Das Rotkehlchen weckt mich am Freitagmorgen und zehn Minuten später bin ich fertig zum Aufbruch. Ich will noch schnell drei Müsliriegel in meinen Rucksack stecken, aber es ist nur noch einer in der Schachtel. War die Packung nicht gestern noch halb voll? Vergreift Ma sich neuerdings an meinen Müsliriegeln?
Kurz nach fünf bin ich auf dem Weg zu meinem Ansitz. Vögel flattern erschrocken aus den Bäumen. Das Keckern eines Eichhörnchens begleitet mich auf den ersten Schritten im Wald, später ist es das beruhigende Klopfen eines Spechts von irgendwo weit oben. Alles wie immer, denke ich. Doch das stimmt nicht. Seit gestern ist alles anders.
Dieses Gefühl, im Wald beobachtet zu werden, dass ich seit einiger Zeit habe. War es ein Wolfsblick? Bist du hier irgendwo, Isegrim, und verfolgst jeden meiner Schritte?
Menschen stehen nicht auf dem Speiseplan des Wolfes, und doch geht mein Puls schneller, ein kleiner Schauder läuft über meinen Rücken. Mein Blick dringt in das Kieferngestrüpp und streift über den Boden. Da, an der Kreuzung zweier Forstwege entdecke ich Losung. Ich gehe in die Knie und betrachte den grauweißen Kot. Vermutlich ist er schon mehrere Tage alt, ungefähr drei Zentimeter dick und insgesamt fast zwanzig Zentimeter lang. Zu dick und zu lang, um von einem Fuchs zu stammen.
Ich spüre das Adrenalin im ganzen Körper. Ich suche mir ein Stöckchen und zerlege die vertrocknete Wurst. Finde Wildschweinborsten und größere Knochensplitter, typische Merkmale für Wolfslosung. Auf den letzten dreihundert Metern zu meinem Eichen-Ansitz bin ich völlig in Gedanken versunken. So sehr, dass mein Herz einen holprigen Hüpfer macht, als dicht neben mir plötzlich Äste brechen. Wie zur Salzsäule erstarrt, bleibe ich stehen.
Majestätisch langsam tritt ein Rothirsch aus dem Gebüsch. Es ist Oskar, ein Zehnender, den ich schon einige Male gesichtet habe. Rothirsche verirren sich nur selten auf den Truppenübungsplatz, aber dieser scheint sich hier heimisch zu fühlen. Er ist riesig und hat ein schönes, rötlich braun gefärbtes Sommerfell. Sein Geweih sieht aus wie von Samt überzogen. Es ist der Bast, eine dünne behaarte Haut, die wird er sich an Bäumchen und Sträuchern abscheuern, wenn das Geweih erst ausgewachsen ist.
Leise atme ich aus. Für ein paar Sekunden schauen wir einander in die Augen, dann wendet Oskar seinen stolzen Kopf und läuft langsam davon. Er kennt mich und hat keine Angst vor mir.
Zehn Minuten später sitze ich in meinem Blätternest und warte. Morgennebel liegt in Schwaden über der Senke, die Reviergesänge der Vögel schallen aus dem Geäst der Bäume. In der Nacht haben Wildschweine den Boden an der Senke umgegraben.
Nicht lange und die vier Rehe kommen aus dem Wald. Die weißen Flecken im braunen Fell der Kitze leuchten wie Sterne im bläulichen Gras. Mir fällt auf, dass eines der beiden Rehkitze humpelt und unwillkürlich muss ich an Kasimir denken.
Eines Tages brachte mein Vater ein verlassenes und halb verhungertes Rehkitz mit nach Hause. Ich taufte das winzige Bockkitz Kasimir und zog es mit Ziegenmilch auf. Am Anfang musste Kasimir alle zwei Stunden die Flasche bekommen, auch in der Nacht, das war ziemlich anstrengend. Später, nachdem Alina in die Dorfstraße gezogen war, fütterten wir ihn mit Haferflocken, Möhren und Beeren – und mit Heu natürlich.
Wir hatten eine Menge Spaß mit Kasimir, der uns immer hinterherlief wie ein Hündchen. Einmal wäre er fast mit in den Schulbus gestiegen und ich musste Pa anrufen, damit er ihn abholt. Doch eines Tages war Kasimir einfach weg. Ma sagte, er wäre in den Wald gelaufen und hätte Freunde gefunden. Aber mein Vater konnte mir nicht in die Augen sehen und da wusste ich, dass das Märchen von den Freunden im Wald nicht stimmte. Ich war elf und nicht blöd.
Zuerst nahm ich an, dass jemand Kasimir mit dem Auto überfahren hatte, aber das hätte sich sofort herumgesprochen. Alina dagegen hatte von Anfang an Hubert Trefflich in Verdacht, sie wollte es mir unbedingt beweisen. Tagelang schlichen wir um sein verkommenes Haus herum und versuchten, einen Blick in die Garage zu werfen, wo Trefflich seine erlegten Tiere ausbluten ließ.
Hubert Trefflich war vor der Wende Tierpräparator am Gothaer Naturkundemuseum. Er verlor seinen Job wegen der Sauferei, heißt es. Aber er besitzt immer noch seine Lizenz und gelegentlich präpariert er für Museen oder Privatleute. Auch wenn Alina und ich nie herausgefunden haben, ob er Kasimir wirklich auf dem Gewissen hat, stört es mich gewaltig, dass mein Vater Mitleid mit Trefflich hat und ihm hin und wieder einen Job vermittelt. Und ich glaube, er drückt auch bei seinem Jagderlaubnisschein ein Auge zu. »Der arme Kerl hat doch nichts außer der Jagd und seinen ausgestopften Tieren. Er hat eben nie verkraftet, dass ihm die Frau weggelaufen ist.« Bla, bla, bla. Wenn ich diese Frau gewesen wäre, wäre ich schon vor der Hochzeit davongelaufen.
Die Sonne geht über den Wipfeln der Kiefern auf, das Gras funkelt von Tautropfen, als hätte es Diamantsplitter geregnet. Ein großer Schatten löst sich aus dem Dickicht am Rand der Lichtung. Das Tier hält die Nase in den Wind. Sein Fell ist rötlich grau, während die Unterseite der Schnauze, der Bauch und die Seiten des Halses fast weiß schimmern. Der Schwanz mit der schwarzen Spitze und die Flanken wirken dunkler als der Bauch und rund um die Augen leuchtet eine helle Maske. Der gerade Rücken, die langen Beine und der kräftige Kopf mit den dreieckigen Ohren lassen keinen Irrtum zu: Dort unten steht ein Wolf.
Es ist wahr. Es ist wahr. Es ist wahr.
Es ist … eine Wölfin. Meine Hände zittern vor Aufregung. Die Fähe ist dabei, ihr Winterfell zu verlieren, und darunter ist sie mager. Durch das Fernglas kann ich ganz deutlich ihr hängendes Gesäuge erkennen. Sie hat Welpen, durchzuckt es mich und jetzt bin ich völlig aus dem Häuschen.
Wachsam beobachtet die Wölfin ihre Umgebung, das lahmende Bockkitz längst im Visier. Und dann geht alles sehr schnell. Die Wölfin jagt los und die übrigen Rehe fliehen. Im Sprung reißt die hungrige Jägerin das Kitz zu Boden, sie schlägt ihm den Fang in die Kehle. Die entsetzlichen Schreie des Böckchens klingen noch in meinen Ohren nach, als ich mit angehaltenem Atem zusehe, wie die Wölfin ihm die Bauchdecke aufreißt und sein warmes Fleisch samt Fell und Knochen in ihrem Magen verschwinden.
Gleichzeitig beginnt es in meinem Kopf zu arbeiten. Irgendwo auf dem Gelände des Truppenübungsplatzes muss es eine Höhle mit Welpen geben. Das ist sensationell, völlig abgefahren, unglaublich. Die Wölfin ist nicht bloß auf der Durchreise, sie zieht im Wald ihren Nachwuchs groß. Doch meine Freude darüber schlägt schnell in Sorge um.
Niemand will den Wolf zurück und schon gar keiner aus Altenwinkel, wo fast jeder irgendein Vieh im Stall hat und auf den Trockenwiesen rund ums Dorf Hunderte Schafe stehen. Wo im Herbst die Weihnachtsgänse auf der Weide wie ein Festschmaus angerichtet sind.
Wird es der Wölfin und ihren Jungen gelingen, sich weiterhin so gut versteckt zu halten? Der letzte Rest meiner Euphorie verfliegt. Fest steht, dass ich mein Wissen für mich behalten muss, solange es eben geht. Von mir wird niemand etwas von der Existenz der Wölfin erfahren. Nicht mal meinem Pa werde ich die sensationelle Neuigkeit erzählen.
Keine Ahnung, wie lange die Wölfin schon da ist, aber bisher hat sie Schafe, Gänse und Haustiere in Frieden gelassen. Vielleicht bleibt das auch in Zukunft so, schließlich gibt es mehr als genug Wild im Wald. Über achthundert Wildschweine und sechshundert Rehe.
Die Wölfin hat von ihrem blutigen Mahl nur den Kopf des Böckchens übrig gelassen und verschwindet gesättigt im Dickicht des Waldes. Wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege, wird sie schnurstracks zur Höhle mit ihren Jungen laufen und das halb verdaute Fleisch wieder hervorwürgen, um die Welpen zu füttern. Ich muss diese Höhle finden – unbedingt.
Ein letztes Mal suche ich die Suhle und den jungen Birkenwuchs mit dem Fernglas ab, in der Hoffnung, vielleicht den dazugehörigen Rüden zu entdecken, falls es ihn gibt. Vielleicht ist er vorsichtiger bei der Jagd und ich habe ihn deshalb noch nicht gesehen.
Als unvermutet jemand auf zwei Beinen auf die Wiese tritt, halte ich den Atem an. Olek. Ich bin völlig verblüfft, denn jetzt, wo ich weiß, dass der vermeintliche Schäferhund ein Wolf ist, habe ich nicht damit gerechnet, ihn wiederzusehen.
Es ist kurz vor sieben, nur Jäger und Gejagte sind um diese Zeit im Wald unterwegs. Olek, diesmal nicht bewaffnet mit Pfeil und Bogen, sondern mit einem Spaten über der Schulter, begutachtet die Überreste des Rehkitzes und beginnt, ein Loch zu graben. Mit wachsender Verwunderung schaue ich ihm zu. Sorgsam hebt er die ausgestochene Grasnarbe beiseite, schaufelt Erde heraus, bis das Loch groß genug ist, und lässt die kärglichen Überreste des Kitzes darin verschwinden. Er legt die Grasnarbe wieder auf das Loch, verschwindet im Gebüsch und zerrt einen verdorrten Ast heran, den er über das kleine Grab legt. Zufrieden mit seinem Werk streift Olek sich schließlich die Hände an den Hosen ab.
Ich staune noch immer über das, was ich da gerade beobachtet habe. Ich weiß nicht einmal, was verwirrender ist: Dass ich soeben gesehen habe, wie eine frei lebende Wölfin jagt, oder dass dieser fremde Junge ganz offensichtlich ihre Spuren beseitigt?
Verdammt noch mal, was ist da unten eigentlich los? Wer ist dieser Olek wirklich und was geht hier vor im Wald?
Ich erwache aus meiner Erstarrung, klettere vom Ansitz und laufe so schnell ich kann über den Hang ins Tal, mit der Absicht, Olek zur Rede zu stellen. Aber natürlich ist er nicht mehr da, als ich an der Wildsuhle ankomme. Auf mein Rufen antwortet nur eine Hohltaube mit ihrem dumpfen Hu-ru-hu-ru.
Ich laufe noch ein wenig ziellos durch die Wildnis des Truppenübungsplatzes, bevor ich beschließe umzukehren. Wenn Olek hinter der Wölfin aufräumt, dann weiß er mit Sicherheit, wo sie ihre Wurfhöhle hat. Ich muss ihn nur erwischen und zur Rede stellen. Ganz einfach.
Als ich mich diesmal auf den Heimweg mache, ist der Wald, den ich kenne und verstehe, ein anderer geworden. Die Geräusche sind anders, die Luft ist anders. Alles, was mir vertraut war, fühlt sich auf einmal fremd an und geheimnisvoll. Ich teile mein Refugium nicht mehr nur mit den üblichen Kandidaten, sondern auch mit einer Wölfin. Ich bin nicht mehr die Herrin des Waldes, offenbar schon eine ganze Weile nicht mehr. Jetzt ist es die Wölfin.
Wenn sie Welpen hat, muss sie schon seit ein paar Monaten hier sein. Wölfe leben in Rudeln, kleinen Familienverbänden, in denen die Welpen von allen Mitgliedern gemeinsam aufgezogen werden. Wo ist der Partner der Wölfin, der Rüde? Ist er getötet worden? Ein Querschläger während des Übungsbetriebes? Wurde er von einem Auto angefahren, hat sich in den Wald geschleppt und ist verendet?
Noch etwas anderes schiebt sich in meine Gedanken. Es ist das Nest des Raubwürgers mit der hellbraunen Haarlocke, für die es vielleicht eine plausible Erklärung gibt. Olek hat sich die Haare geschnitten und der Vogel hat sie zum Nestbau verwendet (die Haarfarbe könnte hinkommen). Wenn das stimmt, dann muss auch Olek schon seit dem Frühjahr hier in der Gegend sein.
Aber warum habe ich ihn dann nicht eher entdeckt? Wo haust er, der Elf mit den Kieselaugen und der abgerissenen Kleidung? Der Gast auf Erden. Ich spüre, dass etwas in Bewegung geraten ist, etwas, dass sich meiner Vorstellungskraft entzieht.
Olek spukt mit einer derartigen Intensität in meinem Kopf herum, dass ich zu Tode erschrecke, als plötzlich ein Mann vor mir steht. Schmuddelige Armeehosen, schwarze Arbeitsstiefel, eine speckige Lederweste über dem karierten Hemd und das obligatorische rote Basecap auf der Birne. Der Kitzmörder mit seiner Jagdflinte über der Schulter.
»Hallo«, sagt er grinsend. »So früh schon unterwegs?«
Verdammt, schießt es mir durch den Kopf, ausgerechnet Trefflich, dieser Suffkopp, vor dem kein Tier sicher ist. Ich hoffe inständig, dass die Wölfin über alle Berge ist, und denke erleichtert daran, dass Olek die Überreste des Rehböckchens vergraben hat.
»Hat es dir die Sprache verschlagen, kleine Waldlady?« Rote Äderchen, haarfein verzweigt wie winzige Flussläufe, ziehen sich über Trefflichs Nase und die Wangen.
Wie ich es hasse, wenn er mir so nah kommt. »Sie haben mich erschreckt«, erwidere ich schnippisch und weiche zurück.
»Tut mir leid«, sagte er und ich weiß, dass es ihm überhaupt nicht leidtut. Keiner im Dorf nimmt ihn für voll. Deshalb sieht man Trefflich nie ohne sein Gewehr, damit verschafft er sich zumindest bei den Alten und den Kindern Respekt.
Alina hat sich vor ihm gegruselt. »Er stinkt und er ist böse«, hat sie gesagt, als wir in seiner Garage nach Kasimir suchten.
Nach ihrem Verschwinden geriet Trefflich aufgrund von Tonia Neumeisters Verdächtigungen sehr schnell ins Visier der Polizei. In seiner Garage fanden die Beamten Blutflecken und er hatte kein wasserdichtes Alibi. Er sei im Wald gewesen, behauptete er. Drei Tage saß er in Untersuchungshaft. Bis Alinas Kleid gefunden wurde und Sievers sich erhängte. Bis das Blut aus der Garage sich im Labor als Tierblut herausstellte. Kasimirs Blut, dessen bin ich mir bis heute sicher.
»Es ist gefährlich, so allein im Wald herumzuschleichen«, sagt er in anzüglichem Tonfall. »Ich hätte dich für einen Frischling halten können.« Kleine Speicheltröpfchen treffen mich im Gesicht.
Ich weiche noch einen Schritt zurück, spüre, wie ich rot werde, rot vor Ekel und vor Zorn darüber, dass dieser Mann es wagt, so mit mir zu sprechen. Leider befinden wir uns noch im Sperrgebiet, wo er sein darf und ich nicht. Wenn er mich bei Pa verpetzt, kann ich höllischen Ärger bekommen. Deshalb erwidere ich nichts. Ich drehe mich um und gehe meines Weges.
Wütend stapfe ich durchs taunasse Gras in Richtung Waldweg. Ich habe keine Angst vor dieser mickrigen Gestalt. Er würde es nicht wagen, mir zu nahe zu kommen, dafür hat er viel zu großen Respekt vor meinem Vater. Trefflich weiß, dass er seinen Jagdschein und seinen Begehungsschein verlieren kann, wenn auf dem Forstamt jemand von seiner Trunksucht erfährt.
Ich erreiche die Ringstraße und prüfe, ob die Luft rein ist. Keine Feldjäger in Sicht, also flitze ich hinüber und bin schnell raus aus dem Sperrgebiet.
Als ich in Richtung Dorf radele, kommt mir Pa mit seinem Jeep entgegen. Auf gleicher Höhe halten wir beide an. Wilma sitzt auf dem Rücksitz. Pa öffnet das Beifahrerfenster. »Na, was gesehen?«, fragt er.
»Zwei Ricken mit ihren Kitzen und einen Rothirsch«, antworte ich. »Was hast du vor?«
»Ich treffe mich mit einem Oberst und seinem Schwiegervater zur Bockjagd.«
»So spät noch?«, frage ich. »Es ist kurz nach neun.«
»Sie zahlen und bestimmen, wann es losgeht.« Pa zuckt die Achseln.
»Dann bis später.« Ich schwinge mich wieder auf mein Rad. Mein Vater, der Förster, mit dem Oberst und seinem Schwiegervater auf Bockjagd. Das klingt nach fürstlichen Privilegien, nach vorigem Jahrhundert, und Pa weiß genau, wie ich darüber denke.
Ursprünglich diente die Jagd auf der ganzen Welt der Nahrungsgewinnung. Doch obwohl im Deutschland des 21. Jahrhunderts kein Mensch mehr jagend und sammelnd unterwegs ist, hat der Jagdtrieb in einigen von ihnen überdauert. Der Klang der Flinte ist Musik in ihren Ohren.
Zu Pas Verteidigung muss ich sagen, dass er kein Trophäenjäger ist, sondern seinen Job als »Heger der heimischen Tier- und Pflanzenwelt« sehr ernst nimmt. Er jagt, um den Wald zu erhalten und einen gesunden Wildbestand zu sichern – ein Job, den vor hundert Jahren noch die Wölfe innehatten.
Hubert Trefflich allerdings, der jagt, weil es ihm Spaß macht, und nicht, um den Wald zu retten.
Gegen zehn bin ich mit Saskia bei ihr zu Hause verabredet. Ich will Ma zu ihrem Geburtstag eine selbst gebackene Schokoladen-Buttercremetorte schenken, und weil es hoffnungslos ist, darauf zu spekulieren, dass sie aus dem Haus geht, habe ich Saskia gefragt, ob ich bei ihr backen kann. Ihre Eltern besuchen eine alte Tante in Weimar und kommen erst am Nachmittag zurück, so haben wir genügend Zeit, um die Küche hinterher wieder in ihren Urzustand zu versetzen. Zum Glück ist Saskias Mutter nicht so pingelig wie meine.
Es dauert dann auch keine fünf Minuten und die schicke helle Küche der Wagners sieht aus wie ein Schlachtfeld. Saskia hat ebenfalls beschlossen, einen Kuchen zu backen, und wir legen uns mächtig ins Zeug, während wir den Klängen von Snow Patrol lauschen, Saskias neuer Lieblingsband.
Als ich den Teig in der Röhre beim Aufgehen beobachte, entfährt mir ein Fluch. »Scheiße, verdammt.«
»Was denn?«
»Ich hab den Zucker vergessen.« Ich zeige auf den Messbecher mit dem Zucker, der halb verdeckt vom Mixer auf dem Tisch steht.
»Mannomann, wo bist du nur mit deinen Gedanken?« Saskia stemmt kopfschüttelnd ihre Hände in die Hüften.
Ich hebe den Kopf und sehe sie an. Wie gerne würde ich ihr erzählen, wo ich mit meinen Gedanken bin. Bei einer Wölfin und einem mysteriösen Jungen namens Olek, die sich offenbar beide auf dem Truppenübungsplatz niedergelassen haben. Aber das kann ich nicht. Dafür kenne ich Saskia einfach noch nicht gut genug.
Saskia deutet mein betretenes Gesicht falsch. »Du bist verliebt, stimmt’s?«
Völlig entgeistert starre ich sie an.
»Ich meine: nicht in Kai.« Sie kichert. »Du bist in einen anderen verliebt, Jo. Du bist schon seit Tagen so komisch. Wer ist es?« Sie hüpft auf und ab wie ein kleines Kind, das Schokolade will. »Komm schon, erzähl es mir, ich werde schweigen wie ein Grab.«
Ja, klar!
»Quatsch! Ich bin mit Kai zusammen«, brumme ich. »Und ich hab den Zucker vergessen, das ist alles.«
Saskia macht einen Schmollmund (den kann sie wirklich gut), ich merke, dass sie mir nicht glaubt. Aber sie gibt das Thema auf: »Ist doch nicht so schlimm, dann machst du an den Pudding für die Buttercreme eben mehr Zucker. Das wird keiner merken.«
Gesagt, getan. Rechtzeitig zum Mittagessen bin ich mit meiner süßen Fracht wieder zu Hause. Die Torte deponiere ich in Pas Kühlkammer. Es ist ein todsicheres Versteck, Ma geht da niemals rein, nicht in hundert Jahren.
Obwohl der Duft von nahendem Regen in der Luft liegt, fahre ich am Nachmittag noch einmal in den Wald. Diesmal lasse ich meinen Ansitz und die Wildsuhle links liegen und folge einem Wildpfad tief hinein ins Innere des Truppenübungsplatzes.
Rings um das Militärgelände warnen rostige Schilder: Achtung Blindgänger! Lebensgefahr!
Verrostete Blindgänger, Übungsgranaten und Patronen stecken tief im Erdreich, aber bei starkem, anhaltendem Regen wird das Zeug manchmal an die Oberfläche gespült.
Das Betreten des Großen Tambuchs, das finstere Herz des Waldes, ist absolut verboten, denn dort liegt noch haufenweise Munition. Über Jahrzehnte war das Gebiet Hauptziel für Übungen mit Panzern und Haubitzen. Wenn in diesem Areal das Räumkommando der Bundeswehr arbeitet, werden täglich bis zu eine Tonne Munition geborgen. Eine Tonne … Wahnsinn!
Die meisten Bäume in diesem Abschnitt des Waldes haben Metallsplitter in den Stämmen, sodass das kostbare Buchenholz nicht verwendet werden kann, außer zur Brennholzgewinnung. Kein Sägewerk nimmt die Stämme an, weil die Metallsplitter jeder Säge den Garaus machen würden.
Das ist schlecht für Pa, weil er mit diesen Bäumen kein Geld verdienen kann, und gut für Wildkatze & Co, denn hier wächst richtiger Urwald. Große, uralte Buchen mit ausladenden Ästen sperren mit ihrem dichten Laub den Himmel aus. Darunter ist es kühl und dunkel.
Unzählige Male habe ich Pa auf seinen Kontrollgängen in diesem Areal begleitet und weiß, wo ich gehen kann und wo nicht. Aber ich suche nach Spuren der Wölfin und die werde ich nicht im tiefen Wald finden, sondern eher dort, wo das Gelände offener ist und trotzdem genug Deckung bietet. Da eine Wölfin ihre Wurfhöhle immer dort bauen wird, wo es Wasser gibt (die Jungen brauchen Wasser, wenn sie anfangen, Fleisch zu fressen), habe ich zumindest eine Ahnung, wo ich suchen muss. In der Nähe eines Kalahari genannten Hügels gibt es verschieden große Tümpel, in denen auch im Sommer noch Wasser steht, und ich kenne die Pfade, auf denen ich gehen kann.
An der Kreuzung zweier sandiger Waldwege entdecke ich zum ersten Mal Spuren, aufgereiht wie Perlen auf einer Schnur. Beim Laufen hat die Wölfin ihre Hinterpfote in den Abdruck der Vorderpfote gesetzt. Geschnürter Trab nennt sich das. Auch Füchse laufen im geschnürten Trab, aber diese Trittsiegel gehören definitiv zu keinem Fuchs, dafür sind sie viel zu groß, ich schätze, fast acht oder neun Zentimeter.
Ich folge der Spur ein paar Meter, bis ich auf eine frische Losung stoße. Um sie mir genauer anzusehen, gehe ich in die Hocke, als ich plötzlich Motorenlärm höre. Schnell springe ich auf, verschwinde im Dickicht des Waldes. Finden heute doch Übungen statt? Der rot-weiße Ball hängt nicht am Mast, das weiß ich genau.
Sie kommen quer durch den Wald geprescht mit ihren Maschinen, die einen Höllenlärm veranstalten. Crossfahrer. Ich zähle drei Gestalten in Ledermontur, die Gesichter hinter den dunklen Visieren ihrer Helme verborgen. Sie nutzen den Berg als Downhill-Area mit natürlichen Springhügeln und Kurven. Was finden sie bloß daran, derart halsbrecherische Manöver zu starten, in einem Gebiet, in dem massenhaft Blindgänger herumliegen? Total bescheuert!
Der Truppenübungsplatz als riesige Naturrennstrecke mit explosivem Kick. Bis ihnen irgendwann der Hintern um die Ohren fliegt. Die Jungs sind schlichtweg lebensmüde und finden das auch noch großartig. Meine Wut wächst mit jeder Sekunde.
Bei einem von ihnen bin ich mir sicher, dass ich ihn kenne. Seine Montur ist schwarz von den Stiefeln bis zum Helm. Der Man in Black. Anscheinend hat er doch Anschluss gefunden im Dorf, denn dass die Jungs aus Altenwinkel stammen, das weiß im Grunde jeder, obwohl sie die Nummernschilder von ihren Maschinen geschraubt haben. Aber keiner unternimmt etwas, nicht einmal Pa, obwohl sie mit ihren Crossmaschinen auch in Ecken herumkreuzen, die als Naturschutzgebiete ausgewiesen sind.
Einmal, es ist schon ein paar Jahre her, hat Pa einen Crossfahrer im Wald gestellt und angezeigt. Das Ergebnis waren zerstochene Reifen an seinem Jeep und eine angesägte Jagdkanzel. Seitdem duldet Pa die Crossfahrer stillschweigend, genauso wie alle anderen in Altenwinkel. »Die Jungs wollen doch bloß ein bisschen Spaß haben« – mit diesem Motto kommen sie durch. Und Clemens zusätzlich mit einem Tausender, den sein Vater dieses Jahr für den Erhalt der Dorfkirche springen ließ.
Inzwischen habe ich eine Stinkwut. Sollte die Wölfin hier in der Nähe ihre Wurfhöhle haben, dann wird sie ihre Welpen spätestens jetzt woanders hinbringen.
Leise fluche ich ins weiche Moos, das voller Hasenköttel ist.
Wenn ich von den dreien nicht entdeckt werden will, ist mir der einfache Rückweg abgeschnitten. Ich harre in meinem Versteck aus, hoffe, dass die Idioten bald genug haben von ihrem zweifelhaften Vergnügen, aber als ich nach einer Weile auf die Uhr schaue, wird mir klar, dass ich nicht länger hierbleiben kann, wenn ich rechtzeitig zum Abendessen zu Hause sein will. Wie mich das nervt, immer pünktlich sein zu müssen, um kein Drama auszulösen.
Zu allem Überfluss platscht mir ein Tropfen ins Gesicht und nun rieche ich den Regen auch. Das Blätterdach über mir ist so dicht, dass es noch eine ganze Weile dauert, bis ich nass werde. Die Crossfahrer scheint der Regen nicht zu stören, ganz im Gegenteil, es sieht so aus, als hätten sie jetzt, wo es rutschig und schlammig wird auf ihren Sprungschanzen, doppeltes Vergnügen.
Vorsichtig trete ich den Rückzug an. Mir bleibt nur der Weg mitten durch das unberäumte Areal, dem Ort, an dem sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Ich kann den Himmel nicht sehen, aber durch den Regen ist es schlagartig dunkel geworden und vor mir liegt schwieriges Gelände. Ungefähr zehn Minuten lang schlage ich mich gebückt durch dichtes Unterholz, taste mich vorbei an abgebrochenen Zweigen, scharf wie Hexenkrallen.
Wurzeln beulen wie dicke Adern aus dem Waldboden, Farne verdecken Erdlöcher und Brombeerpflanzen haben ihre Fangarme ausgelegt. Ich weiche einem Ameisenhügel aus. Eine schwarze Ringelnatter mit gelben Augenflecken schlängelt sich direkt vor mir über den Waldboden, bevor sie unter einer toten Wurzel verschwindet.
Der Regen wird stärker, jetzt tropft es von den Bäumen und Nässe kriecht mir auch in die Schuhe. Ich hole meine Regenjacke aus dem Rucksack, auch wenn ich im Grunde schon völlig nass bin. In diesem Waldstück kenne ich mich nicht so gut aus und das Regendunkel macht die Sache nicht leichter. Auf einmal muss ich an meinen Traum denken. Möglicherweise ist es keine schlaue Idee, hier allein herumzukriechen. Der Regen wird heftiger, ich will jetzt nur noch so schnell wie möglich nach Hause.
Ein großer Schatten, der im Dickicht verschwindet, lässt mich innehalten. Ich lausche, doch auf meiner Kapuze zerplatzen die Tropfen wie kleine Schüsse, und das ist alles, was ich höre. Ich kann nicht viel erkennen im Dämmer des Waldes, aber wie so oft in den letzten Tagen, ist mir, als werde ich gesehen oder gehört, als werde ich von irgendwoher beobachtet. Mein Herz klopft so laut, dass es die Tropfen übertönt, angestrengt und mit weit aufgerissenen Augen versuche ich, das Dickicht vor mir zu durchdringen.
Jemand blickt zurück.
»Hey«, sage ich, »vielleicht hat dir das noch niemand gesagt, also tue ich es jetzt: Willkommen in meinem Wald. Schön, dass du da bist. Ich bin sicher, wir werden bestens miteinander auskommen.«
Natürlich bekomme ich keine Antwort.
Endlich, mit immer noch laut pochendem Herzen erreiche ich die Ringstraße. Im Eiltempo laufe ich bis zu meinem Holzstoß, und noch bevor ich auf mein Rad steigen kann, fahren sie einer nach dem anderen an mir vorbei. Dreck spritzt, sie lassen ihre Motoren aufheulen. Der Man in Black reißt den Lenker hoch und fährt für Sekunden auf dem Hinterrad. Jungs sind merkwürdige Wesen, denke ich, als ich durch den Regen nach Hause radele.