Altenwinkel ist ein winziges verschlafenes Dorf, nicht mehr als eine Ansammlung von rund sechzig Häusern. Der Ort liegt auf einem Hochplateau, das an den Thüringer Wald grenzt. Südlich des Dorfes hat sich ein Flüsschen gut hundert Meter tief in den Muschelkalk gegraben und dadurch steile Abbrüche geschaffen. Ein dichtes Waldgebiet schließt sich im Westen an die letzten Häuser. In nördlicher und östlicher Richtung ist Altenwinkel von hügeligen Trockenwiesen umgeben, die in kleine, von Bauminseln durchsetzte Felder übergehen, auf denen Mais, Raps und Weizen wachsen.
Im Mittelalter hatte hier oben am Waldrand zuerst nur ein kleines Kloster gestanden, dessen Mönche an den warmen Kalkhängen des Tals Wein anbauten und auf den Trockenwiesen Ziegen und Schafe hielten. Aus dieser Zeit stammt auch die kleine Wehrkirche in der Mitte des Dorfes, die in späteren Jahren immer wieder umgebaut wurde. Vom alten Kloster ist heute nichts mehr zu sehen, aber einige der buckeligen Fachwerkhäuser um Kirche und Dorfplatz herum sind weit über zweihundert Jahre alt.
Eine Scheißidylle, wie Saskia zu sagen pflegt.
Mit anderen Worten: Altenwinkel ist das Ende der Welt, ein Kuhkaff. Nein, das stimmt nicht, denn die Kühe im Ort kann man an zwei Händen abzählen. Es ist ein Schafkaff, das kommt der Wahrheit schon näher. Schafe stehen an die fünfhundert auf den Trockenwiesen am Waldrand und alle (abgesehen von ein paar schwarzgesichtigen Heidschnucken im Garten von Hagen Neumann) gehören Kais Vater, dem Schafkönig von Altenwinkel.
Die Straße in Richtung Eulenbach säumen drei schicke neue Einfamilienhäuser von Stadtflüchtern, ein paar Verrückten, die den Umzug aufs Land riskiert haben und zu denen auch Saskias Eltern gehören. Der Bürgermeister hat das Bauland vor ein paar Jahren zu einem Spottpreis angeboten, weil er hoffte, auf diese Weise das Aussterben des Dorfes zu verhindern. Wer baut, der bleibt, argumentierte er, aber da hieß es noch, dass der Truppenübungsplatz schon bald aufgegeben und es mit der Ballerei ein für alle Mal vorbei sein wird.
Altenwinkel macht seinem Namen alle Ehre, denn es gibt nur wenige Kinder und die meisten jungen Leute kehren dem Dorf den Rücken, sobald sie die Schule abgeschlossen haben.
Wir Dorfkinder müssen eine knappe halbe Stunde mit dem Schulbus fahren, um in die Kreisstadt zu gelangen. Auch am heutigen Montagmorgen haben sich wieder zwei Handvoll verschlafene Schüler in Grüppchen an der Bushaltestelle vor dem »Jägerhof« versammelt.
Kai, Saskia und ich besuchen die zehnte Klasse des Arnstädter Gymnasiums. Saskias Bruder Max ist dieses Jahr in Altenwinkel der einzige Zwölfer. Er ist achtzehn, sieht jedoch aus wie vierzehn mit seiner schmächtigen Statur, den dünnen Beinen und dem pickligen Bücherwurmgesicht. Böse Zungen im Dorf behaupten, dass die beiden nicht vom selben Vater stammen können. Aber die Geschwister mögen sich (meistens jedenfalls) und Max ist voll in Ordnung.
Bei Clemens Neumann, dem athletischen Riesen mit dem Pferdeschwanz, tippt man auf Anfang zwanzig, er ist jedoch nur ein Jahr älter als wir und geht in die Elf. Clemens steht schweigend mit seiner jüngeren Schwester Tizia zusammen. Die beiden kommen ursprünglich aus Kassel und wohnen erst seit ein paar Monaten in Altenwinkel. Ihre Eltern sind Architekten und haben direkt am Waldrand ein todschickes Haus mit viel Holz, Metall und Glas gebaut.
Clemens ist der Man in Black – er trägt nichts anderes als Schwarz. Die dreizehnjährige Tizia dagegen sieht immer aus wie aus der Klamottenwerbung, was allerdings nicht über ihr langweiliges Pferdegesicht hinwegtäuschen kann.
Wirtssohn Kevin Schlotter und sein rotgesichtiger Freund Benni Maul, die Färber-Zwillinge Paulina und Elina und Tanja, die (heimlich in Kai verliebte) Tochter von Pfarrer Kümmerling gehen auf die Arnstädter Regelschule. Das kleinere Gemüse besucht die Grundschule in Eulenbach.
»Was hast du denn mit deinem Gesicht gemacht?«, fragt Max.
»Sie hat das Nest eines Raubwürgers observiert«, antwortet Kai, bevor ich den Mund aufmachen kann.
Saskia grinst in sich hinein, enthält sich aber jeglichen Kommentars.
Endlich kommt der Schulbus, die Tür öffnet sich mit einem Zischen und wir steigen ein. Ich setze mich ganz hinten ans Fenster, lege meine Stirn an die kühle Scheibe und versuche, das Geschrei der Grundschüler auszublenden. Es sind bloß sechs, aber sie machen Krach für zwanzig. Nach dem Wochenende sind sie immer besonders aufgedreht, aber spätestens in Eulenbach werden alle unter elf Jahren aussteigen und es wird schlagartig ruhiger.
Saskia besetzt den Platz neben mir, also schiebt Kai sich notgedrungen neben Max, der sofort auf ihn einplappert, um sein neuestes, übers Wochenende angelesenes Wissen loszuwerden. Der Bus fährt los, er dreht seine Runde um Dorfbrunnen und Spielplatz, die beide von der mächtigen Blutbuche mit ihren ausladenden Ästen und leuchtend roten Blättern überdacht sind.
Unwillkürlich muss ich an eine Begegnung vor zwei Wochen denken, die ich mit der alten Tonia Neumeister, der größten Tratschtante des Dorfes, hatte.
Ich kam von Saskia, wir hatten uns ein Video angesehen und Pizza gegessen. Es wurde langsam dunkel und ich erschrak zu Tode, als die Neumeister plötzlich hinter einer Hecke auftauchte wie ein Geist und mir ihre arthritischen Hexenfinger in den Oberarm krallte. »An der Blutbuche, da ist er gestorben, der Ami«, zischte sie mir ins Ohr. »War schwarz wie die Nacht. Irgendwann wird sich’s rächen.«
Kaum, dass ich mich von dem Schreck erholt hatte und fragen wollte, was sich rächen würde, ließ die Alte mich ruckartig los, zog den Kopf ein und trippelte in Richtung Kirchplatz davon. Ich wollte ihr nachlaufen, als ich bemerkte, dass vor der Tischlerei Grimmer auf der anderen Straßenseite jemand stand und zu mir herüberstarrte.
Vermutlich war es Magnus, der Sohn von Tischler Grimmer. Magnus hat einen Sprung in der Schüssel und den Kindern im Dorf ist er nicht geheuer, aber der Mann ist vollkommen harmlos. Die alte Neumeister verschwand in ihrem Hexenhaus neben dem Dorfladen, also ging ich nach Hause.
Tonia Neumeister weiß immer zuerst, wenn jemand gestorben ist und woran. Sie weiß, wo im Dorf das Geld steckt, wer etwas mit wem hat und wer sich nicht grün ist. Den lieben langen Tag steht sie vor dem Dorfladen oder glotzt aus ihrem Fenster, von wo sie das halbe Dorf gut im Blick hat. Anderer Leute Angelegenheiten sind ihr Hobby und ihr Ruf als Unruhestifterin ist legendär.
Mit Sicherheit ist der Alten nicht entgangen, dass Saskia tagelang versucht hat, mit ein paar betagten Leuten aus Altenwinkel über das Dorfleben während des Kriegsendes und der unmittelbaren Zeit danach zu sprechen.
»Was glaubst du«, fragt Saskia in meine Gedanken hinein. »Ob die alte Scherer wirklich krank ist oder ob sie kalte Füße bekommen hat?«
Ich zucke ratlos mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich kenne die Frau ja überhaupt nicht.«
»Hey und ich dachte immer, in so einem kleinen Dorf kennt jeder jeden.«
»Natürlich kenne ich sie«, brumme ich. »Aber ich weiß nicht viel über sie, nur das, was alle wissen.«
»Mal ehrlich«, sagt Saskia, »findest du es nicht seltsam, dass ich überall abgeblitzt bin? Ich meine, die Greise sollten doch froh sein, dass sich mal jemand für sie interessiert.«
»Vielleicht wollen sie sich nicht erinnern«, sage ich. »Verdrängung als Strategie, um weiterleben zu können. Überleg doch mal, was wir bei unseren Recherchen für grausige Sachen herausgefunden haben. Ich hätte die Erinnerungen auch weggesperrt und den Schlüssel weggeworfen.«
Letzten Herbst haben sich unser Deutschlehrer und unsere Geschichtslehrerin zusammengetan mit der Idee, uns in Arbeitsgruppen ein Projekt erarbeiten zu lassen, mit dem wir die Noten in unserem Jahresendzeugnis aufbessern können. Kai, Saskia, Tilman und ich haben uns für die Vergangenheit und die Geheimnisse des geschichtsträchtigen Tals unweit unseres Dorfes entschieden. Der Titel unseres Projektes »Das Tal – eine Spurensuche« stammt von Kai; die Idee, ein Kapitel einem Zeitzeugenbericht zu widmen, von Saskia.
Es war jedoch schwieriger als erwartet. »Zu lange her. – Mit Erinnerungen an die Vergangenheit hab ich es nicht so. – Wen interessiert das noch? – Lasst den Toten ihren Frieden. – Könnt ihr euch nicht mit etwas anderem beschäftigen als mit diesen alten Geschichten?«, waren die gängigen Reaktionen.
Anfangs vermuteten wir, es könne daran liegen, dass Saskia eine Zugezogene ist und die Leute deshalb den Mund nicht aufmachen. Also begleitete ich sie ein paar Mal, aber es änderte nichts.
Und dann sprach mich letzte Woche völlig überraschend Agnes Scherer an, als ich an ihrem Haus vorbeikam. Ihre Mutter Marie sei bereit, über ihre Erinnerungen zu sprechen. Saskia war völlig aus dem Häuschen wegen der guten Nachricht, sie hatte schon befürchtet, auf den Zeitzeugenbericht verzichten zu müssen, denn bis zur Projektprüfung bleiben uns noch zwei Wochen.
In den vergangenen Wochen haben wir vier intensiv recherchiert für unsere Spurensuche und dabei viel Beklemmendes und Menschenunwürdiges über die Geschichte des Tales herausgefunden.
Ein paar Monate vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges mussten im Tal tausende Zwangsarbeiter ein komplexes Netz aus unterirdischen Stollen und Gewölben im Muschelkalk anlegen, dafür hatten Hitlers Getreue einen Teil des Truppenübungsplatzes in ein Häftlingslager umfunktioniert. Aber auch in der Nähe von Altenwinkel und in einem Dorf auf der anderen Seite der Talstraße gab es große Zeltlager, in denen Häftlinge untergebracht waren, die als Zwangsarbeiter schuften mussten.
Die Männer, ausgezehrt von Hunger, Kälte und chronischem Schlafmangel, wurden als Schachtarbeiter und im Gleisbau eingesetzt, sie mussten unterirdische Kabel verlegen und andere schwere körperliche Arbeiten verrichten.
Angeblich sollten die Gänge, Gewölbe und Bunker Hitler als letztes Führerhauptquartier und Nachrichtenzentrale dienen. Doch als die Alliierten sich im Frühjahr 1945 dem Tal näherten, wurden Stollen gesprengt und Bunker geflutet, damit den Befreiern nichts Brauchbares mehr in die Hände fallen konnte.
Seit damals gibt es wilde Mutmaßungen und Verschwörungstheorien über die verschütteten Gänge und unterirdischen Gewölbe, in denen einige Hartnäckige noch heute Hitlers Atombombe, eine intakte Panzerflotte oder sogar das legendäre Bernsteinzimmer vermuten.
Saskias Schwerpunkt im Projekt ist der Todesmarsch der Häftlinge nach Buchenwald, den ein Großteil der kranken, halb erfrorenen und verhungerten Männer nicht überlebte. Je mehr sie sich damit beschäftigte, desto drängender wurde für sie die Frage, inwieweit die Bewohner der umliegenden Dörfer von den Gräueltaten wussten und ob sie den Häftlingen geholfen oder einfach weggesehen hatten.
Saskia verschränkt die Arme vor der Brust. »Ich wette, die alte Neumeister weiß irgendetwas.«
Kai schiebt von hinten seine Nase in den Spalt zwischen den Sitzlehnen. »In zwei Wochen ist unsere Präsentation und dann ist das Ding eh gelaufen, Sassy. Der Zeitzeugenzug ist abgefahren, kapier das doch endlich.«
»Ach, halt die Klappe«, brummt Saskia genervt. »Diese Zeitzeugengeschichte war mir persönlich eben sehr wichtig und hätte bei unserer Präsentation mit Sicherheit Punkte gebracht. Lehrer stehen auf so was.«
»Und wennschon. Offensichtlich hat eure einzige seriöse Quelle einen Rückzieher gemacht. Jetzt der alten Neumeister nachzulaufen, ist einfach nur blödsinnig«, hält Kai dagegen.
»Vielleicht interessiert mich ja, was die Altenwinkler unter ihrer Scheißidylle zu verbergen haben«, neckt Saskia Kai. »Die Greise mauern doch nicht ohne Grund.«
»Altenwinkel hat eine Leiche im Keller«, mischt Max sich ein. »Graben wir sie aus!«
Daraufhin gibt Saskia ein kicherndes Schnauben von sich.
»He«, sage ich, »diese Diskussion bringt uns nicht weiter. Agnes hat abgesagt und die Neumeister ist eine alte Tratsche. Außerdem haben wir die nächsten Tage genug damit zu tun, für die Prüfung zu büffeln.«
Saskia schaut mich mit ihrem unschlagbaren Das-glaubst-du-doch-selber-nicht-Blick an. Sie kennt mich und weiß, dass ich vom Büffeln nicht viel halte. Die Prüfungen zur besonderen Leistungsfeststellung beginnen in zwei Wochen. In Deutsch, Mathe und Bio bin ich schriftlich dran. In Englisch mündlich.
Bis zu den Sommerferien sind es noch fast zwei Monate, eine halbe Ewigkeit. Ich bin jetzt schon ferienreif und fühle mich hinter den alten Mauern unserer Schule eingesperrt wie in einem dunklen Keller.
Der Schultag vergeht quälend langsam. Zuletzt haben wir eine Doppelstunde Mathe, in der wir uns mit der Wahrscheinlichkeitstheorie herumplagen. Als Grundlage dieser mathematischen Betrachtung wird von einem Zufallsvorgang ausgegangen. Alle möglichen Ergebnisse dieses Zufallsvorganges fasst man in der Ergebnismenge zusammen. Meistens interessiert sich jedoch niemand für das genaue Ergebnis, sondern nur dafür, ob ein Ereignis eintritt oder nicht. Ein Ereignis wird als eine Teilmenge von der Ergebnismenge definiert. Umfasst das Ereignis genau ein Element der Ergebnismenge, handelt es sich um ein Elementarereignis.
Was ein Elementarereignis ist, kann ich gut nachvollziehen. Alinas Verschwinden, zum Beispiel, war ein elementares Ereignis. Für ihre Eltern, ihre Großeltern, für mich, für das ganze Dorf und in erster Linie natürlich für sie selbst. Ihr Verschwinden war ein Zufallsvorgang, denn genauso gut hätte es auch mich treffen können oder ein anderes Mädchen aus Altenwinkel. Aber Martin Sievers hat sich Alina geschnappt und sie getötet.
Allerdings kapiere ich nicht, wie man das Wesen und die Existenz des Zufalls auf eine Formel an der Tafel reduzieren kann. Wenn ich in die Gesichter meiner Mitschüler schaue, dann weiß ich, dass es ihnen nicht anders ergeht. Und auch Herr Ungelenk, unser Mathelehrer, sieht nicht sonderlich glücklich aus bei seinen Ausführungen. Als es endlich klingelt, habe ich das Gefühl, nicht viel schlauer zu sein als vorher.
In meinen Augen ist Unterricht schlichtweg vergeudete Zeit. Nothing that’s worth learning can be taught, hat schon Oscar Wilde herausgefunden. In den Klassenräumen werden einem zwar unter großem Zeitdruck eine Menge Informationen eingetrichtert und einige Lehrer bemühen sich redlich, uns die Dinge auch verständlich zu machen, aber ich halte es mit Oscar Wilde: Die Offenbarungen des Lebens begegnen einem nicht im Klassenzimmer.
Endlich kommt der Schulbus. Montags und donnerstags haben Tilman und Kai nach Schulschluss Fußballtraining, deshalb fährt Kai mit dem späteren Bus zurück. Saskia, die wieder neben mir sitzt, erzählt mit leuchtenden Augen, dass sie ein neues Klamottenpaket von ihrer Cousine aus London bekommen hat.
Saskia Wagner hat glattes, schulterlanges braunes Haar und ein hübsches rundes Gesicht mit Grübchen in den Wangen. Sie lacht gern und viel, dann werden die Grübchen zu tiefen Löchern. Dank der abgelegten Klamotten ihrer Cousine sieht sie immer schick aus, auch wenn sie für manchen Rock und manche Bluse aus der Londoner Kleidersammlung ein bisschen zu mollig geraten ist. Immerhin, nach ihr drehen sich die Jungs mindestens zweimal um, was bei mir so gut wie nie vorkommt.
Schon seit ein paar Wochen ist Saskia unsterblich in Clemens, den Architektensohn, verschossen, der unser nächstes Gesprächsthema ist. Arme Sassy, denke ich, warum ausgerechnet der Man in Black? Clemens Neumann ist ein Schönling, mit dem hübschen Kopf zu weit in den Wolken, um ein Mädchen wie Saskia überhaupt zu bemerken. Auf dem Schulhof ist er immer von den angesagtesten Grazien umgeben. Eine feste Freundin scheint er allerdings nicht zu haben.
»Ich hoffe so sehr, dass er mich Himmelfahrt zu seiner Geburtstagsparty einlädt«, vertraut Saskia mir gerade flüsternd an.
Ich mag sie. Mit ihr kann man über ganz normale Sachen reden wie Klamotten, Musik und Jungs. Das heißt, meistens redet Saskia über Klamotten, Musik und Jungs und ich höre zu. Aber sie kann auch ganz schön hartnäckig sein, wenn sie sich einmal in eine Sache verbissen hat. Das bewundere ich an ihr.
Hin und wieder beschwert sich Saskia, dass wir nicht mehr Zeit miteinander verbringen, aber der Wald und seine Bewohner interessieren sie nicht die Bohne und außerdem versteht sie, dass ich viel mit Kai zusammen bin.
Saskia kann es kaum erwarten, wieder wegzukommen aus Altenwinkel. Nach dem Abi will sie nach London gehen, zu ihrer Cousine. Sie fühlt sich gefangen in der Scheißidylle, findet das Landleben langweilig. Typisch Stadtkind, denn auf dem Dorf lernt man schon früh, wie man sich nicht langweilt.
Zugegeben: Außerhalb der Schulzeiten ist es umständlich, von Altenwinkel in die Zivilisation zu gelangen. Der Linienbus fährt nur von montags bis freitags ins rund zehn Kilometer entfernte Arnstadt. Nach Erfurt, in die nächste Großstadt, sind es dreißig Kilometer. Und am Wochenende ins Kino oder auf ein Konzert zu gehen, ist ein Akt. Vor allem, wenn man ein sechzehnjähriges Mädchen ist und eine Mutter hat, die vor lauter Angst, dass etwas passieren könnte, kaum noch das Haus verlässt.
Wir Dorfkinder müssen unsere Eltern anbetteln, dass sie uns kilometerweit herumkutschieren und nach Mitternacht noch von sonst woher abholen. Toll finden die das natürlich nicht und oftmals heißt es: »Nö, heute nicht.«
Trotzdem funktioniert es irgendwie. Letztendlich findet sich immer ein Elterntaxi, das uns in die Stadt oder zurück ins Dorf bringt. Im Sommer kann man Fahrrad oder Moped fahren und ein paar der älteren Dorfjungs sind im Besitz von Führerschein und Auto.
Die Türen des Schulbusses öffnen sich vor dem »Jägerhof« und alle steigen aus. Altenwinkel ist Endstation.
Das Wirtshaus, ein einstöckiger Fachwerkbau aus roten Ziegeln und grün gestrichenen Balken und Fensterläden, ist mit seinen bunt bepflanzten Blumenkästen vor den Fenstern ein richtiges Schmuckstück und seit Generationen in den Händen von Familie Schlotter. Allerdings verirren sich nur selten ein paar Vogelbeobachter oder Fahrradfahrer nach Altenwinkel, sodass im Schankraum immer dieselben Gestalten sitzen.
Einer Eingebung folgend beschließe ich, auf dem Heimweg kurz bei Tante Lotta vorbeizuschauen, genauso, wie ich früher nach der Schule oft bei Uroma Hermine eingekehrt bin.
Seit ihrer Rückkehr nach Altenwinkel betreibt meine Tante in ihrem Elternhaus eine eigene Töpferwerkstatt. Lotta ist achtunddreißig, drei Jahre älter als Mama. Und das genaue Gegenteil von ihr. Beide Schwestern sind klein und schlank, aber da hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Es ist kaum zu glauben, dass zwei Menschen mit den gleichen Genen so verschieden sein können.
Ich verabschiede mich von Saskia, Max und den anderen und trotte hinter den Färber-Zwillingen her, deren Eltern am Ortsausgang Richtung Badesee eine kleine Gärtnerei betreiben. Kurz vor der Abzweigung auf die Dorfstraße kommt uns Frau Grimmer in ihrem elektrischen Rollstuhl entgegen, in dem sie seit ihrem Sturz von der Kellertreppe sitzt. Elvira und Rudi Grimmer wohnen im letzten Haus gegenüber der Gärtnerei. Rudi ist Frührentner und kümmert sich seit ihrem Unfall aufopferungsvoll um seine Frau, die wie immer picobello angezogen und ordentlich frisiert ist.
Paulina und Elina kichern mit weggedrehten Gesichtern, als sie an der Frau im Rollstuhl vorbeilaufen.
»Guten Tag, Frau Grimmer«, grüße ich höflich, als ich mit ihr auf einer Höhe bin.
»Hü... Hü...«, Elvira Grimmer verzieht das Gesicht und schüttelt schließlich unzufrieden den Kopf. Man könnte meinen, sie ist nicht ganz richtig im Oberstübchen und verwechselt ihren Rollstuhl mit einem Pferd. Aber Kai hat mir erzählt, dass Elvira Grimmers Sprachzentrum bei dem Schlaganfall, den sie vor ein paar Wochen erlitten hat, einen Hieb abbekam und dass das einzige Wort, das sie noch hervorbringen kann, das Wort »Hühnerkacke« ist.
Die Dorfkinder machen sich seitdem einen Spaß daraus, ihr mit diebischem Vergnügen hinterhältige Fragen zu stellen. Zum Beispiel, was es denn heute zum Mittagessen gab. »Hü... Hü... Hühnerkacke.« Arme Elvira.
Ich biege nach links in eine Straße aus buckeligem Kopfsteinpflaster ein. Zur Linken und zur Rechten der Dorfstraße reihen sich alte Bauerngehöfte mit Scheunen und weitläufigen Obstgärten aneinander. Hinter den Zäunen auf der rechten Seite, parallel zur Dorfstraße, verläuft der Gartenweg, dahinter liegt ein breiter Waldstreifen mit Verbindung zum Truppenübungsplatz.
Gleich das erste Haus in der Kurve ist das Elternhaus von Ma und Lotta, ein kleines Fachwerkhaus mit frischem orangerotem Putz, taubenblauen Balken und Fensterläden. Das Untergeschoss ist aus grauen Muschelkalksteinen gemauert und den Platz vor dem Haus hat Lotta pflastern lassen, sodass neben ihrem VW-Bus noch drei weitere Kundenautos parken können, was aber so gut wie nie vorkommt.
Den ehemaligen Schweinestall aus dunkelrot gebrannten Ziegeln hat Lotta zur Töpferwerkstatt mit einem Schaufenster umfunktioniert. Vor der blauen Haustür und dem Eingang zur Werkstatt stehen zahllose Topf- und Kübelpflanzen, unter anderem mehrere große Oleanderbüsche. Die Keramiktöpfe sind von Lotta und sehen, wie ihr Inhalt, ziemlich exotisch aus. Mediterran, wie meine Tante mit einem Augenzwinkern zu sagen pflegt.
Nach dem tragischen Tod meiner Großeltern in der Türkei (sie starben, als ich zwei Jahre alt war) hat meine Uroma Hermine bis zu ihrem Tod ganz alleine in diesem Haus gewohnt. Vor vier Jahren ist Tante Lotta nach Altenwinkel zurückgekehrt, hat das Häuschen nach und nach renoviert und die Töpferwerkstatt eingerichtet.
»Unverbesserliche Optimistin«, hat Ma sie damals genannt. »Wer soll denn hierher in dieses gottverlassene Nest kommen, um verrückte Keramik zu kaufen?«
Meine schöne Tante war eine Weltreisende, bis sie in ihrem Heimatdorf sesshaft wurde. Im Jahr der Wende war sie sechzehn – so alt wie ich jetzt. Sie beendete ihre Lehre bei einem Bürgeler Töpfermeister, und als sie volljährig wurde, ging sie nach Kreta, um bei einem griechischen Töpfer neue Brenn- und Glasurtechniken zu lernen. Ich habe Ma einmal etwas abfällig und neidisch zugleich zu meinem Vater sagen hören, dass Tante Lotta bei diesem Nikos wohl nicht nur Glasurtechniken gelernt hat.
Von Kreta ging es weiter nach Nordafrika, später nach Frankreich, von dort nach Spanien und zuletzt hat meine Tante auf der Kanareninsel La Gomera gelebt. Dementsprechend ausgeflippt sind ihre Keramiken, die sie in ihrem winzigen Laden und auf Märkten zum Verkauf anbietet. Urige Formen, dickwandige Übertöpfe und Schüsseln, die in wilden Mustern die Farben des Südens und des Meeres tragen. Ziemlich exotisch für ein Dorf wie Altenwinkel, da muss ich Ma allerdings recht geben.
Wer in Lotta Auerbachs Einfahrt tritt, der kommt sich vor wie in Südfrankreich und nicht wie am Rand des Thüringer Waldes. Was für die Dorfbewohner ausreicht, um das Tun meiner Tante stets mit einem verständnislosen Kopfschütteln zu kommentieren. Wäre sie eine Zugezogene, hätte sie in Altenwinkel von vorneherein keine Chance gehabt. Aber Lotta ist hier aufgewachsen und eine verrückte Einheimische ist den Dorfbewohnern dreimal lieber als jeder Fremde.
Auf dem Hof vor der Werkstatt parkt nur der sonnengelbe Van meiner Tante, mit schwarzen und roten Handabdrücken auf dem Lack und dem Schriftzug Sonnenkeramik von Lotta Auerbach.
Lotta lächelt erfreut, als ich den Kopf in ihre gemütliche Küche mit den (mediterranen) Terrakottafliesen stecke, wo sie mit nachlässig hochgestecktem Haar und in tonverschmierten Klamotten am Holztisch sitzt. Vor sich ein angebissenes Knäckebrot, ein Schüsselchen selbst gemachter Joghurt und einen Keramikbecher mit Kaffee. Meine Tante lebt allein, deswegen kocht sie nur selten eines ihrer köstlichen vegetarischen Gerichte, für die ich sie ganz besonders liebe.
»Jola«, sagt sie, »wie schön, dass du reinschaust. Und wie hübsch du aussiehst.«
Ich blicke an mir herunter. Verwaschene Jeans mit ausgefransten Löchern, ein flaschengrünes T-Shirt, weinrote Allstars, die ziemlich fleckig sind. Nichts Besonderes. Ich mache keinen Sums um Kleidung, schere mich wenig um Mode oder irgendwelche Trends, besitze aber durchaus ein paar Lieblingsklamotten. Und die trage ich gerade. Ich muss lächeln, weil ich mich nach Lottas Begrüßung gleich viel hübscher fühle.
So ist meine Tante. Sie sagt immer das Richtige.
»Auch ein Knäckebrot und einen Kaffee?«
Ich weiß, dass Ma irgendetwas Fleischloses gekocht hat und auf mich wartet – so wie sie es immer tut. Ich musste ihr versprechen, rechtzeitig anzurufen, wenn ich den späteren Bus nehme, was durch unsere Arbeit am Spurensuche-Projekt in den letzten Wochen häufig vorkam. Nur, wenn ich Ma jetzt anrufe und ihr sage, dass ich bei Tante Lotta Knäckebrot esse und Kaffee trinke, wird sie das mit Sicherheit kränken.
»Okay.« Ich setze mich und rufe meine Mutter an, erzähle ihr, dass ich mit dem späteren Bus komme. Das schlechte Gewissen nagt an mir, während ich sie vor meinem geistigen Auge allein am Tisch sitzen sehe mit dem fertigen Mittagessen, extra fleischlos für mich. Mein Vater wollte heute Vormittag nach Erfurt fahren, um sich mit einer Gruppe Artenschützer wegen des Truppenübungsplatzes zu treffen, und bestimmt ist er noch nicht zurück.
»Der Erfinder der Notlüge liebte den Frieden mehr als die Wahrheit.« Lotta stellt augenzwinkernd einen Becher mit Kaffee vor mir auf den Tisch.
»Sagt wer?«
»James Joyce.«
Lotta ist ungeheuer belesen, sie liebt die Sprüche kluger Leute.
»Eine schmerzliche Wahrheit ist besser als eine Lüge«, gibt sie gleich noch einen zum Besten. »Thomas Mann«, fügt sie hinzu, bevor ich fragen kann.
»Aber die Wahrheit macht Ma entweder unglücklich oder traurig oder versetzt sie in Panik«, verteidige ich mich. Ich lüge ziemlich oft, weil ich nicht will, dass meine Mutter sich unnötig aufregt. Ich lüge, um frei zu sein.
Ich beschmiere eine Scheibe Knäckebrot mit Bärlauch-Frischkäse und beiße hinein.
Lotta seufzt. »Ja, ich weiß.«
Meine Tante und ich haben das Problem bestimmt hundert Mal durchgekaut und von allen Seiten beleuchtet. Lotta behauptet, Ma sei bereits als Angsthase auf die Welt gekommen, aber niemandem wäre das aufgefallen, denn auch ihre Oma Hermine und ihre Mutter Lene waren sehr vorsichtige Menschen. Als meine Großeltern in der Türkei verunglückten, begann das Samenkorn Angst in meiner Mutter aufzugehen und zu wachsen. Sie wurde mit dem Verlust ihrer Eltern einfach nicht fertig. Und nachdem Sievers Alina entführt und ermordet hatte, wurde es richtig schlimm.
Als Ma aus der Psychiatrie zurückkam, ging sie zu einem Seelenklempner in Arnstadt, doch schon nach der dritten oder vierten Sitzung brach sie die Therapie einfach ab und seitdem hält Lotta sich zurück mit ihrer schwesterlichen Fürsorge. »Deiner Mutter kann nicht geholfen werden, wenn sie sich nicht helfen lassen will. Der erste Schritt muss von ihr ausgehen, doch offensichtlich ist der Leidensdruck noch nicht groß genug.«
Tante Lotta besucht uns leider nur selten, obwohl wir bloß ein paar Häuser entfernt am anderen Ende der Straße wohnen und Ma sich jedes Mal sehr freut, wenn ihre Schwester da ist.
»Ma geht wieder in den Garten«, sage ich. »Gestern hat sie auf der Terrasse gesessen und an ihrem neuen Buch geschrieben.«
»Das ist gut.« Lotta nickt lächelnd. »Vielleicht schafft sie es ja doch noch, ihre Angst zu überwinden.«
Geräuschvoll kauend, vertilge ich mein Knäckebrot und esse noch ein zweites. Der Kaffee ist gut. Tante Lotta mahlt ihn jeden Tag frisch mit der alten Kaffeemühle von Oma Hermine.
»Bist du nur so vorbeigekommen«, fragt sie unvermittelt, »oder gibt es einen Grund?«
Überrascht sehe ich sie an, merke, wie mir die Röte ins Gesicht steigt. »Es gibt keinen Grund. Ich hatte Sehnsucht nach dir.« Was eine glatte Lüge ist.
Lotta lacht. Wie jung und schön sie aussieht, wenn sie lacht, meine exotische Töpfertante, die immer ein offenes Ohr für mich hat. Wenn ich so alt bin wie sie, möchte ich auch so aussehen und so drauf sein.
»Ist was mit Kai?«, hakt sie unbeeindruckt von meiner Antwort nach. »Habt ihr es endlich getan?«
Lotta weiß, dass ich mir die Pille besorgt habe und Kai immer mit einem Kondom in der Hosentasche herumläuft. Für alle Fälle.
Meine Ohren prickeln.
»Es ist also passiert.« Lotta sieht mir lange in die Augen und stellt schließlich mit einem amüsierten Zug um die Mundwinkel fest: »Die Glocken haben nicht geläutet, die Erde hat nicht gebebt, der Mond hat seine Umlaufbahn nicht verlassen.«
Die Lippen zusammengepresst, schüttele ich den Kopf. Kai und ich haben das Thema Sex wochenlang umkreist und dann ist es an einem Nachmittag in seinem Zimmer einfach passiert. Es hat nicht einmal sonderlich wehgetan, war aber nach weniger als einer Minute vorbei. Eine herbe Enttäuschung, jedenfalls für mich. Etwas fehlte. Doch das werde ich Lotta nicht erzählen. Sie ist schließlich meine Tante und nicht meine beste Freundin.
Dieser Gedanke versetzt mir einen Stich. Ich habe keine beste Freundin, mit der ich über mein erstes Mal reden kann. Saskia … Saskia ist ein prima Kerl, aber bis jetzt habe ich es noch nicht fertiggebracht, ihr derart heikle Dinge zu erzählen. Plötzlich vermisse ich Alina wie verrückt.
Lotta legt ihre Töpferhand auf meinen Arm. »Was auch immer nicht perfekt war, Jola, nimm es nicht so tragisch«, tröstet sie mich. »Beim nächsten Mal wird es besser. Übung macht den Meister.«
Ich gebe einen Seufzer von mir. Kais und mein erstes Mal liegt jetzt drei Wochen zurück und seitdem hat er kaum noch etwas anderes im Kopf, als das Ganze zu wiederholen. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob ich das überhaupt will. Vielleicht sollte man einfach nicht mit einem Jungen schlafen, der jahrelang wie ein Bruder für einen war und diese Rolle perfekt ausgefüllt hat.
Tante Lotta, die nur selten ein Blatt vor den Mund nimmt, offenbart mir im Anschluss noch ein paar Dinge über Sex, die ich lieber nicht gewusst hätte und die mich beinahe das Kauen vergessen lassen. Na wunderbar, Tante Lotta, das macht es für mich nicht leichter.
Viertel vor vier, kurz bevor der zweite Schulbus die letzten Schüler nach Altenwinkel bringt, verabschiede ich mich von ihr und mache mich auf den Heimweg, denn ich will Kai nicht begegnen, der mit seinen Eltern und seiner Oma Ruth ebenfalls am Anfang der Dorfstraße wohnt, nur einen Steinwurf von Lotta entfernt.
Mit forschen Schritten trabe ich am offenen Hoftor der Hartungs vorbei. Ein großes Schild weist auf die Öffnungszeiten ihres Hofladens hin, die hohe Ligusterhecke ist akkurat geschnitten.
Ich bin fast da. Auf dem Betonpflaster in der Einfahrt vor dem Haus der Merbachs zieht Lasse mit seinem quietschenden Dreirad seine Kreise. Der Kleine hat ungeheure Ähnlichkeit mit Alina, aber seine Locken sind dunkelbraun und nicht blond.
Alinas Eltern trennten sich ein paar Monate nach ihrem Verschwinden und ihre Mutter zog nach Erfurt. Sie ertrug es nicht, dort wohnen zu bleiben, wo man ihrem Kind Schreckliches angetan hat. Karsten Merbach blieb. Er will da sein, wenn man die sterblichen Überreste seiner Tochter eines Tages findet, etwas, woran er felsenfest glaubt. Inzwischen lebt er mit seiner neuen Frau Caroline zusammen und die beiden haben einen dreijährigen Sohn – Lasse.
Am Ende der Straße biege ich in unsere Einfahrt. Das Tor ist offen, erleichtert stelle ich fest, dass der silberne Jeep meines Vaters nicht im Carport steht. Ich schließe die Haustür auf, entledige mich meiner Schuhe und werfe einen Blick in die Küche, wo mein unbenutzter Teller noch auf dem Esstisch steht – wie ein stummer Vorwurf.
Ich gehe zum Herd und hebe den Deckel vom Kochtopf. Fleischlose Bohnensuppe, sie ist noch warm. Rasch nehme ich ein paar Löffel und werfe einen Blick ins Wohnzimmer, aber da ist Ma auch nicht. Vermutlich hat sie sich wieder in ihrem Arbeitszimmer eingeschlossen. Das macht sie in letzter Zeit häufig, meistens dann, wenn sie enttäuscht ist oder zu lange allein im Haus.
Wie so oft wünsche ich mir, ich hätte eine Schwester oder einen Bruder, dann würde sich nicht alles auf mich konzentrieren.
Oben in ihrem Schreibzimmer fühlt Ma sich am sichersten. Vom Fenster über ihrem Schreibtisch hat sie einen Blick auf die gepflasterte Hofeinfahrt, auf die Straße und auf den Lindenbaum vor dem Haus von Erna Euchler, einer alten Bäuerin, bei der ich immer frische Eier hole.
Ich lege die Stirn an Mas Zimmertür und klopfe leise. »Mami?«
Bis ich zwölf war, habe ich »Mami« zu meiner Mutter gesagt. Dann habe ich das -mi am Ende einfach weggelassen. Ma klingt viel erwachsener und schafft Abstand. Doch wenn ich ein schlechtes Gewissen habe, oder mir Sorgen um meine Mutter mache, dann kommt das »Mami« noch hin und wieder über meine Lippen.
Vorsichtig drücke ich die Klinke herunter, doch wie vermutet ist von innen abgeschlossen und Ma antwortet nicht. Wahrscheinlich schläft sie, zugedröhnt von Pillen. Wenn sie Tavor genommen hat, dann ist sie immer vollkommen weg. Ich habe das Medikament mal gegoogelt und herausgefunden, dass es abhängig macht. Willkommen in der großartigen Welt der Psychopharmaka.
Achselzuckend gebe ich auf und tappe den Flur entlang, um auf die Toilette zu gehen. In meinem Zimmer pfeffere ich die Schultasche in die Ecke, ziehe mich um und schnappe mir meinen schwarzen Rucksack mit dem Fernglas, der Wasserflasche und den Müsliriegeln.
Bin unterwegs und zum Abendessen zurück, Jola, schreibe ich auf einen Zettel, den ich gut sichtbar unten auf den Küchentisch lege.