1. Kapitel

Ich verschlucke einen ungläubigen Laut, als ich die winzigen Mäusekadaver im Gezweig erblicke, vier an der Zahl, blutig gepfählt auf den langen Dornen des Schlehenstrauches.

Er ist nicht in der Nähe, der Würger mit seiner schwarzen Augenbinde, sonst hätte er mich längst entdeckt. Behutsam schiebe ich einen Zweig zur Seite und da ist es, das ein wenig unförmig geratene Nest. Sieben grünliche Eier mit purpurnen Flecken liegen in ihrer flauschigen Mulde aus Wollgras, Daunenfedern und Tierhaar.

Tierhaar? Ich schaue genauer hin. Nein, dafür ist es zu fein, zu lang. Eine gelockte Strähne hat sich vom dornenbewehrten Panzer des Nestes gelöst, die hellen Haare bewegen sich sacht im warmen Maiwind. Menschenhaar, durchzuckt es mich. Schaudernd lasse ich den Ast los, der mit einem Rascheln zurückschnippt.

Plötzlich ein raues Kreischen dicht über mir. Das weiße Nackengefieder des amselgroßen Vogels ist gesträubt, der Kopf nach vorn gestreckt, sein langer Schwanz aufgefächert wie bei einem Pfau. Vor Schreck mache ich eine unbedachte Bewegung, meine Füße verlieren den Halt auf dem umgestürzten Birkenstamm und ich rausche durch die Zweige der Schlehe. Dornenspitzen ritzen meine Haut wie scharfe Nadeln, verhaken sich in meinem T-Shirt und zerren an meinem Haar. Mit einem heiseren Schrei lande ich auf dem Hosenboden im Gras.

Der weiß-schwarze Vogel mit dem dunklen Hakenschnabel scheppert und kreischt. So wütend kann Angst klingen. Für den Würger bin ich ein Feind, der Vogel verteidigt seine Brut und seine makabere Vorratskammer.

Ich will ihn nicht stören. Schnell rappele ich mich auf und schultere meinen kleinen schwarzen Rucksack. Mit hastigen Schritten laufe ich quer über die Wiese zum Waldrand, tauche in den blauen Schatten der Kiefern. Mein Herz rast, doch der Aufruhr kommt nicht allein vom Schreck, den der Vogel mir mit seinem Gezeter eingejagt hat.

Ich kenne jede Ecke, jeden Winkel dieses Waldes, jeden Baum, jeden Stein und jede Kuhle und ich bin ganz bestimmt kein Angsthase – doch gegen die grauenvolle Erinnerung, die das gelockte Haar am Nest des Vogels in mir heraufbeschwört, bin ich machtlos. Sie fährt mir unter die Haut wie ein scharfer Splitter.

Unvermittelt ist alles wieder da, frisch, schmerzhaft und beklemmend. Vor fünf Jahren verschwand aus unserem Dorf ein elfjähriges Mädchen. Alina, ein blond gelockter Engel – meine beste Freundin. Ein Mann aus unserem Dorf hatte sie getötet, aber ihre sterblichen Überreste hat man nie gefunden.

Ich stolpere über eine Wurzel und unterdrücke einen Fluch. Als ich den Kopf einziehe, um mich unter einem Kiefernast hinwegzuducken, spüre ich plötzlich die dunkle Schwere eines Blickes in meinem Rücken. Die feinen Härchen auf meinen Armen richten sich auf.

Wer sollte mich hier beobachten?

Ich fahre herum, mein Blick hetzt über das Dickicht von Beerensträuchern, Birkengestrüpp und Kiefernschösslingen. Meine Sinne sind angespannt, meine Atmung beschleunigt sich, Kälte steigt mir das Rückgrat hinauf, während gleichzeitig Schweiß zwischen meinen Brüsten herabrinnt. Da … ein leises Rascheln hinter dem Gesträuch. Bin ich nicht allein? Schwachsinn, sagt mein Verstand, doch mein Blick versucht fieberhaft, das wuchernde Grün zu durchdringen. Ein Reh vermutlich. Was sonst? Ich spüre das Pochen meines Herzens im ganzen Körper.

Man kann auch vor Angst sterben.

»Hallo«, rufe ich. »Ist da wer?«

Meine Stimme klingt fremd und wacklig. Ich stehe und lausche, bis mir die Ohren dröhnen. Das Knacken brechender Zweige beendet die Stille und mein Mut schrumpft. Ich drehe mich um, gehe ein paar Schritte rückwärts, dann laufe ich los. Ich achte nicht auf die Äste, die mir ins Gesicht peitschen, und nicht auf meinen Rucksack, der mir gegen den Rücken schlägt. Wie gehetztes Wild springe ich über Wurzeln und am Boden liegende Äste, schliddere einen Grashang hinunter und springe wieder auf die Füße. Ich kann ziemlich schnell und lange rennen, ohne aus der Puste zu kommen, aber diesmal keuche ich wie eine alte Frau.

Das macht mich wütend. Ich bin die Herrin des Waldes, er ist mein Refugium – und ich habe mich von einem lächerlichen Knacken in die Flucht schlagen lassen, bloß wegen einer dämlichen Haarsträhne an einem Vogelnest.

Lass es nicht zu, Jola, warnt die Stimme in meinem Kopf. Du hast keine Angst. Du kennst keine Angst. Lass nicht zu, dass sie Besitz von dir ergreift, sonst endest du wie deine Mutter. Angst ist eine Falle, Angst macht dich zum Opfer. Sie kann dich auffressen wie ein wildes Tier und nichts als bleiche Knochen übriglassen.

Doch meine Beine werden immer schneller.

Ohne mich umzudrehen oder auszuruhen, lasse ich zwanzig Minuten später die Schatten des Waldes hinter mir und erreiche den Holzstoß am Forstweg. Mein Fahrrad, das mich zurück ins Dorf bringen wird, lehnt an den sauber aufgestapelten und mit grünen Punkten markierten Stämmen. Das Adrenalin tobt noch durch meinen Körper, ich habe Seitenstechen – aber alles ist wieder unter Kontrolle. Als ich nach dem Lenker greife, nehme ich im linken Augenwinkel eine schattenhafte Bewegung wahr.

Ein dumpfer Schrei kommt aus meiner Kehle, ich reiße die Arme in die Höhe, stolpere ein paar Schritte rückwärts und setze mich zum zweiten Mal an diesem Tag auf den Hosenboden. Ein zerzauster schwarzer Lockenkopf erscheint hinter dem Holzstoß, ich blicke in Kais Grinsegesicht.

»Hey, was ist denn mit dir los?«, fragt er mit gespielter Besorgnis. »Du siehst aus, als hättest du ein Eichhörnchen verschluckt.«

Meine Hände tasten über den Waldboden und werden fündig. Ich bewerfe Kai mit Kiefernzapfen und Rinde, schimpfe wie ein Rohrspatz, habe endlich jemanden, an dem ich die Wut über meine Angst auslassen kann.

»Idiot«, stoße ich hervor, »du sollst dich nicht so anschleichen.«

Kai lacht. Sein warmes, vertrautes Kai-Lachen. Mit eingezogenem Kopf und filmreifer Abwehr-Pantomime kommt er auf mich zu und reicht mir seine Hand. Ich greife danach und mühelos zieht er mich hoch.

Kai trägt ausgewaschene graue Cargoshorts und sein geliebtes schwarzes Party Hard-T-Shirt, das er sich in Berlin auf unserer Klassenfahrt gekauft hat und das er nur noch auszieht, wenn es vor Dreck starrt oder nach Schweiß riecht. Kai Hartung und ich kennen uns, seit wir krabbeln können. Er war mein bester Freund, bis in den Winterferien aus dieser Freundschaft mehr geworden ist.

»Hey, du blutest.« Kai lässt mich los und schiebt mit Daumen und Zeigefinger meinen Kopf zur Seite.

Ich fasse an meine rechte Wange. »Dornen«, sage ich. »Was machst du überhaupt hier?« Es kommt nur äußerst selten vor, dass Kai im Wald anzutreffen ist.

»Deine Mutter hat gesagt, dass ich dich hier vielleicht finde.«

»Ja – und?«

»Ich habe Sehnsucht nach dir.« In gespielter Verzweiflung hebt er die Hände. »Aber du gibst dich ja lieber mit Schrecken und Schleichen ab als mit mir.«

Er meint Blindschleichen und Ödlandschrecken und ich muss mir ein Lächeln verkneifen.

»Ich habe ein Raubwürgergelege entdeckt, sieben grünliche Eier. Sie sehen aus wie gemalt, wunderschön. Dabei hab ich mir in der Schlehenhecke das Gesicht zerkratzt.« Als ich mit der flachen Hand über meine Wange reibe, brennt es wie Feuer.

Kai betrachtet mich mit einer Mischung aus milder Nachsicht und Spott, aber sein Blick täuscht. Seit wir richtig zusammen sind, geht ihm mein Faible für den Wald und seine Bewohner zunehmend auf die Nerven. Er findet Tiere nur mäßig aufregend – wie die meisten Jugendlichen, die auf dem Dorf aufgewachsen sind. Außerdem will er mich nicht teilen, nicht mal mit einer Blindschleiche oder einem seltenen Vogel.

In letzter Zeit läuft es für uns beide nicht mehr so gut. Genau genommen seit drei Wochen, seit wir das erste Mal richtig miteinander geschlafen haben. Auf einmal habe ich das Gefühl, in einem Kokon gefangen zu sein, eingewickelt in Erwartungen, die mir die Luft abschnüren. Doch in meinem Inneren summt es. Es brodelt. Es bebt. Es wartet.

Worauf? Ich weiß es nicht. Ich warte auf alles Mögliche. Dass etwas passiert mit mir. Dass das Warten ein Ende hat. Dass etwas mich von hier forttragen wird.

Ich schiebe mein Rad auf den Forstweg, der vom Dorf bis ins Sperrgebiet führt. »Hat meine Ma dir denn nicht gesagt, dass Sassy und ich uns heute um fünf mit Marie Scherer treffen? Du weißt doch, unser Zeitzeugengespräch.« Ich lächle ihm entschuldigend zu, dann schwinge ich mich in den Sattel und radele los.

Ich trete kräftig in die Pedale, aber Kai hat ein nagelneues BMX, während meines ein einfaches, solides Damenrad mit drei Gängen ist und schon fünf Jahre auf dem Buckel hat. Er überholt mich, kurz bevor aus dem Forstweg Pflasterstraße wird und wir unser Haus am Waldrand erreichen.

Kai steigt ab und öffnet das Hoftor. Wilma, unsere braun-weiße Deutsch-Drahthaar-Hündin kommt angelaufen und begrüßt uns schwanzwedelnd. Kai stellt sein Fahrrad ab und krault sie hinter den Ohren. Fremden zeigt Wilma die Zähne und knurrt sie an, aber Kai gehört für sie zur Familie. Ich schiebe mein Rad über den gepflasterten Hof um das Haus herum in den Schuppen.

Die Luft ist warm und duftet nach Frühling. Die Apfelbäume in unserem Garten stehen in voller Blüte. Als ich um die Ecke biege, erwartet mich eine Sensation: Meine Mutter sitzt mit ihrem Netbook auf der Terrasse. Ma ist Schriftstellerin und schreibt wilde Abenteuerromane für Kinder. Offensichtlich ist es einer ihrer guten Tage und mit etwas Glück werde ich mir trotz der Schrammen im Gesicht keine Moralpredigt anhören müssen.

»Du hast Jola also gefunden«, sagt Ma zu Kai, als wir vor ihr stehen. Ich halte den Kopf abgewandt, damit sie die Kratzer auf meiner Wange nicht sehen kann – jedenfalls nicht sofort.

»Ja, sie war im Wald. Danke für den Tipp.«

Ich verdrehe spöttisch die Augen. Wo, zum Teufel, hätte ich sonst sein sollen? Im Kino vielleicht? Im Schwimmbad? Im Eiscafé?

Ma seufzt. Für sie ist der Wald ein Ungeheuer mit spitzen Zähnen und scharfen Klauen. Ein dunkler Quell unzähliger Gefahren. Sie denkt unaufhörlich, mir oder auch Pa könne etwas Schreckliches zustoßen, und das ist für uns alle drei ein immerwährendes Problem.

»Saskia hat angerufen.« Die Sorgenfalte auf Mas Stirn ist noch nicht verschwunden. »Ich soll dir ausrichten, dass es Marie Scherer nicht gut geht, deshalb hat Agnes euer Treffen für heute abgesagt.«

»Okay.« Ich bin enttäuscht, denn nun wird wohl nichts mehr werden aus Saskias Zeitzeugenbericht. Es tut mir leid für sie, weil sie sich so darauf versteift hat.

Ich registriere die Erleichterung in Kais Gesicht. Er ist froh, dass er mich nun doch noch für sich hat.

»Ich habe Streuselkuchen gebacken«, sagt meine Mutter, »er steht in der Küche. Milch ist im Kühlschrank.«

»Danke, Ma.« Ich greife nach Kais Hand und ziehe ihn durch die offen stehende Terrassentür nach drinnen.

Unser Haus ist ein einstöckiges, über hundert Jahre altes Fachwerkhaus in Form eines rechten Winkels, mit weißem Putz, schwarzen Balken und einem roten Ziegeldach. Es hat Frieda und August Schwarz gehört, den Eltern meines Vaters, und als ich klein war, haben wir alle zusammen darin gewohnt.

Opa August starb vor ein paar Jahren an einem Herzinfarkt und Oma Frieda zog zu ihrer Schwester in die Nähe von Hamburg. Inzwischen hat sie Alzheimer und lebt in einem Pflegeheim. Ich sehe sie nur noch ein- oder zweimal im Jahr und sie erkennt mich nicht mehr. Sie erkennt nicht einmal ihren eigenen Sohn.

Mein Vater hat das Haus nach und nach umgebaut und modernisiert und meine Mutter hat es mit warmen Farben und einer Mischung aus alten Bauernmöbeln, hellen Regalen und schönen Stoffen zu einem gemütlichen Zuhause gemacht. Sie hat wirklich ein Händchen für so was.

Wir durchqueren das Wohnzimmer mit dem Kamin und dem auffällig gemaserten Holzfußboden. Schon in der großen Diele duftet es nach frisch gebackenem Kuchen und mir läuft das Wasser im Mund zusammen.

In der Küche stürzen wir uns auf den Streuselkuchen und essen jeder ein Stück – gleich vom Blech. Ich hole Gläser und wir trinken kalte Milch aus dem Kühlschrank. Lachen über unsere Milchbärte, wie wir es seit Jahren tun. Paul, mein grau getigerter Kater, der schlafend auf seinem Kissen in der Fensterbank gelegen hat, macht einen Buckel, springt auf den Boden und streicht maunzend um meine Beine. Ich berühre sein glänzendes Fell, das unter meinen Fingern leise knistert. Paul bekommt auch ein Schälchen verdünnter Milch, genüsslich beginnt er zu schlecken.

Verstohlen beobachte ich Kai. Er schaut mich an wie ein liebeskranker Kater und ich tue so, als würde ich es nicht merken, denn es macht mich verlegen.

Was siehst du, Kai?

Pa nennt mich manchmal »meine Schöne«, doch es gibt weitaus hübschere Mädchen als mich. Mein Gesicht ist zu breit und meine hellgrauen Augen stehen weit auseinander. Ich mag den dunklen Kupferton meiner Haare, aber sie locken sich störrisch und sind nur schwer zu bändigen, weshalb ich sie meist zu einem Zopf binde. Wenn ich sie offen trage, was zu Kais Bedauern viel zu selten vorkommt (im Wald ist ein Zopf einfach praktischer), fallen sie mir bis auf die Schultern.

Ich habe nie versucht, nach außen etwas anderes zu sein, als ich wirklich bin, und Kai hat sich nie beschwert. Aber was sieht er? Und was wünscht er sich?

»Lass uns nach oben gehen, okay?« Ich muss mal und will mich umziehen, denn mein T-Shirt ist völlig verschwitzt. Zwei Stufen auf einmal nehmend, setze ich die Holztreppe in die obere Etage hinauf und Kai folgt mir.

Die Treppe mündet in einen Flur und alle Räume, die von ihm abgehen, haben Dachschrägen. Linker Hand hat meine Mutter ihr Arbeitszimmer mit Blick auf die Dorfstraße. Die nächsten beiden Türen führen in ein kleines Gästezimmer und in ein Bad mit Dusche und Toilette, das ich so gut wie allein benutze. Außerdem gibt es zwei kleine Abstellkammern. Am Ende des rechtwinkligen Ganges liegt mein Zimmer mit zwei Dachfenstern und einer breiten Glasfront, deren Tür auf meinen überdachten Balkon führt.

Vor der Glasfront ein großer Schreibtisch, ein Bett unter dem Dachfenster, niedrige Bücherregale entlang der Wände unter der Dachschräge, ein Kleiderschrank neben der Tür – bei zwei schrägen Wänden bleibt nicht viel Platz für Möbel.

Ich schnappe mir ein frisches T-Shirt aus dem Schrank und verschwinde im Bad, um mich umzuziehen. Arme, Beine und Halsausschnitt sind schon sonnenbraun, der Rest ist noch winterbleich. Ich trage keinen BH, meine Brüste sind zu klein, als dass einer notwendig wäre.

Im Spiegel begutachte ich, was die Schlehendornen in meinem Gesicht angerichtet haben. Zwei feine rote Risse in meiner rechten Wange, ein paar stecknadelgroße getrocknete Blutstropfen, die ich mit warmem Wasser abwasche. Es brennt wieder, ist jedoch nicht der Rede wert. Ich verletze mich oft, aber jammernd zu Ma zu rennen, hat von jeher alles nur schlimmer gemacht. Also habe ich gelernt, die Klappe zu halten. Der Schmerz geht vorbei, wie alles früher oder später vorbeigeht.

Als ich in mein Zimmer zurückkomme, lümmelt Kai rücklings auf meinem Bett. Er grinst und klopft mit der flachen Hand auf die bunt gemusterte Tagesdecke.

Ich ignoriere seine einladende Geste, stattdessen trete ich durch die offene Glastür auf den Balkon hinaus, der in den verwilderten Nachbargarten zeigt. Der Balkon mit Uroma Hermines altem Schaukelstuhl ist mein Lieblingsplatz, hier sitze ich oft und träume, lausche auf das Rascheln der Blätter im Kirschbaum oder den Gesang der Vögel.

Mein Vater senst im Nachbargarten Brennnesseln, denn er will nicht, dass das Grundstück völlig zuwuchert. Der alte Kirschbaum, dessen stärkster Ast bis an das Balkongeländer heranreicht, verliert seine weißen Blütenblätter. Als feine Schicht liegen sie auf dem schwarzen Teerdach unseres Schuppens, der das Haus mit dem Nebengebäude verbindet, in dem Pa sein Büro hat.

Kai kommt mir nach. Er stützt seine Hände auf die Brüstung und schaut in den Nachbargarten. Mein Vater entdeckt uns und winkt. Kai winkt zurück. »Jola?«

»Ja?«

Kai hat schöne dunkelblaue Augen mit dichten Wimpern. Er ist so vertraut. Ich mag seine Lippen, ich mag ihn, nur …

Er macht eine Kopfbewegung in Richtung Balkontür. »Können wir wieder reingehen?« Seine Stimme klingt heiser, die Frage wie ein unterdrückter Seufzer.

»Warum denn?«

»Ach, komm schon, stell dich nicht so an.«

»Wenn du mich küssen willst, kannst du das auch hier draußen tun«, necke ich ihn und weiß, dass ich grausam bin.

»Oh Mann, Jola. Ich will nicht, dass dein Vater uns dabei zuschaut.«

Als Kai mich flüchtig auf den Mund küsst, nehme ich den leichten Geruch von Schafwolle wahr, der immer an ihm und in seinen Kleidern haftet. Seine Lippen, seine Hände wollen mehr, aber ich bin mit meinen Gedanken ganz woanders. Im Wald. Bei der Haarlocke am Nest des Würgers und dem merkwürdigen Gefühl von Anwesenheit, das ich heute Nachmittag nicht zum ersten Mal da draußen gespürt habe.

Jemand hat mich beobachtet.

Keine Ahnung, warum ich Kai nicht gleich von der Haarlocke und meinem irrationalen Gefühl erzählt habe. Warum tue ich es jetzt nicht?

Ich schmiege mein Gesicht in seine Halsbeuge und er legt einen Arm um mich. Doch ich schweige.