicht. Der Wirt hat die senfgelbe Faltwand zum kleinen Saal geöffnet, wo die Blaskapelle auf der kleinen Bühne gerade Laurentia mein spielt. Alle singen mit, gehen beim Refrain in die Knie, ausgelassen wie Kinder. Ma und Pa sind auch dabei. Die Wangen meiner Mutter glühen, einige Haarsträhnen haben sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst. Sie hat nur Augen für Pa.

Die Wirtsleute haben alle Hände voll zu tun. Gernot zapft ein Bier nach dem anderen, Liane schenkt Wein aus und Hochprozentiges. Ihre Tochter Uta, die Referendarin mit der Prinz-Eisenherz-Frisur, ist auch da und hilft ihren Eltern. Ich lasse meinen Blick durch den Saal schweifen, halte Ausschau nach Saskia und Max.

Nicht lange und ich merke, wie einige Leute anfangen, hinter vorgehaltener Hand zu tuscheln. Überzeugt davon, dass es etwas mit meinem für sie ungewohnten Outfit zu tun haben muss, grüße ich freundlich. Freundlich zu sein, ist immer gut, lautete ein beliebter Spruch von Uroma Mine.

Kai hat Saskia und Max in einer Ecke des Saales entdeckt, die weit genug entfernt ist von der Blaskapelle. Er schnappt mich am Arm und zieht mich in ihre Richtung.

»Ich hole uns schnell noch was zu trinken«, rufe ich ihm zu. »Willst du ein Bier?«

Er nickt und bahnt sich einen Weg zu den anderen, während ich mich zur Theke durchschlage, wo ich ein Bier und ein Glas Rotwein bestelle. Gernot zapft ununterbrochen Bier, Schaum fließt in Strömen, aber nach zehn Minuten stehe ich immer noch ohne meine Getränke an der Theke. Jeder, der nach mir gekommen ist, hat längst seine Bestellung.

Schließlich wedele ich Gernot mit einem Zehn-Euro-Schein vor der Nase herum. »Jetzt bin ich aber erst einmal dran.«

Doch Schlotter ignoriert mich weiter. Ein unbehagliches Gefühl beschleicht mich, ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. So etwas ist mir noch nie passiert. Hat er auf einmal etwas gegen mich?

Nach einem weiteren vergeblichen Versuch wird aus meiner Verwirrung Trotz. Ich merke, dass ich hier verschwinden muss, bevor ich etwas sage, das ich später bereue. Doch unvermittelt fertigt mich Gernot ab. Er knallt ein Bier auf den Tresen, dass es schwappt, und ich bekomme meinen Rotwein in einem schmuddeligen Glas. Wortlos kassiert er ab, gibt bis auf Heller und Pfennig heraus. Als ich mich mit meinen Getränken umdrehe, stehen meine Eltern vor mir. Ma lächelt mich an.

»Jola«, sagt sie, »seid ihr also doch noch gekommen.«

»Ja, wir sitzen dort hinten in der Ecke, bei Sassy und Max.«

»Trink nicht so viel, ja?«

»Nur den einen«, sage ich.

Pa geht zum Tresen und bestellt zwei Bier. Mir wird klar, dass ich meine Getränke nur bekommen habe, weil hinter mir meine Eltern im Anmarsch waren. Als ich mir zwischen den Tischen und Stühlen hindurch einen Weg zu Kai und den anderen bahne, zischt es neben mir: »Nestbeschmutzerin.«

Abrupt bleibe ich stehen. Das war Erna Euchler, die Eier-Tante, unsere Nachbarin. Mit Achim Roland, seiner Frau und mit Willi Schlotter, dem alten Wirt, sitzt sie an einem Tisch.

Bin ich gemeint? Ja – so wie die Euchler mich anschaut, mit ihrem schiefen Hennenblick. Auch der alte Schlotter betrachtet mich mit verkniffenem Gesicht. Durch irgendetwas bin ich bei einigen Dorfbewohnern in Ungnade gefallen. Doch bevor ich dem Ganzen auf den Grund gehe, will ich erst einmal Saskia und Max Hallo sagen und meinen Rotwein trinken.

Ich gehe weiter, bin schon fast an ihrem Tisch angelangt, als Benni Maul, der Enkel der alten Euchler, mir in die Seite läuft und ich einen Schwapp Bier und den halben Wein verschütte. Das meiste vom Rotwein landet auf meinem T-Shirt und in meinem Ausschnitt. Verdammt.

»He, hast du keine Augen im Kopf?«

»Hoppla.« Mit einem hinterhältigen Grinsen schiebt Benni seinen Bauch in Richtung Tanzfläche. Keine Entschuldigung. War das etwa Absicht?

»Arschloch«, flüstere ich ihm hinterher.

Total verunsichert stelle ich die beiden halb vollen Gläser auf dem Tisch ab.

»Tut mir leid, Sassy«, stammele ich. »Ich hoffe, der Rotwein geht wieder raus. Das war Absicht … das war Benni … der Idiot.«

Saskia fischt in ihrer Tasche und reicht mir ein Päckchen Papiertaschentücher. »Na, wer war es denn nun?«, fragt sie grinsend. »Absicht oder Benni?«

Das ist ihre Art, mich aufzuheitern, aber diesmal funktioniert es nicht.

»Die spinnen doch alle«, schimpfe ich, während ich meinen Ausschnitt trocken reibe. »Schlotter hat mich beim Ausschank komplett ignoriert, die Eier-Euchler hat mich ›Nestbeschmutzerin‹ genannt und Benni schüttet mir meinen hart erkämpften Rotwein in den Ausschnitt.«

»Tja«, meint Saskia mit einem Achselzucken, »willkommen hinter der Fassade der Scheißidylle von Altenwinkel.«

Ich schnappe mir das halb volle Glas Rotwein, leere es in einem Zug und sehe einen nach dem anderen fragend an. »Was, verdammt noch mal, ist hier eigentlich los?«

»Was soll schon los sein?« Kai ist genervt. »Gernot hat Stress, die Euchler spinnt und Benni Maul ist ein Trampel, das wissen wir doch alle.«

Saskia wirft Kai ihren Das-glaubst-du-doch-selber-nicht-Blick zu. »Tja«, sagt sie, »so ist das eben auf dem Dorf. Wenn man etwas macht, das den Leuten nicht passt, bekommt man es zu spüren.«

»Was habe ich denn Furchtbares verbrochen?«, frage ich entgeistert. »Einen Rock angezogen?«

»Du kapierst es nicht, oder?« Saskia schüttelt den Kopf. »Das hat eindeutig was mit Marie Scherers Zeitzeugenbericht und der Geschichte von dem gemeuchelten Soldaten zu tun.«

»Was?« Ich kapiere tatsächlich nichts mehr. »Wieso das denn?« Ungläubig sehe ich Saskia an, dann wandert mein Blick zu Kai, der auf die klebrige weiße Wachstuchtischdecke starrt.

»Na, ist doch klar wie Kloßbrühe«, sagt Saskia. »Referendarin Uta Geppert, geborene Schlotter, sitzt in der Prüfungskommission, die unsere Projektarbeit abnimmt. Das war am Donnerstag. Zu Pfingsten kommt sie nach Altenwinkel, um ihren Eltern in der Kneipe zu helfen, und erzählt ihnen brühwarm, was du von Marie erfahren und aufgeschrieben hast. Der alte Schlotter hat damals den toten Ami gefunden und ist mit ein paar Männern zur Scheune gelaufen, in der der Pole schlief. Vielleicht war er gar nicht weg, als sie ankamen. Vielleicht haben sie ja kurzen Prozess mit ihm gemacht.«

»Und nun bin ich die Böse, die die Leiche aus dem Keller geholt hat?« Ich schlucke.

»Unser schönes Dorf – eine Mördergrube«, bemerkt Max, der zwei leere Biergläser vor sich stehen hat und schon Einiges intus zu haben scheint.

»Anscheinend glaubst du immer noch, dass in Altenwinkel nur freundliche Menschen wohnen.« Saskia schüttelt den Kopf. »Träum weiter, Jo.«

»Kai?« Ich blicke zu ihm, in der Hoffnung, dass er gleich eine seiner blöden Verrenkungen macht und uns mit einem Witz zum Lachen bringt.

Fehlanzeige. Lahm hebt er die Schultern. »Kann schon sein, dass Sassy recht hat. Ich hab euch ja gleich gesagt, lasst die Finger von der Geschichte.«

Na toll. Dicke Rauchschwaden ziehen durch den Saal, die Luft ist verbraucht und die Blaskapelle spielt: So ein Tag, so wunderschön wie heute …

»Ihr seid erledigt«, meldet sich Max. »Ihr habt das Gesetz der drei V gebrochen.«

»Wie?«, fragen Saskia, Kai und ich aus einem Munde.

»Vorbei, vergessen, Vergangenheit. Das Gesetz der drei V. Die typische Verdrängungsmentalität der Nachkriegsgeneration.«

Saskia und ich verdrehen beide die Augen.

»Ich wusste gar nicht, dass Benni Maul zur Nachkriegsgeneration gehört«, sage ich schließlich. Saskia kichert und auch die beiden Jungs grinsen.

Kurz darauf verlassen wir vier den Saal, denn keiner von uns hat noch Lust, länger zu bleiben. Meine Blase meldet sich. Als ich von der Toilette komme, laufe ich im dunklen Gang des Wirtshauses dem alten Willi Schlotter in die Arme.

»Sie lügt, die Polackenhure«, krächzt er und seine hässlichen Worte enden in einem Hustenanfall.

Ich will nur noch weg.

Polackenhure? Meint Willi damit Marie Scherer? War sie damals nicht in den jungen schwarzen Soldaten, sondern in Tomasz verliebt? Auf diesen Gedanken bin ich überhaupt nicht gekommen.

Heute Nacht werde ich es nicht mehr herausfinden, also versuche ich, mich mit Jack Londons »Wolfsblut« abzulenken.

Als meine Eltern gegen Mitternacht nach Hause kommen, lese ich immer noch. Ich höre Schritte im Flur, gleich darauf klopft es leise an meiner Zimmertür. »Jola, darf ich reinkommen?«

Da steht Ma auch schon in meinem Zimmer. Sie setzt sich zu mir aufs Bett. Ihre Kleider stinken nach Kneipe und ihre rechte Wange ist gerötet, aber ihre Augen leuchten noch immer.

»Na, da habt ihr ja ganz schön für Aufregung im Dorf gesorgt mit eurem brisanten Zeitzeugenbericht«, sagt sie.

Ich lege mein Buch zur Seite. »Die alte Euchler hat mich als Nestbeschmutzerin beschimpft. Die Eier wirst du in Zukunft selber holen müssen, ich gehe da nicht mehr hin.«

»Die Gemüter werden sich auch wieder beruhigen, Jola. Das Ganze ist doch ewig her und längst Geschichte.«

»Das dachte ich auch«, bemerke ich frustriert. »Hat Oma Mine dir eigentlich nie etwas von diesem toten Soldaten und dem Polen erzählt? Und Opa August, was war mit dem? Hat er vielleicht mit Pa darüber gesprochen?«

Ma schüttelt den Kopf. »Nein. Über solche Dinge wurde nicht geredet. Niemand tat das. Alles, was den Krieg betraf, wurde totgeschwiegen.«

»Die Leute aus dem Dorf haben damals alle zusammengehalten und einen Mörder gedeckt. Sie wollten einen unschuldigen Fremden ans Messer liefern. Vielleicht haben sie den Polen ja umgebracht, damit er keine Chance hatte, seine Unschuld zu beweisen.«

»Das kannst du doch gar nicht so genau wissen.« Ma streckt die Hand aus und streicht mir übers Haar. »Unsere Erinnerungen führen uns gern hinters Licht, Jola. Besonders bei erinnerten Gefühlen, die sehr zu Herzen gehen, bewegt man sich auf dünnem Eis. Unser Gehirn webt sich etwas aus Realität und Fiktion zusammen, weil sich das Geschehene so besser verarbeiten lässt. Aber wir glauben felsenfest, dass es sich so und nicht anders zugetragen hat.«

»Willst du damit sagen, dass Marie gelogen hat?«

»Nein.« Ma schüttelt den Kopf. »Ich will dich nur darum bitten, dass du offen bleibst. Schwarz-Weiß-Denken bringt dich nicht weit.«

»Das werde ich.«

»Dann schlaf gut – und mach dir nicht zu viele Gedanken, ja.«

Das ist leicht gesagt.

»Ma?«

»Ja?«

»Deine Wange ist ganz rot. Hast du wieder Zahnschmerzen?«

»Ja, der blöde Weisheitszahn muckert wieder.«

»Du musst endlich zum Zahnarzt.«

»Ich weiß.«

Nachdem meine Mutter die Tür hinter sich geschlossen hat, knipse ich das Licht aus und starre durch das Viereck in den Nachthimmel, wo kein einziger Stern zu sehen ist. Es hat wieder angefangen zu regnen, die Tropfen drippeln aufs Fensterglas.

Mas Worte von der trügerischen Erinnerung gehen mir nicht aus dem Sinn. Ich sehe die von der Vergangenheit aufgewühlte Marie vor mir und frage mich, ob die Erschütterung im Herzen der alten Frau noch eine tiefere Ursache hatte als ihre Erinnerung an eine unaussprechlich schlimme Zeit.

Ich muss unbedingt noch einmal zu Marie und Agnes. Ich muss die beiden Frauen warnen, damit der Groll des Dorfes sie nicht völlig unvorbereitet trifft, so wie mich heute Abend im »Jägerhof«.

Gegen drei liege ich immer noch wach und lausche dem Regen. Noch vor ein paar Wochen hat das Warten mich verrückt gemacht, habe ich mich eingesponnen gefühlt wie in einem Kokon. Jetzt habe ich auf einmal eine ganze Reihe von Problemen am Hals und fühle mich ihnen schutzlos ausgeliefert.

Offensichtlich gefällt es ein paar Leuten aus dem Dorf ganz und gar nicht, dass ich mit einer alten Frau über ihre Erinnerungen gesprochen und sie aufgeschrieben habe. Es besteht die ungeheuerliche Möglichkeit, dass Martin Sievers Alina gar nicht getötet hat und ihr wahrer Mörder immer noch frei herumläuft. Ich bin dabei, meinen besten Freund zu verlieren. Irgendwo in meinem Wald zieht eine wilde Wölfin ihre Jungen auf. Und da ist Olek, der ein Geheimnis hat, das ich gerne kennen würde, und dessen Lächeln mein Herz Purzelbäume schlagen lässt.

Plötzlich steht das, worauf ich gewartet habe, klar und deutlich vor meinen Augen. Ich ziehe mir die Decke über die Ohren und wünsche mich in die warme Sicherheit meines Kokons zurück. Wenigstens für eine Nacht.

* * *

Laurentia, liebe Laurentia mein. Heute wollte ich mit dir zusammen sein.

Er hat die Tür gefunden, die Tür zum Feenreich. Doch sie war nicht da, seine Zimtprinzessin. Sie hat ihn verlassen, das ist schon eine Weile her. Sie ging in den Wald, ihn zu suchen. Und dann war da so viel Blut und sein Kopf, oh, sein Kopf – diese wilden Schmerzen.

Das Feenreich ist leer. Ich warte auf dich.

Laurentia, liebe Laurentia mein, bald werden wir wieder beisammen sein.