23. Kapitel

Montagmittag. Ich bin eine Dreiviertelstunde zu spät aus dem Wald zurück und habe Ma nicht angerufen, denn mein Akku ist mal wieder leer. Auf Vorwürfe gefasst, betrete ich die Küche. Das Essen steht auf dem Tisch. Lammkoteletts, Rosenkohl und Kartoffelbrei. Alles kalt. Drei unberührte Teller und von meinen Eltern keine Spur.

Mir zieht sich schmerzhaft der Magen zusammen, mein Herz pocht schneller. »Mami? Paps? Ist jemand da?«

Keine Antwort.

Meine Blase meldet sich, und als ich die Tür zum unteren Badezimmer öffne, bleibt mir beinahe das Herz stehen. »Großer Gott! Mami, was …«

Meine Mutter sitzt mit angezogenen Knien auf dem Badvorleger, den Rücken gegen die Badewanne gelehnt. Sie atmet hastig und tief, den Mund zu einen O geformt wie ein Karpfen. Ihr Gesicht ist blau angelaufen und ihre Hände sind völlig verkrampft. Sie zittert am ganzen Körper, aber ihr T-Shirt ist schweißnass.

»Mami!« Ich packe sie an den Schultern und schüttele sie. Ma hyperventiliert, es ist nicht das erste Mal, dass ich sie so erlebe. Irgendetwas muss geschehen sein, das sie so in Panik versetzt hat.

»Was ist passiert?«, schreie ich sie an. »Wo ist Paps?«

Keine Antwort. Ma starrt mich nur mit weit aufgerissenen Augen an und japst erbärmlich nach Luft. Durch das zu schnelle Atmen hat sie zu viel Sauerstoff in den Lungen, was paradoxerweise Erstickungsangst hervorruft.

Ich sprinte in die Küche, zerre eine Papiertüte aus einer Schublade und laufe zurück ins Bad, wo ich sie meiner Mutter über Mund und Nase stülpe. »Schön durchatmen«, sage ich, »ganz ruhig atmen, Mami, alles wird gut. Schön atmen.«

Ma hebt ihre Klauenhände und hält die Tüte fest an ihr Gesicht. Das Papier bläht sich und fällt mit einem Knistern in sich zusammen, es bläht sich und fällt zusammen. Dadurch, dass meine Mutter keinen Sauerstoff mehr einatmet, wird die Konzentration von Kohlendioxid im Blut wieder erhöht, ihr Atem beruhigt sich langsam. Schließlich fallen ihre Hände mitsamt der Tüte schlaff in ihren Schoß und sie schließt stöhnend die Augen.

Vor ihr kniend, fasse ich sie an der Schulter. »Ma, was ist denn los? Ist Paps etwas passiert?«

Sie schüttelt den Kopf. »Mit Papa ist alles in Ordnung. Aber du … du warst nicht da … um eins. Ich dachte … ich dachte, dir wäre etwas zugestoßen.« Sie greift sich ans Herz.

Das darf nicht wahr sein, ich fasse es nicht. »Ich komme ein paar Minuten zu spät und du tickst völlig aus? Damit ist jetzt Schluss, hörst du«, schreie ich sie an. »Warte nie wieder auf mich mit deinem dämlichen Essen, von nun an komme ich nach Hause, wann ich will.« Ich springe auf und will zur Tür raus.

»Da ist ein Wolf im Wald, Jola.«

»Was?« Abrupt drehe ich mich um. »Was hast du da gesagt?«

»Kai kam heute Morgen zu uns. Bernd hat drei tote Schafe auf seiner Weide gefunden und Papa sollte sie sich ansehen.«

»Aber, das war doch bestimmt Zackes Rottweiler«, stottere ich. Es ist vorbei. Die Wölfin hat erneut zugeschlagen und bald werden meine Geheimnisse Dorfgespräch sein.

»Nein, Jola. Trefflich war gerade hier. Er behauptet felsenfest, einen Wolf gesehen zu haben im Wald. Deshalb hatte ich solche Angst um dich.« Tränen stürzen ihr aus den Augen.

Ich knie mich neben sie und nehme sie in die Arme. »Ach, Mami, mir passiert schon nichts. Wann begreifst du das endlich?«

»Aber ein Wolf so nah am Dorf.«

»Es ist eine Wölfin und sie ist schon seit Monaten da. Ich habe sie beobachtet. Sie hat Angst vor Menschen, Ma.«

Ich helfe meiner Mutter auf die Beine. »Geht es wieder?«

»Ja, geht schon.«

»Leg dich rüber auf die Couch, okay? Ich bringe dir deine Pillen und ein Glas Wasser, ja?«

Meine Mutter tappt mit unsicheren Schritten ins Wohnzimmer. Als ich ihr eine Tablette und das Glas Wasser reiche, sagt sie: »Bleibst du ein bisschen bei mir sitzen, Jola?«

»Ja, na klar.«

Und dann – nach einer gefühlten Ewigkeit – höre ich endlich, wie meine Mutter mit geschlossenen Augen ruhig und gleichmäßig atmet.

Vierzig Minuten später bin ich in Oleks Höhle, aber er ist nicht da. Ich weiß, dass Trefflich und mein Vater durch den Wald streifen, auf der Suche nach der Wölfin. Ich hoffe, dass sie sie nicht finden, dass sie die Höhle mit den Jungtieren nicht finden.

Die Welpen sind rasend schnell gewachsen und benehmen sich inzwischen wie richtige Teenager. Sie sind ausgelassen und neugierig. Ich habe Angst, dass ihnen das zum Verhängnis werden könnte.

Das Warten im Halbdämmer der Höhle macht mich ganz verrückt. Die Minuten ziehen sich, zäh wie Kaugummi. Da wir den ganzen Vormittag zusammen waren, rechnet Olek nicht mehr mit mir. Er kann überall sein.

Ich schlüpfe noch einmal nach draußen, um mich zu vergewissern, dass vor dem Brombeerfelsen nichts auf den Höhleneingang hinweist. Aber mein Vater hat Wilma dabei, und wenn er mit ihr in die Nähe der Höhle kommt, wird sie sie ihm zeigen.

Ich lausche. Nichts. Ich kann nicht rufen, ich kann nur dasitzen und warten.

Als Olek endlich in der Höhle auftaucht, springe ich auf und umarme ihn heftig.

»He.« Sanft schiebt er mich von sich. »Du bist wieder da.« Er lächelt. »Du hattest Sehnsucht nach mir.«

»Ja. Nein. Olek …«

»Was?«

»Die Wölfin hat wieder zugeschlagen, diesmal gleich drei Schafe aus der Herde von Kais Vater.«

»Do diabla!«

»Mein Vater und Trefflich, sie sind schon auf der Suche nach Spuren. Trefflich hat die Wölfin gesehen, es ist nicht mehr aufzuhalten, Olek. Mein Vater hat Wilma dabei und früher oder später wird er deine Höhle finden. Du musst hier weg, Olek. Du musst dich in Sicherheit bringen.«

Ich habe es gesagt. Es ist das Letzte, was ich will. Es bricht mir das Herz. Aber es ist das Vernünftigste.

»Es gibt keine Sicherheit, Jola«, ist Oleks Antwort.

»Aber hier kannst du nicht bleiben, nicht für immer. Das hier ist Deutschland, da muss alles seine Ordnung haben. Schon allein dafür, dass du nicht zur Schule gehst, können sie dich einsperren. In einer Höhle leben, mit Pfeil und Bogen jagen, Wölfe füttern, so etwas gibt es nur im Märchen.«

Ich umarme ihn. Küsse ihn. Olek macht sich steif. Er sagt nichts.

»Okay, dann machen wir es ganz anders. Melde dich bei den Behörden. Dein Patron in Berlin, der hat dich längst vergessen. Und was du von den Leuten aus dem Dorf genommen hast, das gibst du zurück. Ich kann dir helfen, die Lebensmittel zu ersetzen. Du kannst bei uns wohnen, die Schule nachholen, ein ganz normales Leben haben.«

Träum weiter, Jola.

»Olek, ich …«

»Geh jetzt nach Hause, ja? Ich muss nachdenken.«

Todunglücklich mache ich mich auf den Weg. Wie in Trance stelle ich mein Rad in den Schuppen, und als ich mich umdrehe, steht auf einmal Kai in der Tür.

Ein heiserer Schrei kommt aus meiner Kehle. »Verdammt noch mal, Kai, ich hab dir gesagt, du sollst mich nicht so erschrecken.«

Ich will an ihm vorbei, aber er weicht nicht von der Stelle.

»Du hast es gewusst, nicht wahr?« Angriffslustig sieht er mich an. »Der Wolf ist der Grund, warum du keine Zeit mehr für mich hast. Wegen diesem dämlichen Wolf bist du andauernd da draußen auf dem Truppenübungsplatz. Du läufst doch schon seit Wochen im Rotkäppchenmodus.«

Rotkäppchenmodus? Schließlich nicke ich.

»Scheiße, Jola. Warum hast du mir denn nichts gesagt? Hast du gedacht, ich kann nicht dichthalten?«

»Hättest du denn? Dein Vater ist der Schafkönig von Altenwinkel. Er wird als Erstes nach dem Jäger schreien.«

»Ach – und statt uns zu warnen, hast du lieber abgewartet, bis dein vierbeiniger Freund die ersten Schafe reißt. Vielleicht merkt es ja keiner. Du hast sie ja nicht mehr alle, Jola.«

»Ich dachte, vielleicht begnügt sie sich mit Rehen, Wildschweinen und Mäusen.«

»Offensichtlich tut er das nicht.«

»Nein, leider nicht. Aber es gibt gute Möglichkeiten, wie man die Schafe schützen kann. Wolfssichere Zäune, zum Beispiel, oder …«

»Ach, halt den Mund, Jola«, unterbricht er mich, »ich will es gar nicht wissen. Davon hättest du uns erzählen sollen, bevor die ersten Schafe halb aufgefressen auf der Weide liegen. Jetzt hat die Bestie Blut geleckt.«

Die Bestie? Ich sehe Kai mit großen Augen an.

»Ist doch wahr.«

»Nein, das ist großer Unsinn, Kai. Eine frei lebende Wölfin in unserem Wald, du kapierst einfach nicht, wie sensationell das ist. Sie ist von alleine gekommen und geblieben, weil sie hier alles hat, was sie braucht.«

»Sie?«, fragt Kai mit gerunzelter Stirn. »Hast du eben Wölfin gesagt? Woher weißt du das, Jola? Erzähl mir nicht, dass … gibt es etwa …?«

»Nachwuchs, ja.« Verflixt, jetzt ist es raus. Kai klappt der Mund auf, ein paar Sekunden lang sagt er nichts.

»Oh Mist, das glaub ich nicht.«

»Doch, Kai. Ich habe die Welpen mit eigenen Augen gesehen. Besser, dein Vater informiert sich, wie er seine Herde schützen kann. Er soll sich Herdenschutzhunde anschaffen, aber erst einmal tut es auch ein Litzenzaun.«

»Vielleicht tut’s auch ein Gewehr. Kommt bestimmt billiger.«

»Das meinst du nicht wirklich, oder?«

Kai hebt in einer verzweifelten Geste die Hände. »Ich weiß nicht mehr, was ich meinen soll, Jola.«

»Bitte behalte das Ganze vorerst für dich. Ich bin ohnehin in Ungnade gefallen im Dorf, aber wenn sie erfahren, dass ich von der Wölfin wusste, dann …« Resigniert schüttele ich den Kopf.

»Warum sollte ich das tun?«

»Weil du mein Freund bist. Lass mich jetzt bitte nicht im Stich, Kai.«

»Ach, Scheiße, du benutzt mich doch nur.«

»Nein, ich benutze dich nicht, ich brauche dich.« Ich brauche dich als das, was du immer warst: als meinen besten Freund.

Kai starrt mich noch einen Augenblick lang an. Dann macht er kehrt und geht.

Noch am selben Abend posaunt Trefflich seine Entdeckung im »Jägerhof« heraus. Am nächsten Vormittag, als ich mit dem Rad zum Dorfladen fahre, weil Ma ein paar Lebensmittel braucht, sind die Straßen von Altenwinkel wie ausgestorben, als hätte eine tödliche Seuche grassiert.

Obwohl es ein herrlicher, wolkenloser Sommertag ist, sitzt niemand auf den Bänken, der kleine Spielplatz am Anger ist verwaist, kein Kind hüpft über die Himmel-und-Hölle-Kästchen auf dem Asphalt und die Leute kommen mit ihren Autos zum Dorfladen gefahren, selbst wenn sie nur drei Schritte um die Ecke wohnen.

Die Angst geht um in Altenwinkel. Die Angst vorm Bösen Wolf.

Als ich mich später heimlich in den Wald verdrücken will, kommt mir mein Vater in die Quere. »Wo willst du hin, Jola?«

»Zum Badesee.«

Pa reibt sich das Kinn, nachdenklich betrachtet er meinen kleinen Rucksack. »Komm mal mit.« Murrend lehne ich mein Rad an die Schuppenwand und folge ihm in sein Büro. »Setz dich.«

Mein Vater setzt sich hinter seinen Schreibtisch und ich nehme auf dem Besucherstuhl Platz. Ein Haufen Broschüren liegt vor ihm. Das Telefon beginnt zu läuten, aber er geht nicht dran.

»Du wusstest von dem Wolf, oder?«

»Ja.« Ich nicke.

»Du hättest das ganze Chaos verhindern können, wenn du mir davon erzählt hättest, Jola. Warum, Herrgott noch mal, hast du es nicht getan?«

Weil ich ein Versprechen gegeben habe. Weil ich nicht wusste, woran ich bei dir bin.

»Ich dachte, wenn niemand von ihr weiß, dann kann sich auch keiner aufregen.«

»Jola, verdammt, ich war immer der Meinung, du bist ein vernünftiges Mädchen. Ich habe dir vertraut.«

Mir schießen Tränen in die Augen. »Als Thomas da war, da habt ihr über die drei großen S der Jägerei gesprochen und ich … ich war mir danach noch unsicherer, wie du reagieren würdest. Die meisten Jäger hassen Wölfe und ich … «

Pa schlägt mit der flachen Hand so laut auf den Tisch, dass ich erschrocken zusammenzucke. »Ich bin nicht die meisten Jäger, Jola. Ich bin dein Vater und du müsstest mich eigentlich kennen. Was hast du denn gedacht? Dass ich nichts Besseres zu tun habe, als mit meiner Flinte in den Wald zu ziehen und den Wolf abzuknallen?«

Lahm hebe ich die Schultern. Sie haben sie nicht gefunden, die Wölfin.

Pa reibt sich das Gesicht mit den Händen. »Die Leute im Dorf sind kurz vorm Durchdrehen. Ich kann nur hoffen, dass das Tier schnell weiterzieht und nicht auf die Idee kommt, sich mit einer Hündin aus dem Dorf zu paaren.«

»Es ist eine Wölfin, Pa.« Keine Lügen mehr, auch keine Unterlassungslügen.

Mein Vater hebt den Kopf.

»Es ist eine Wölfin und sie hat vier Welpen. Es gibt keinen Rüden, der muss irgendwie ums Leben gekommen sein. Sie versorgt ihren Nachwuchs ganz allein, deshalb hat sie die Schafe gerissen. Lange Zeit hat sie sich an Rehe und Wildschweine gehalten, an Kaninchen und Mäuse. Ich dachte, sie würde niemals so nah ans Dorf kommen, aber sie hat Probleme, ihre Jungen satt zu kriegen.«

Pa sieht mich lange an, bis ich merke, dass er durch mich hindurchstarrt. »Also, dann geht es jetzt zuallererst um Schadensbegrenzung. Ich werde für den Samstagabend im ›Jägerhof‹ einen Informationsabend zum Thema Wolf anbieten. Aber vorher muss ich noch ein paar Anrufe erledigen, Behörden informieren, einen Rissgutachter bestellen.«

Mir fällt ein riesiger Stein vom Herzen. Alles wird gut, jubele ich innerlich. Pa ist auf meiner Seite. »Das mit dem Infoabend ist eine gute Idee.«

Er schaut mich an, als hätte er vergessen, dass ich da bin. »Und du«, sagt er streng, »du wirst vorerst nicht mehr im Wald herumstreifen. Hast du mich verstanden?«

Für einen Moment bin ich sprachlos vor Schreck. Langsam braut sich Zorn in mir zusammen und ich schüttele den Kopf. »Das ist nicht dein Ernst, Paps. Du glaubst doch nicht etwa auch, dass die Wölfin mir gefährlich werden kann?«

»Nein, Jola, das glaube ich nicht. Aber«, er hebt die Hände in die Höhe, »was jetzt passiert, habe ich vielleicht nicht unter Kontrolle. Kann sein, dass ein oder zwei Leute mit Jagdschein nichts lieber täten, als der Wölfin eine Kugel ins Fell zu brennen. Ich habe dir den Wald nie verboten, Jola, und ich weiß auch schon lange, dass du im Sperrgebiet herumstromerst. Aber das hier ist eine Ausnahmesituation und ich bitte dich darum, dich an mein Verbot zu halten. Oder willst du dafür verantwortlich sein, dass Ma wieder einen Zusammenbruch hat?«

Wütend springe ich auf. Dass Pa sich um mich sorgt, kann ich verstehen, aber dass er mich mit den Ängsten meiner Mutter erpresst, ist das Letzte. Ich greife nach der Türklinke.

»Jola?«

Ich drehe mich um und funkle Pa an. »Was denn noch?«

»Versprich mir, dass du nicht in den Wald gehst.«

In meinem hilflosen Zorn stampfe ich mit dem Fuß auf den Boden. Verdammt. Mein Vater hat immer Verständnis für mich gezeigt, auch wenn das manchmal ganz schön viel verlangt war. Auf ihn ist Verlass und in diesem ganzen Chaos gibt er mir eine Sicherheit, die ich nicht verlieren will.

»Ich versprech’s.«

Am Abend erzählt Pa von seinem Versuch, eine der beiden Wolfsforscherinnen vom wildbiologischen Büro Lupus in der Lausitz für den Infoabend zu gewinnen.

»Leider ist das Ganze zu kurzfristig, die Frauen haben andere Termine. Ich habe mich für den nächsten Montag mit ihnen verabredet«, er schaut Ma entschuldigend an, »und werde am Sonntag nach dem Infoabend in die Lausitz aufbrechen.«

Ma sagt nichts, sie weiß, dass sie ihn nicht davon abbringen kann.

Ich bekomme von Pa den Auftrag, am Computer eine Einladung für den Infoabend zu entwerfen, was ich gleich erledige. Er macht noch ein paar kleine Korrekturen, dann druckt er zwanzig Exemplare aus, von denen ich jeweils zehn in Altenwinkel und Eulenbach an Lichtmasten und Aushangtafeln anbringen soll. Am nächsten Morgen radele ich ins Nachbardorf, dort ist der Job schnell erledigt.

Zurück in Altenwinkel, fahre ich zuerst zum »Jägerhof« und bitte Kevin, der mir über den Weg läuft, eine Einladung im glasgeschützten Aushang neben dem Kneipeneingang anzubringen. Kevin ist sofort dazu bereit. Der Infoabend wird seinem Vater ein volles Haus bescheren.

»Und du hast den Wolf wirklich gesehen?«

Ich merke, dass er bald vor Neugier platzt. »Ja, habe ich.«

»Das ist echt krass.« Bewunderung in seinen Augen. »Hattest du denn gar keine Angst?«

»Nein, Kevin. Gar keine. Wölfe bedeuten keine Gefahr für Menschen. Aber das wird mein Vater am Samstag alles genau erzählen.« Ich deute auf die Einladung.

»Hoffentlich kommen viele.« Kevin ist so offensichtlich um Freundlichkeit bemüht, dass ich lächeln muss.

»Ja, das hoffe ich auch.«

»Tschau, Jola.«

»Bis dann.«

Vor dem Dorfladen stehen Kais Oma Ruth, Erna Euchler und Tonia Neumeister zusammen und schnattern laut wie Elstern. Ich grüße und bringe die Einladung am Infobrett an. Sofort stehen sie neben mir und recken die Hälse. »Neuer Nachbar Wolf – pah«, keift Kais Oma. »Wir brauchen keinen Nachbarn, der unsere Schafe reißt.«

»Wenn die Bestie sich das erste Kind gegriffen hat, gibt’s dann auch einen Infoabend?«, fragt die Euchler bissig.

»Kommen Sie doch am Samstag in den ›Jägerhof‹, mein Vater wird dort alle Fragen beantworten.«

Ich radele weiter und verteile die verbliebenen Einladungen. Ich bin selbst gespannt, ob Leute kommen werden oder ob die Dorfbewohner die Veranstaltung aus Protest sabotieren.

Am Nachmittag fahre ich an den Badesee, an dem nur wenige Leute auf ihren Decken und Handtüchern liegen, obwohl es wieder ein drückend heißer Tag ist. Die Familie mit den drei Kindern ist neu in Altenwinkel, sie wohnt zurzeit in der Ferienwohnung von Färbers. Städter, die vermutlich glauben, die Geschichte vom Wolf ist ein Werbegag des Bürgermeisters, um Urlauber anzulocken. Auch die anderen Leute sind Ortsfremde.

Wenn es nicht so absurd wäre, würde ich darüber lachen: Die Altenwinkler haben tatsächlich Angst, der böse Wolf könne sie sich am helllichten Tag von ihrem Badehandtuch schnappen.

Ich schwimme ein paar Runden im erfrischenden Wasser, dann lege ich mich in den Halbschatten einer jungen Birke auf den Bauch und schreibe Tagebuch – etwas, das ich schon lange nicht mehr getan habe. Ich schreibe von meiner brennenden Sehnsucht, Olek zu spüren. Von den Gedanken, die dem kommenden Tagen vorauseilen und verschiedene Szenarien entwerfen. Ich habe keine Ahnung, was passieren wird.

Aber Gedanken sind auch Energie. Diese Energie versuche ich zu bündeln und hoffe, das schillernde Gewebe der Zeit mit der Kraft meiner Gedanken zu beeinflussen.

Als Wasser auf meinen Rücken tropft, fahre ich mit einem Aufschrei herum. Es ist Olek, der seine Haare schüttelt wie ein nasser Hund und sich neben mich setzt, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt.

»Bist du verrückt geworden?« Sofort schnellt mein besorgter Blick zu den anderen Badegästen, aber niemand zeigt besonderes Interesse an dem fremden Jungen.

»Du bist nicht gekommen.«

»Mein Vater, er hat es mir verboten. Er sagt, Leute könnten versuchen, die Wölfin zu erschießen. Er hat Angst um mich.«

Olek sitzt wie immer im Schneidersitz, die Unterarme auf seine Oberschenkel gelegt. Wasser perlt aus seinen Haaren und rinnt über seinen mageren braunen Körper. Haben meine Gedanken ihn herbeigerufen? Ich rücke ein Stück näher an ihn heran und lehne meinen Kopf an seine Schulter.

»Ich wünschte, sie hätten mehr Zeit gehabt, bevor sie entdeckt werden«, sagt er. »Die Jungwölfe sind noch so neugierig.«

Ich erzähle Olek von dem geplanten Infoabend am Samstag und welche Hoffnung ich darauf setze.

Und dann höre ich auf zu denken, verbiete mir, mich weiter zu sorgen, dass uns jemand zusammen sehen könnte, und genieße einfach nur diesen heißen Julinachmittag mit Olek am See. Seit die Wölfin die Schafe gerissen hat, weiß ich, dass ich keine Kontrolle mehr über die Dinge habe, dass ich das, was geschieht, geschehen lassen muss.

Das Wasser glitzert in der Sonne, die Hitze macht unsere Körper und unsere Gedanken träge. Wir schwimmen zusammen, versinken in Küssen und weben unser unvergängliches Muster für diesen Tag.

Die nächsten vier Vormittage verbringen Olek und ich am See. Es hat schon seit zwei Wochen nicht mehr geregnet und das Ufergras beginnt, in der Hitze zu verdorren.

Von Olek erfahre ich, dass Kai und sein Vater nachts Wache bei den Schafen halten. Offenbar verschläft Kai dann den Tag, denn ich habe ihn noch nicht wiedergesehen. Um zum See zu kommen, benutze ich nur noch den Gartenweg und schleiche mich durch den Wald aus dem Dorf.

Einmal erwischt mich Elli, die am hinteren Zaun ihrer Großeltern steht und Gartenhimbeeren pflückt.

»Jola«, ruft sie. »Fährst du zum See?«

»Hallo, Elli … ja, aber ich will nur schnell schwimmen und nicht lange bleiben.« Nicht mehr zu lügen, wenn es einem so in Fleisch und Blut übergegangen ist wie mir, ist gar nicht leicht.

»Kann ich mitkommen? Mir ist soooo heiß.«

Auf einmal taucht Kais Mutter hinter den Blättern auf. »Elli, ich habe dir doch gesagt, dass es gefährlich ist am See, solange ein hungriger Wolf da draußen herumläuft. Du weißt doch, was er mit Opas Schafen gemacht hat.«

»Aber Jola fährt auch zum See, warum wird sie nicht vom Wolf gefressen?«

»Weil … weil …«

»Weil ich viel zu groß und zu zäh bin für den Wolf, Elli«, sage ich und fahre weiter.

Was mich verwundert, ist, dass die Presse bisher noch keinen Wind von den toten Schafen und der Wölfin bekommen hat. Ich hatte angenommen, dass Kais Vater sofort bei der Zeitung anrufen würde, um brühwarm vom Wolfsangriff zu berichten. Aber nichts dergleichen geschieht, keine reißerischen Schlagzeilen. Das macht mich stutzig. Es ist sehr viel einfacher, einen totgeschwiegenen Wolf heimlich abzuknallen als einen, der bereits Schlagzeilen gemacht hat.