12. Tag

Jan hielt seinen Blick auf die Einschnitte zwischen den Bäumen gerichtet, wo sie den Abfluss des Sees vermuteten. Es war ihm unheimlich, sich dem Ufer zu nähern. Am liebsten wäre er in der Seemitte geblieben, wo der Mörder sie nicht erreichen konnte. Doch das war kein Rückzugsort auf Dauer.

Vorne bei Anna im Fußraum steckte das Gewehr. Jan wusste, wie nutzlos es war. Der Mörder konnte hinter einem Stamm warten, bis sie in nächster Nähe vorbeitrieben. Auf dem Fluss gab es keine Deckung. Die Kugeln würden die Plastikwand des Kanus wie Papier durchschlagen. Es würde nicht einmal zu einem Schusswechsel kommen.

Ohnehin zweifelte Jan daran, dass sie mit dem Gewehr viel ausrichten konnten. Laura hatte Gregor zwar erschossen, das allerdings aus wenigen Metern Abstand. Und sie hatte sicher nicht auf den Hals gezielt. Eher auf den Arm, um Gregor möglichst wenig zu verletzen, oder auf den Körper, um ein großes Ziel zu haben – so gesehen war der Treffer ein Fehlschuss.

Ihre einzige Hoffnung lag darin, sich nicht einholen zu lassen. Jan versuchte, ihren Vorsprung zu schätzen. Wenn der Mörder mit einem vergleichbaren Tempo marschierte wie Jan und Anna bei der Verfolgung von Gregor, würde er noch zwei Stunden bis hierher benötigen. Aber er war ein Bergsteiger, der seit Jahren in der Wildnis hauste. Wie schnell mochte er sein?

Die Einkerbungen in der schwarzen Wand des Waldes erwiesen sich als die Flussarme, die sie suchten. Mit schnellen Schlägen verließen sie den See und glitten auf der Strömung durch den Schatten der Bäume, deren Äste weit über das Wasser reichten. Einmal mussten sie sich sogar ducken, um unter dem Nadelvorhang durchzustechen, den eine umgestürzte Kiefer über den Fluss gelegt hatte. Jan spähte ins Unterholz, das zu beiden Seiten dicht heranwuchs, und lauschte nach Gefahrensignalen: nach einem fiependen Nager, einem aufflatternden Vogel. Nichts war zu hören als das Klatschen ihrer Paddel.

Endlich vereinigte sich der Strom und floss kräftig in einem breiten, hellen Kiesbett dahin. Hier und da ragten Steine heraus. Von weißer Gischt umspielt waren sie leicht zu erkennen und zu umfahren. Jan tauchte das Paddel ein, das Wasser war gut einen halben Meter tief.

Als die Böschung neben ihnen anstieg, zogen sie das Kanu an Land. Michael und Jan trugen es, während Anna mit dem Gewehr die Absicherung übernahm. Jan erinnerte sich an das Chaos, als sie das Kanu vor etlichen Tagen zu viert an den See gebracht hatten. Das waren wohl zu viele undisziplinierte Helfer gewesen – zu zweit konnten sie es problemlos handhaben, obwohl es mit dem Gepäck um die fünfzig Kilo wog.

Sie gingen oberhalb der Böschung möglichst schnell durch den aufgelockerten Wald. Jan zwang sich, nicht nach hinten zu schauen – das war Annas Aufgabe. Zweimal tauschte er mit Michael die Position, um den Griff mit der anderen Hand zu halten, dann hatten sie die schwierige Stelle, vor der Gregor kapituliert hatte, umgangen und konnten weiterpaddeln.

Wenige Minuten später rauschte es wieder vor ihnen. Über eine längere Strecke bedeckten helle Wellenkämme den Fluss. Sie steuerten das Ufer an und berieten sich. Anna erklärte, dass sie mit regelmäßigen Umtragungen zu viel Zeit verlieren würden. Entweder sie meisterten die Wildwasserstellen, oder sie mussten das Kanu zurücklassen.

Jan gab zu bedenken, dass ihnen nicht nur Erfahrung fehlte, sondern auch die erforderliche Ausrüstung. Sie mussten auf Schwimmwesten, Helme und wasserdichte Tonnen für das Gepäck verzichten. Zudem hatte das Dreier-Kanu nur wenig mit den wendigen Einer-Kajaks gemein, mit denen die Profis durch Canyons flitzten.

Dennoch neigte auch Michael zum Weiterfahren. Jan betrachtete die Stromschnellen. Da sie weniger heftig wirkten als die zuvor umgangenen, willigte er ein. Sie schnallten die Rucksäcke unter die Bänke und zogen den Spritzschutz auf, der eher dafür ausgelegt war, Regen als Wildwasser abzuhalten. Dann stiegen sie in die Ovale, die über ihren Sitzen freigeblieben waren, und stießen sich ab.

Das Kanu begann zu ruckeln, Gischt klatschte ihnen ins Gesicht. Anna rief von vorne Befehle, doch ehe sie diese umsetzen konnten, holperte der Rumpf bereits über Steine. Wellen schwappten auf den Spritzschutz. Sie fuchtelten mit den Paddeln und behinderten sich gegenseitig.

Zum Glück war die Passage nicht allzu gefährlich. Nach und nach gelang es ihnen, die problematischen Stellen früher zu identifizieren. Auch ihre Manöver wurden zielgerichteter und koordinierter.

Als der Strom wieder geruhsam dahinzog, waren sie optimistisch, den Anforderungen gewachsen zu sein. Sie besprachen ihre Technik und stimmten überein, dass die größte Gefahr von knapp überspülten Steinen ausging, die erst in letzter Sekunde zu sehen waren und sie querstellen konnten. Hier wie auch bei anderen Hindernissen schien Geschwindigkeit entscheidend zu sein. „Wer bremst, verliert“, murmelte Michael – und Jan meinte, darin einen von Gregors Sprüchen wiederzuerkennen.

Mittlerweile hatte sich die Bergkulisse verschoben. Der wie ein Fangzahn geformte Zacken, hinter dem die Sonne immer untergegangen war, dominierte nicht länger die Szenerie. Dafür waren die Gipfel im Osten gewachsen, und im Norden schimmerten noch imposantere Gletscher, als sie es von ihrem Hüttenausblick gewohnt waren.

Der Fluss beschrieb eine Kurve entlang einer ausgeschwemmten Kiesbank, die sich einsturzgefährdet auftürmte. Die Bäume wuchsen bis an den Rand, manche griffen mit ihren Wurzeln ins Leere.

Auf einmal ließ Anna das Paddel ins Wasser fallen und riss das Gewehr hervor.

Am gegenüberliegenden Ufer kauerte ein Schatten. Er bewegte sich.

Anna legte an – und ließ das Gewehr sinken.

Ein Tier trank am Fluss. Als sie an ihm vorbeiglitten, hob es den Kopf und beobachtete sie. Der gedrungene Körperbau und das dichte, dunkle Fell erinnerten an einen Bär, doch es war kaum einen Meter lang. Michael reichte Anna das Paddel, das er aus dem Wasser gefischt hatte, und spekulierte, dass es sich um einen Vielfraß handeln könnte.

Jan beruhigte sich damit, dass der Mörder sich hinter ihnen befinden musste, ganz gleich, wie ausdauernd er war. Kein normaler Mensch konnte in diesem Gelände zu Fuß schneller vorankommen als sie auf dem Fluss.

Anna klemmte das Gewehr wieder vor sich unter den Spritzschutz, und sie paddelten weiter. Der Wald wich zurück, nur verstreut wuchsen Birken am Ufer. Ihre weißgemusterte Rinde leuchtete im Mondlicht. Etwas später wurde der Fluss breiter und verzweigte sich. Sie bemühten sich, die schwächere Strömung mit Muskelkraft auszugleichen. Manchmal mussten sie aussteigen und ziehen, und einmal verirrten sie sich in einen Seitenarm, so dass sie das Kanu über eine Kiesbank tragen mussten. Als der Strom sich wieder verengte, führte er noch mehr Wasser als zuvor und wirkte weniger klar, soweit sich das nachts beurteilen ließ.

„Wir fahren von allein so flott, ich mache eine kleine Pause“, sagte Michael.

Jan legte dankbar das Paddel über den Spritzschutz und schüttelte die Arme aus. Die Muskeln brannten vom stundenlangen Hacken und Paddeln, und Rücken und Nacken waren so verspannt, dass er eine ebenso lange Massage von Jenny benötigt hätte, um sich wieder schmerzfrei aufrichten zu können. Am gemeinsten waren jedoch die Blasen an Handballen und Daumen.

Anna holte aus dem Inneren des Kanus eine Packung Kekse hervor, die sie bis zum letzten Krümel aßen.

„Weiter geht’s!“ Anna stopfte die Verpackung zurück ins Kanu.

„Ich brauche noch einen Moment“, stöhnte Michael.

Sie trieben schweigend dahin. Gelegentlich tätigte Michael einen Schlag, um sie in der Mitte des Flusses zu halten.

Jan schaute hinauf zur Milchstraße. Nie hatte er einen solchen Nachthimmel gesehen wie hier in Alaska. Leider war er selten dazu gekommen, ihn zu bewundern. Zumeist hatte ihn das Tageslicht früh geweckt und er war abends eingeschlafen, ehe es vollkommen dunkel geworden war. Und in jenen Nächten, in denen er auf den Beinen gewesen war, hatte er anderes zu tun gehabt, als hinaufzublicken und zu staunen.

Auch diesmal nahmen seine Gedanken ihren eigenen Weg und er vergaß die Sterne. Was war das für eine Besessenheit, die Michael an Anna fesselte? Als der ihr vor zwei Jahren den Hof gemacht hatte, war das ein Spiel gewesen, eine romantische Hingabe, wie Michael sie damals alle paar Monate zelebrierte. Was war daraus geworden? Keine Liebe, aber mehr als ein rein körperliches Verlangen. Nichts, was ihn davon abhielt, Sex mit anderen Frauen zu haben, Anna zu belügen, ihr zu misstrauen und sie einsperren zu wollen. Nichts, was glücklich ausgehen konnte. Er mochte sie sogar dafür hassen, dass er sie so begehrte.

Jan vergegenwärtigte sich, wie Michael über ihnen gestanden hatte, als sie im Flur schliefen. Was war in seinem Kopf vorgegangen, als er das Gewehr auf sie richtete? Vielleicht hatte er das Gefühl erfahren wollen, dass ein Fingerzug reichte, um sie auszulöschen.

Seitdem hatte die Bedrohung durch den Mörder alle anderen Ängste verdrängt. Erst jetzt wurde Jan bewusst, wie unheimlich ihm Michael geworden war. Er wollte nicht in einem wehrlosen Augenblick durch die Hand seines einst besten Freundes sterben.

So weit als möglich drehte er sich nach hinten und sagte leise: „Wolltest du uns erschießen?“ Die Frage erschreckte ihn selbst – so direkt hatte er sie nicht stellen wollen.

Michael starrte ihn an. Sein Kiefer arbeitete. Schließlich nahm er einen wütenden Ausdruck an und fauchte: „Bist du durchgeknallt?“ Offensichtlich wusste er, wovon Jan sprach.

„Kann ich dir vertrauen?“

„Was soll das? Habe ich dich je hängenlassen?“

Jan hätte lange aufzählen können, was Michael alles für ihn getan hatte. Eine Unzuverlässigkeit fiel ihm nicht ein – zumindest nicht aus der Schulzeit.

„Meine Nerven waren vorhin überstrapaziert. Ich hätte den Tisch nicht umwerfen sollen. Aber ich hatte die ganze Nacht an Annas Bett Wache gehalten und war völlig übermüdet. Beim Frühstück habe ich sie verwöhnt, damit sie den Schock gut wegsteckt. Dass sie mich als Dank wie den letzten Depp behandelt, war zu viel.“

„Das kann ich verstehen.“ Jan hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Er durfte sich von Michael nicht einwickeln lassen!

Michael lächelte dankbar. „Was ich dir vorhin von der Stimme erzählt habe, das darfst du nicht wörtlich nehmen. Ich habe da was zusammengesponnen, aus Aufregung und Erschöpfung.“

Annas Verdacht, dass Michael sie im Schlaf belästigt haben könnte, kam Jan in den Sinn. Was sonst hatte ihn dazu bewogen, so lange am Bett der Schlafenden zu verweilen? Michael hätte sich ins Jungenzimmer legen und beide Türen offen lassen können, so dass er einen Ruf von ihr gehört hätte. Doch als Jan aufgewacht war und sich in der Küche bedient hatte, hatte Michael bei geschlossenen Türen geschlafen. Erst übertriebene Fürsorge und danach Gleichgültigkeit – das passte nicht zusammen.

Aber darum ging es jetzt nicht. Jan musste herausfinden, welche Gefahr von Michael ausging, und versuchen, ihm ins Gewissen zu reden. Michael blickte zum Ufer, er schien das Gespräch für beendet zu halten.

„Du hast recht“, sagte Jan. „Das mit der Stimme sollte ich nicht wörtlich nehmen.“

Michael kreiste seine Schultern und verzog das Gesicht. „Junge, das tut weh.“

„Ich denke, das ist für dich eine Metapher.“

Wieder ging Michael nicht auf Jans Worte ein, sondern streckte die Arme zur Seite und seufzte.

„Die Stimme ist etwas in dir, womit du nicht klarkommst.“

Michael legte die Stirn in Falten und schien Jan abblitzen lassen zu wollen, dann lachte er auf. „Bizarr, oder? Du hast immer den Wandel herbeibeschworen, und dabei war das für mich genauso ein Thema, bloß dass wir nie darüber gesprochen haben.“

Jan wurde sich des Ungleichgewichts in ihrer Freundschaft traurig bewusst: Michael hatte sich selbst vor ihm perfekt gegeben. Er schob die Gedanken beiseite, sie hatten für das Jetzt keine Bedeutung. „Sag mir mit einem Wort, was dieser Wandel für dich bedeutet.“

„Authentizität! Ich habe keinen Bock auf die ganze Show-Scheiße. Alles, was gelingt, ist verlogen. Aber nur verweigern ist auch Scheiße. Ich will kein versiffter Punk werden.“

„Und Annas Rolle darin?“

„Ich weiß nicht. Etwas, worum ich kämpfen kann, ohne dass es verlogen ist, weil es so aussichtslos und unvernünftig ist. Aber das ist zu rational, das trifft es nicht wirklich. Es gibt keine Erklärung. Das ganze Erklären ist schon falsch.“

Jan schaute auf das schimmernde Schwarz, auf dem ihr Kanu dahinschwebte, und suchte nach den richtigen Worten. „Hör zu, Michael. Es gibt ein Ziel, um das es sich wirklich zu kämpfen lohnt: dass wir hier lebend herauskommen! Dein Wandel interessiert mich gerade einen Dreck. Und dich sollte er auch einen Dreck interessieren, solange wir im Tal sind. Danach wirst du sehen, wie das Tal dich verändert hat. Lass dir ein paar Wochen Zeit zum Verarbeiten, und dann ist Anna nur noch eine schöne Frau unter anderen. Eine, die dir nicht sonderlich liegt, weil sie bockig ist und du gerne ein wohlmeinendes Publikum hast. Aber jetzt kämpfe für uns! Egal, was in deinem Leben nicht stimmt, nichts ist so schrecklich wie dieses menschenfressende Monster, das uns verfolgt. Das ist der Feind, dem wir entkommen oder den wir vernichten müssen!“

Michael lächelte sarkastisch und murmelte: „Nicht schlecht“, ehe er zum Paddel griff. Im Zurückdrehen meinte Jan, dass Michaels Lächeln freundlicher geworden war. Wie das eines zufriedenen Lehrmeisters.

Die ersten Züge genügten, um Jan alle tiefergehenden Gedanken auszutreiben. Eine seiner Blasen platzte auf, an den anderen würde die Haut auch nicht mehr lange mitmachen. Dennoch hielt er sich eisern an den Rhythmus, den Anna vorgab.

Einige sanfte Biegungen darauf zerteilten baumbestandene Felsblöcke den Fluss. Was dahinter kam, war nicht zu sehen. Sie überlegten, ob sie anlanden sollten, um die Stelle zu erkunden. Doch als das Rauschen anschwoll und sie sich dafür entschieden, zog sie die Strömung bereits auf den Äußersten der Durchlässe zu. Sie mussten ihre Bemühungen, das Ufer zu erreichen, aufgeben, um nicht quergestellt zu werden.

Zwischen den Felswänden brodelte es laut, sie schnellten voran, schossen über eine abbrechende Welle hinweg und stürzten in die Gischt zwei Meter unter ihnen. Die Kälte schlug Jan ins Gesicht, er hatte das Gefühl, vollständig untergetaucht zu sein. Schon im nächsten Augenblick fand er sich auf einer stehenden Walze über das Wüten des Wassers emporgehoben. Sekundenlang ritten sie gleichsam auf der Stelle, ehe sie seitlich hinunter in ein Loch rutschten und die nächste Welle ihnen entgegenrollte.

Jan fürchtete, aus dem Kanu geschleudert zu werden, und klammerte sich mit beiden Händen am Rand fest. Der Bug wurde angehoben, krachte auf einen Felsen und blieb hängen. Der Druck drohte das Kanu umzuwerfen, da ratterte der Bug über die Schräge zurück ins Wasser. Jan schaffte es mit Not, die Hände vom Rand zu lösen, ehe das Kanu am Felsen entlangschabte und seine Irrfahrt fortsetzte.

Eine Kette brechender Wellen warf sie auf und ab, meist nahm Spritzwasser Jan die Sicht. Dann lagen sie auf einmal still im Kehrwasser eines mächtigen Blocks.

„Heilige Scheiße!“, schrie Michael. „Was jetzt?“

Anna drehte sich zu ihnen um. Die Haare klebten ihr an Kopf und Gesicht. Die Mullbinde an ihrem Unterarm hing lose. „Durchatmen und weiter!“

Jan blickte auf die Gischt, die sich rund um sie herum auftürmte.

„Wo ist dein Paddel?“

Er wusste nicht, wann er es losgelassen hatte.

„Schöpft ihr Wasser!“, rief Michael, „Ich halte das Boot auf Kurs.“

Jan schob mit einer Hand die Spritzdecke von seinem Bauch, mit der anderen becherte er Wasser über Bord. Es brachte nicht viel.

„Das kannst du vergessen.“ Anna nahm wieder ihr Paddel. „Ein bisschen Ballast schadet nicht. Vielleicht stabilisiert uns das sogar.“

Sie wendeten und tauchten wieder in die schwarz-weiße Hölle ein. Eine Walze warf sie zurück und drehte das Kanu. Rückwärts schossen sie in das dahinterliegende Wellental, wurden erneut gedreht, schlingerten in der Gischt, kippten. Jan war sich zuerst nicht sicher, was geschehen war. Schon mehrfach waren sie aus bedrohlicher Seitenlage zurück in die Vertikale gelangt, und er hatte nicht zum ersten Mal das Gefühl, vom Wasser verschluckt zu werden. Doch diesmal war es anders. Sie waren gekentert!

Strampelnd befreite er sich aus der Spritzdecke. Sein Arm schlug gegen Fels. Alles war finster. Er legte den Kopf in den Nacken und sah helles, brodelndes Wasser über sich. Da wurde er zur Seite gerissen und gegen eine Wand gepresst. So hatte er sich als Kind die Schleuse vorgestellt, vor der er sich gegrault hatte, weil ein Schwimmer in deren Strudel ertrunken war. Er kämpfte gegen die Panik an, orientierte sich nach oben und stieß sich ab. Das Wasser wirbelte ihn herum. Plötzlich durchbrach er die Oberfläche.

Er atmete ein – es klang wie ein Schrei. Gleich darauf füllte Wasser seinen Mund und raubte ihm die Sicht. In einem Wellental tauchte er wieder auf. Es gelang ihm, für mehrere Atemzüge oben zu bleiben, ehe er erneut unter Wasser gedrückt wurde. Er erhielt schmerzhafte Stöße an Beinen und Rücken, dann konnte er sich an einem Felsen, gegen den er geschlagen war, festkrallen.

Er schaute sich um. Die Wellen stromabwärts wirkten kleiner als die hinter ihm. Von Anna und Michael war nichts zu sehen. Auf seinen schwächlichen Ruf erhielt er keine Antwort. Sein Körper zitterte. Lange würde er sich nicht festhalten können – und Hilfe würde keine kommen. Er nahm einige tiefe Atemzüge und ließ los.

Das Wasser beutelte ihn über die Felsen, doch die Wucht ließ nach und schließlich konnte er ans Ufer schwimmen. Er erhob sich, machte einen Schritt und platschte zurück ins Wasser. Seine Beine trugen ihn nicht mehr. Ohne auf seine Knie zu achten, kroch er an Land und ließ sich niedersinken. Er spürte seinen Körper nicht und hatte doch ein überwältigendes Gefühl von Schmerz, der von innen zu kommen und ihn ganz auszufüllen schien. Er bemerkte, dass er zu sich selbst redete, ein weinerliches Gebrabbel, und riss sich zusammen. Er musste nach den anderen sehen!

Noch während er aufstand, hörte er einen Schrei. Anna winkte vom anderen Ufer. Michael, den das Wasser weiter hinabgespült hatte, schleppte sich auf Jans Seite an Land.

„Habt ihr Verletzungen?“, rief Anna über das Rauschen hinweg.

Jan zögerte. Prellungen, Hautabschürfungen, ein Stechen, wenn er das rechte Fußgelenk bewegte – nichts Ernsthaftes. „Ich bin fahrtüchtig.“

Michael humpelte auf ihn zu. Ein Bein belastete er möglichst kurz.

Jan lief ihm entgegen. „Hast du was abbekommen?“

„Ab ist nichts.“ Michael blieb stehen. Das Wasser, das an seinem linken Bein herabfloss, färbte die Steine dunkel. „Aber im Oberschenkel habe ich eine Fleischwunde.“

„Tief?“

„Ordentlich.“

„Und an der Stirn?“

„Nur abgeschürft. Und du? Am Hals?“

Jan fuhr sich über den bärtigen Hals und schaute auf seine Finger, an denen ein wenig Blut klebte. Der Schnitt, den ihm Gregor mit dem Messer zugefügt hatte, um ihm den Pilz einzuflößen, war aufgeplatzt. Er wendete sich zu Anna und rief: „Michael hat eine Wunde am Oberschenkel!“

„Ich versuche das Kanu flott zu machen und zu euch zu kommen.“

„Wo ist das Kanu?“

„Es steckt fest.“ Anna lief ein Stück den Fluss hinauf, nahm Anlauf und sprang auf einen Felsbuckel, der wie ein Wal aus dem Wasser schaute. Direkt daneben widerstand ein kleinerer, spitzerer Fels der Strömung. Dazwischen musste das Kanu klemmen.

Jan ließ seinen Blick über die Umgebung gleiten. Um sie herum wuchs dichter Wald – falls ihr Geschrei den Mörder anlockte, würden sie ihn nicht bemerken. Und ihr Gewehr befand sich im Kanu oder irgendwo am Grund des Flusses.

Anna legte sich über den Felsbuckel und beugte sich mit dem Oberkörper hinab. Kurz darauf drückte sie sich hoch und drehte sich um. „Nichts zu machen. Die Spitze hat sich unter Wasser in die Spalte gebohrt. Ich muss aufs Kanu. Vielleicht kriege ich es dann los.“

„Das ist zu gefährlich!“, schrie Jan.

„Ich muss sowieso das Gepäck holen.“

„Warte, ich will mir das erst ansehen.“

„Wozu? Wir brauchen das Essen und das Gewehr! Falls es noch da ist.“ Sie rutschte auf den Hintern und ließ sich den Fels herabgleiten, bis nur noch Kopf und Schultern zu sehen waren. So stand sie einen Moment, ehe sie verschwand.

Jan starrte hilflos auf den nächtlichen Fluss. Nach wenigen Sekunden sah er einen Rucksack, der auf den Felsbuckel geschoben wurde. Es folgte ein weiterer und dann Anna, das Gewehr geschultert. Sie erhob sich vorsichtig, warf einen Rucksack nach dem anderen an Land und machte einen Schritt zum Rand des Felsens. Dort blieb sie stehen, wippte und sprang. Wasser spritze auf, sie fiel vornüber und fing sich mit den Händen auf dem steinigen Untergrund ab.

„Hast du dir weh getan?“

Sie betrachtete ihr Handflächen und hielt sie ins Wasser. „Ich laufe stromabwärts, bis ich irgendwie rüber kann, und komme euch entgegen.“

„Einverstanden.“

Sie stand auf und legte sich die Rucksäcke vorne und hinten an.

Er wandte sich Michael zu und schob den Arm unter dessen Schultern durch. „Ich kann dich stützen. Meinst du, es geht?“

„Das Adrenalin geht, der Schmerz kommt.“ Michael setzte den rechten Fuß nach vorne und zog den linken nach.

„Wir können auch hier auf sie warten.“

„Wir müssen weg vom Kanu.“

Sie quälten sich zitternd voran. Jans Fußgelenk stach, und der Druck von Michael, der sich kräftig auf ihn stützte, machte es nicht besser.

Michaels Zähne schlugen aufeinander. „Extremkneippen.“

„Bei mir wäre es an der Zeit für den Warmgang.“

„Wenn ich gewusst hätte, dass du so eine Memme bist, hättest du zu Hause bleiben müssen.“

Jan malte sich aus, was für ein Bild sie abgaben: zwei junge Männer, die triefend nass, die Kleidung zerrissen, die Körper blutig geschlagen ein mondbeschienenes Ufer entlanghumpelten und dabei witzelten.

Nach einigen Minuten konnten sie immer noch die Stromschnellen sehen, während Anna bereits außer Sicht war. Ein Stück weiter versperrte ihnen ein Hügel den Durchgang. Sie drehten frühzeitig in den Wald ab, um sich den Anstieg zu erleichtern.

„Ich bin’s!“ Anna hatte sich ihnen bis auf wenige Meter von der Seite genähert. Sie hatten sich so auf ihr beschwerliches Fortkommen konzentriert, dass sie sie nicht bemerkt hatten.

„Na endlich, die Krankenschwester.“ Michael humpelte an Jans Seite zu einem halbvermoderten Baumstamm und setzte sich wie ein alter Mann.

Anna trat zu ihnen. Das Wasser tropfte von ihrem Körper.

„Meinst du, das Gewehr funktioniert noch?“, fragte Jan.

„Vermutlich schon, ist ja keine Arkebuse. Aber ich habe andere schlechte Neuigkeiten. Die beiden Rucksäcke mit den Seilen waren noch da.“

Michael hob den Kopf. „Was so viel heißt, wie dass der mit dem Verbandszeug fehlt?“

„Richtig.“

„Mist!“

„Beschwer dich beim Reiseleiter.“ Anna sagte das ohne bösen Unterton.

„Schaust du dir die Wunde an?“

„Lasst uns erst die Klamotten auswringen, sonst erfrieren wir. Wenn du wieder was anhast, versuche ich mein Bestes.“

Jan zog Michael in den Stand und half ihm, Hose und Shorts abzulegen. Dann entkleidete er sich rasch selbst. Anna stand abgewandt hinter ihnen. Wasser klatschte zu Boden, während sie ihre Kleidung zu Zöpfen verdrehten. Jan nahm sich jedes Stück dreimal vor, ehe er sich wieder hineinzwängte.

Michael setzte sich ohne Hose zurück auf den Stamm und ließ Anna die Wunde inspizieren. Er schrie gellend, als sie sie auseinanderzog. Im Unterholz raschelte es, ein Vogel flatterte davon. Anna suchte ein flaches Holzstück, auf das er beißen konnte, und wiederholte den Vorgang. „Innen ist sie sauber“, stellte sie fest. „Nur am Rand ist Dreck rangekommen. Den muss ich entfernen. Leg dich hin.“

Michael legte sich mit dem Rücken auf den weichen Waldboden und streckte das verletzte Bein. Anna brachte die Spitze ihres Messers über der Feuerzeugflamme zum Glühen und ließ sie erkalten. Dann gab sie Jan das Zeichen, Michaels Arme festzuhalten, setzte sich auf die Schienbeine und kratzte am Rand der Wunde. Michael bäumte sich auf, die Muskeln in Gesicht und Hals traten hervor, das Beißholz knirschte. Anna spülte die Wunde aus und ließ von ihm ab. Er sank winselnd zurück.

„Eigentlich muss man so was unbedingt nähen“, sagte Anna düster. „Aber wir haben keine Nadel. Mehr als einen festen Verband kann ich dir nicht bieten.“

Sie zerriss zwei Reserve-T-Shirts und wickelte sie um Michaels Bein. „Immerhin, die Wunde ist sauber.“

„Was hilft mir das?“ Er richtete den Oberkörper auf und stützte sich nach hinten mit den Armen ab. Seine Stimme war brüchig. „Laufen kann ich damit vergessen.“

„Laufen wird schwierig.“

„Wie weit ist es noch?“ Jan versuchte, aus dem Kopf die Entfernung der östlichen Berge einzuschätzen, die der Hügelrücken verdeckte. „Wenn wir unversehrt und frisch wären, würde ich bis zum Talende auf mindestens drei bis vier Stunden tippen.“

Michael nickte dumpf.

„Eher mehr“, sagte Anna. „Vor uns wird das Gelände hügeliger, ich hatte eben einen guten Ausblick.“

„Das schaffe ich nicht. Ich bleibe hier.“ Die Hoffnungslosigkeit schien Michael zu erleichtern. Er wollte offensichtlich alle Illusionen vernichten, um nicht qualvoll enttäuscht zu werden.

„Was soll das?“, fuhr Jan ihn an und blickte hilfesuchend zu Anna. Doch die betrachtete Michael mit Respekt und schwieg. „Wir bauen ein Floß“, sagte er energisch.

Anna schüttelte den Kopf. „Das dauert zu lange. Bevor wir ausreichend Holz geschlagen haben, ist der Mörder zur Stelle.“

Michael ließ sich wieder auf den Rücken sinken und redete zum Himmel. „Lasst mich mit etwas Verpflegung, einer Decke und einem Messer zurück und nutzt die Nacht, um die Schlucht zu erreichen. Dort baut ihr euch ein behelfsmäßiges Floß und hofft, dass es euch damit keinen Wasserfall runterschanzt. Wenn ihr die Zivilisation erreicht, werde ich wenige Stunden später gerettet.“

„Ausgeschlossen!“ Jan war die Vorstellung, Michael allein zu lassen, unerträglich. Vielleicht war er nicht vernünftig, aber sie durften sich nicht trennen! „Wir wissen nicht, wie die Schlucht aussieht. Vielleicht versuchen wir erst gar nicht, uns da runtertreiben zu lassen. Und niemand weiß, ob wir riskieren können, ein Floß zu bauen. Sonst müssten wir uns verstecken und uns die nächsten zwei Wochen irgendwie durchschlagen. Wenn du dann allein verletzt rumliegst, gehst du drauf, selbst wenn der Mörder dich nicht findet.“

„So schnell stirbt es sich nicht.“

„Ich habe mal einen Tierfilm gesehen, in dem ein Vielfraß ein Karibu totgebissen hat.“

„Tiere mögen den menschlichen Geruch nicht.“

Anna legte Jan eine Hand auf den Arm. „Michael hat recht.“

Jan konnte sich nicht vorstellen, wie Anna und er auf der anderen Seite der Berge aus dem Fluss steigen und die Rettung verständigen würden. Er fand einfach kein Bild dafür, und das machte ihm Angst. „Nein, ich gehe nicht weiter. Mein Fußgelenk ist verstaucht. Und wir sind alle ausgelaugt. Wir haben nicht mehr die Kraft, um das alles durchzuhalten: bis zur Schlucht laufen, ein Floß zimmern, uns mehrere Stunden daran festklammern, während uns das Wasser herumschleudert. Vielleicht kannst du das noch, Anna – ich nicht.“ Damit hatte er sich selbst überzeugt. Er würde nicht nachgeben.

„Dann bleiben wir also hier“, sagte Anna.

Jan half Michael, die Hose anzuziehen, und schnitt an der zerfetzten Stelle über der Wunde ein größeres Stück Stoff heraus, um Reibung zu vermeiden. Gemeinsam mit Anna führte er ihn einige Hundert Meter tiefer in den Wald, wo sie in ein Gebüsch krochen. Dort wrangen sie ihre Reservekleidung und die Decken aus und aßen durchweichtes Knäckebrot mit Wurst. Dann legten sie sich eng aneinander und wickelten sich in die Decken. Obwohl Jan den privilegierten Platz in der Mitte hatte, fror er erbärmlich.

Der Himmel färbte sich blau, die Sterne verblassten. Jan kam immer wieder zu Bewusstsein und driftete bald zurück in den Schlaf. Er träumte davon, dass ein Untier um ihr Haus tobte und mit scharfen Klauen die Wand zertrümmerte.

Als er wieder einmal die Augen aufschlug, umgab ihn Morgennebel. An seine Vorderseite geschmiegt lag Michael und atmete pfeifend. Von hinten spürte er Annas Wärme. Er drehte sich um und schaute aus nächster Nähe in ihre wachen Augen.

Er wusste, dass auch ihr Körper Spuren davongetragen hatte. Die Mullbinde an ihrem Arm war beim Kanu-Unfall heruntergerissen worden, und Jan hatte die gekreuzten Schnitte gesehen, die ihr Gregor beigebracht hatte – möglicherweise hatte er ihr die Haut abziehen wollen, ehe er sich darauf verlegt hatte, sie anzuzünden. Die Fesseln hatten die Gelenke aufgescheuert. Und an ihrer Stirn prangte eine bläuliche Beule, die sie sich im Wildwasser zugezogen haben musste. Aber nichts davon hatte sich in ihrem Blick niedergeschlagen. Sie war nicht gezeichnet wie eine, die, knapp dem Tod durch Feuer und Wasser entronnen, von einem Mörder verfolgt wurde. Sie lag nach kurzem Schlaf in einer feuchten Decke auf hartem Boden – und doch musste Jan an eine Wildkatze vor dem Sprung denken.

„Bist du schon lange wach?“, flüsterte er.

„Ein bisschen.“

„Müssen wir nicht los?“

„Der Mörder dürfte uns überholt haben und an der Schlucht auf der Lauer liegen. Das ist der einzige Ausweg aus dem Tal, den wird er bewachen.“

„Aber falls er das Kanu gesehen und Michaels Blutspuren am Ufer gefunden hat und die Gegend durchkämmt -“

„Bei dem Nebel?“

Jan streckte seine steifen Glieder. Ihm war, als wären die Muskeln zwischen den Schulterblättern zu schmerzenden Eisklumpen gefroren. Seine Füße waren taub in den nassen Schuhen.

Behutsam kroch er unter der Decke hervor, entfernte sich einige Meter und stellte sich hinter einen Stamm, um zu pinkeln. Um ihn herum öffnete der Wald seine schattigen Schlünde. Die Bäume schienen zwischen den Nebelschwaden umherzuirren. Vermooste Rinden, dunkle Nadeln und Blätter, nur hier und da ein gedämpfter Lichtstrahl, der die Farben hervortreten ließ.

Er machte einige Kniebeugen, um sich aufzuwärmen.

Ein Knacken – Anna tauchte aus dem Nebel auf. „Perfektes Wetter.“

„Besser können wir es uns nicht wünschen.“

„Ich habe die feuchten Reserveklamotten aufgehängt.“

„Wir sollten nicht leichtsinnig werden.“

„99 Prozent – der Mörder ist am Eingang der Schlucht. Ich habe heute Morgen nachgedacht. Wenn man vom Haus aus zum östlichen Talende will, macht man einen Umweg, indem man dem Ufer und dann dem Fluss folgt – das ist nicht die Luftlinie. Hinzu kommen die ganzen Biegungen. Und hier im Hügelland muss man sich sowieso vom Fluss trennen. Der Mörder dürfte vom Haus aus einen direkteren Weg eingeschlagen haben.“

„Klingt überzeugend.“

„Außerdem wäre es riskant gewesen, uns zu folgen. Wir hätten irgendwo lagern oder ihm gezielt eine Falle stellen können. Und er musste sich beeilen – da hätte er uns vors Gewehr laufen können.“ Anna machte eine Pause und Jan fragte sich, ob sie in ihrer Fantasie den Mörder ins Visier nahm. Sie bewegte den Kopf mit einem kleinen Ruck und blickte Jan in die Augen. „Er weiß also nicht, dass wir das Kanu verloren haben, und rechnet bald mit uns.“

Jan nickte, er war jetzt hellwach.

„Der Mörder wird uns nicht beliebig lange an der Schlucht auflauern. Irgendwann geht er uns suchen, und dann können wir durchschlüpfen. Anfangs wird er sich dabei nicht weit von der Schlucht und dem Flusslauf entfernen. Wir sollten uns mindestens zwei Tage verstecken, ehe wir uns in die Gegend trauen. Dann beobachten wir den Zugang einen weiteren Tag, und wenn wir nichts von ihm sehen, versuchen wir unser Glück.“

„Drei Tage warten?“

„Wenn wir uns ein Floß bauen wollen, brauchen wir viel Zeit, und er muss weit weg sein, damit er uns nicht hört. Früher können wir das nicht wagen.“

„Hält Michael so lange durch?“

„Wenn sich die Wunde nicht entzündet, ja.“

„Wie groß ist das Risiko?“

„In der Nacht wirkte sie sauber.“

Er durfte nicht an den Riss im Fleisch denken, sonst zog sich alles in ihm zusammen. Aus Annas Gesicht hingegen sprach eine kühle Missbilligung, wie unsicher ihre Prognose und wie unzulänglich die Behandlung war. Sie könnte eine gute Ärztin werden, sollte sie überleben. Er hakte nach: „Denkst du, er ist eher jetzt in der Lage, die Schlucht zu erreichen, oder in zwei Tagen?“

„Das kann ich nicht sagen. Ein Onkel, der Hausarzt ist, und ein Praktikum im Krankenhaus werden nicht als Medizinstudium anerkannt.“

„Dann sollten wir jetzt probieren, bis auf eine Stunde an die Schlucht ranzukommen.“

„Dort kann uns der Mörder aufspüren.“

„Dafür ist das Risiko geringer, dass Michael es nicht bis zur Schlucht schafft.“

Anna dachte nach. „Wenn schon sterben, dann mit Anstand.“

Jan legte die Stirn in Falten. Seit wann war Anna so pessimistisch?

„Dein Motto!“ Der undurchdringliche Blick, den sie zeigte, wenn sie in ihrer toughen Rolle aufging. „Meines heißt: Überleben!“

Ein blauer Fleck ließ sich über ihnen erahnen, der Nebel lichtete sich. Sie sammelten die Kleidung ein und verstauten sie in den Rucksäcken. Dann weckten sie Michael. Anna rollte den Verband auf und stellte betroffen fest, dass die Wunde nässte. Sie riss einen Streifen vom letzten unversehrten Reserve-T-Shirt, legte ihn auf die Wunde und zog den Verband wieder fest.

Beim Frühstück zwischen Nebelfetzen erläuterten sie Michael ihren Plan. Als er hörte, dass er noch drei Tage aushalten musste, erbleichte er.

Sie gingen los. Vom Rücken des Hügels aus hatten sie freien Blick nach Osten. Die Landschaft war welliger und kahler als die, durch die sie bislang gekommen waren. Die Berge ringsum schienen ins harte Blau gemeißelt.

Jan hoffte darauf, dass Michael sich in eine Trance laufen würde wie Gregor damals. Das Gegenteil war der Fall: Michael wurde langsamer, stöhnte bei jedem Schritt und belastete sein verletztes Bein immer weniger. Anna und Jan mussten ihn von beiden Seiten stützen. Wenigstens ließ das Stechen in Jans geschwollenem Fußgelenk nach, als er sich warmgelaufen hatte.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie auf dem nächsten Hügel standen. Die Sonne hatte ihre Kleidung weitgehend getrocknet, nur die Wanderschuhe blieben durchweicht. Sie gewährten Michael eine kurze Rast auf flechtenüberzogenen Steinen und tranken und aßen eine Kleinigkeit.

Das Talende war kaum nähergerückt. Dafür trennten sie nur wenige Kilometer von der südlichen Gebirgskette. In einigen Seitentälern reichte der Wald dort hoch hinauf, von Schneisen durchzogen, in denen im Winter die Lawinen wüten mussten – in Schattenlagen reichten längliche Schneereste weit hinunter. Auf den Wind und Wetter ausgesetzten Rücken und Flanken hielten sich nur Gräser und Büsche. Tausend Meter über dem Tal thronte der breite Gipfel dieses Vorbergs, dahinter bleckten die Viertausender ihre schneeweißen Zähne.

Der Fluss mäanderte ein gutes Stück nördlich. Selbst von hier sahen sie den Schaum des Wildwassers. Wo der Fluss sich so tief eingegraben hatte, dass er ihren Blicken verborgen blieb, musste es erst recht tosen. Sie verloren darüber kein Wort, doch die Zweifel, dass sie sich über viele Kilometer durch die große Schlucht würden treiben lassen können, zeichneten sich auf ihren Mienen ab.

Sie halfen Michael auf und mühten sich den Hügel hinab. Die Bäume wurden spärlicher und bald fehlte jegliche Deckung oberhalb des kniehohen Grases. Jan fühlte sich ausgesetzt. Zwar konnte der Mörder nicht mehr plötzlich hinter einem Stamm hervorschnellen, dafür drohte ihnen die realistischere Gefahr, dass er sie von einer Kuppe erspähte. Er hatte ihren Feldstecher, und vermutlich hatte er sich bereits bei einem früheren Opfer eingedeckt. Sollte er sie sehen, waren sie verloren. Mit Michael war an Flucht nicht zu denken.

In der Senke floss ein baumumstandenes Bächlein, an dem sie eine längere Pause einlegten. Michael ließ sich auf den Rücken sinken, streckte die Arme zu den Seiten und starrte in den Himmel.

Zweimal bat er um eine Verlängerung, bevor er sich zum Aufbruch bewegen ließ. Halb stützten, halb trugen sie ihn über leicht ansteigendes Grasland zu einer Vertiefung zwischen den nächsten Anhöhen. Jans Fuß stach wieder – die Belastung war zu groß.

Plötzlich blieb Anna stehen und wies nach Südosten. Der Fluss hatte direkt zu den südlichen Bergen hin gedreht und verschwand zwischen den Felswänden. Selbst bei ihrem Stop-and-go-Tempo würden sie keine zwei Stunden dorthin benötigen. Die Freude über die glückliche Wendung des Flusses blitzte auf – und erlosch sogleich. Ihre Lage war zu bedrohlich und Michaels Leiden zu eindrücklich, als dass sie daraus hätten Zuversicht ziehen können.

Sie stiegen den Hügel, den sie sich eben hinaufgequält hatten, wieder hinab und fanden am Bächlein eine Kuhle, die ein umgestürzter Baum aus der Erde gerissen hatte. Das mächtige Wurzelwerk, das mannshoch emporragte, gab ihnen von hinten zusätzlich Deckung.

Sie kauerten sich hinein. Michael streckte das verletzte Bein und breitete einen Pulli über dem Gesicht aus. Sein Körper zuckte manchmal, als ob er weine. Dabei gab er keinen Laut von sich.

Jan lauschte dem Rascheln und Scharren von Mäusen und Vögeln und suchte darin das verräterische Knacken eines menschlichen Schritts. Die beiden Tage des Wartens schienen nicht vor ihm zu liegen, sondern auf ihm, eine erdrückende Masse bleierner Momente der Untätigkeit, während derer er versuchen musste, für jede Regung in ihrem Umkreis aufmerksam zu sein, ohne Michaels Schmerzen wahrzunehmen.

Eine Fliege surrte um ihre Köpfe und ließ sich auf Michaels Verband nieder. Jan hätte nur allzu gerne versucht, sie aufzuscheuchen und im Flug zu erschlagen. Aber sie mussten stillhalten und die Zeit über sich ergehen lassen. Die Fliege hüpfte auf Michaels nackten Oberschenkel neben dem Verband. Er zog sich den Pulli vom Kopf, wedelte sie davon und legte den Pulli über das Loch in seiner Hose. Seine Augen glänzten, Schweißperlen standen auf seiner zerfurchten Stirn.

Jan hielt den Anblick nicht mehr aus. „Willst du dir die Wunde nicht nochmal ansehen?“, flüsterte er zu Anna.

„Und dann? Machen kann ich nichts.“ Ihre Stimme klang selbst flüsternd gereizt – auch ihr musste die Hilflosigkeit unerträglich sein. „Was meinst du, Michael?“

„Weiß nicht.“

Sie nahm seine Hand und maß den Puls. „Unregelmäßig, aber kein Fieber. Ich schau nochmal nach.“ Sie wickelte die Stofffetzen vom Bein. Jan blickte ihr über die Schulter: Die Wunde war gelblich und feucht, darum herum zog sich ein roter Rand. Anna betastete ihn und schloss den Verband. Sie biss sich auf die Lippe und sah Michael an. „Du hast eine Infektion.“

„Was bedeutet das?“, fragte er ängstlich.

„Damit kenne ich mich kaum aus. Ich weiß nur, dass der rote Rand, an dem sich das Gewebe nicht mehr bewegen lässt, ein schlechtes Zeichen ist. Es gibt Bakterien, die fressen das Fleisch in der Wundzone von innen auf. Oder sie gehen ins Blut.“

Michael starrte sie an, als habe sie sein Todesurteil verkündet.

„Hast du eine Tetanus-Impfung?“

„Ja, das habe ich vor der Reise gecheckt.“

„Gut. Das ist wichtig.“ Sie lächelte. Jan schien es, dass sie die Frage gestellt hatte, um Michael zu beruhigen.

Er spähte umher. Die Bäume warfen fast senkrechte Schatten auf das hohe Gras. „Kann er drei Tage warten?“

Es dauerte einen Moment, bis er eine Antwort erhielt. „Nein.“

„Wie lange kann er warten?“

Diesmal ließ sich Anna mit ihrer Antwort noch mehr Zeit. „Das kann ich nicht sagen. Eine Wundinfektion, die nicht rechtzeitig behandelt wird, erfordert häufig eine Amputation. Und wenn sich die Bakterien über die Blutbahnen verbreiten, kann das tödlich enden.“

Sie schwiegen. Die Mittagshitze hatte Jans Mund ausgedörrt. Er trank aus einer Wasserflasche und reichte sie an Michael weiter. Sie mussten ihn hier rausbekommen oder Hilfe holen! Aber könnte er Anna überzeugen, dass sie ihren Plan ändern mussten? Seit Michael den Tisch umgeworfen hatte, waren die beiden unauffällig miteinander umgegangen. Die Ereignisse diktierten ihr Verhalten und ließen keinen Raum für Streit. Und dass Michael das Gewehr auf sie gerichtet hatte, als er sie im Flur geweckt hatte, war ihr wohl entgangen. Jan überlegte, wie er ihr vermitteln könnte, dass er schon heute Nacht den Eingang zur Schlucht erkunden würde, während sie auf Michael aufpasste.

Er hörte Geräusche neben sich. Anna wühlte in ihrem Rucksack. „Wir nehmen nur das Minimum mit. Munition und Verpflegung, und eine Decke, damit nichts klappert.“

„Du willst los?“

„Vielleicht können wir den Mörder überraschen und töten.“

„Jetzt?“

„Ja.“

„Soll nicht einer bei Michael bleiben?“

„Zu zweit haben wir bessere Chancen, den Mörder zu entdecken, bevor er uns entdeckt. Michael bleibt in der Kuhle und hält still.“

„Danke“, sagte Michael schluchzend. Jan schaute nicht hin.

Sie vermischten Erde mit Wasser und beschmierten sich Gesicht und Arme, packten, verabschiedeten sich und brachen auf, als kämen sie gewiss bald wieder.

Die Anhöhe, auf der sie bereits gestanden hatten, umgingen sie. Da sie den Mörder am Eingang der Schlucht vermuteten, mussten sie Orte meiden, die er mit dem Feldstecher einsehen konnte. Anna lief vorne mit dem Gewehr, Jan folgte in zehn Meter Abstand. Ihre Aufgabe war es, die unmittelbare Umgebung zu kontrollieren, wohingegen er für die Hügelrücken zuständig war, von denen aus der Mörder sie beschießen könnte.

Jan wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß aus den Augen, während sie unter der prallen Sonne dahineilten. Je schneller sie waren, desto geringer das Risiko. Er biss die Zähne zusammen und machte mit dem verstauchten Fuß ebenso große Schritte wie mit dem anderen.

Zwischen den nächsten Hügeln mussten sie ein wenig hinaufsteigen. Von oben konnten sie einen Abschnitt des Flusses sehen, der hinter einem langgezogenen, von Heidekraut überwucherten Hügel verschwand. Ein paar Hundert Meter weiter öffnete der Berg dem Fluss seine mächtige Pforte. Zu beiden Seiten erhoben sich Felswände in mehreren Stufen wie ein Bollwerk. Im unteren Teil hielten sich Nadelbäume im Fels.

Wenn der Mörder den Durchgang im Auge behalten wollte, saß er entweder irgendwo zwischen den schattigen Felsen im Bollwerk darüber, oder er bewachte die Schlucht von einem Versteck entlang des Flusses, auf das ihnen der letzte Hügel die Sicht verwehrte.

Weiterzulaufen wäre tollkühn. Also zogen sie sich ein Stück zurück und beratschlagten. Dann gingen sie nach Westen, bis sie wieder auf das Bächlein trafen, das auch an Michaels Versteck vorbeifloss. Doch sie folgten dem Lauf in die entgegengesetzte Richtung zum Fuß des Berges. Dort angelangt arbeiteten sie sich im steilen Wald zur Schlucht zurück. Häufig mussten sie auf der Suche nach Durchgängen zwischen den Felsabsätzen umkehren, insgesamt gelang es ihnen jedoch, Höhe zu gewinnen.

In der Nähe der Schlucht wurden sie noch vorsichtiger. Jan beobachtete jeweils das Gelände vor und über ihnen, während Anna einige Meter weiterschlich und dann auf ihn wartete. So gelangten sie an einen senkrechten Riss in der Felswand, vor dem eine Lärche wuchs. Anna hängte sich das Gewehr um und machte sich an den Aufstieg. Der Baum zitterte leicht, wenn Anna sich mit dem Fuß dagegenstemmte. Als sie oben war, spähte sie über den Rand und raunte Jan zu, nachzukommen.

Er lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm und blickte den Riss hinauf. Die Wand war etwa zehn Meter hoch. Im oberen Teil weitete sich der Riss und flachte ab – wenn Jan diesen Trichter erreichte, hatte er es geschafft. Aber auf den ersten Metern bot sich ihm nichts als der glatte Riss und der Stamm einen Meter dahinter.

Jan griff mit den Händen in den Riss und zog sie auseinander, um Halt zu haben. Den einen Fuß klemmte er darunter, mit dem verstauchten stützte er sich an der Lärche ab, wie er es bei Anna gesehen hatte. In kleinen Etappen kämpfte er sich nach oben. Er musste immer fester ziehen, um mit seinen feuchten Händen nicht abzurutschen, doch seine verkrampften Unterarme waren dazu immer weniger in der Lage. Anna redete ihm leise zu: Er solle ruhig bleiben, er brauche seine Arme nur zum Stabilisieren, die ganze Kraft könne er aus den Beinen nehmen. Er schimpfte innerlich, sie solle ihm verdammt noch mal nicht reinreden – und schrie auf, als seine rechte Hand aus dem Riss rutschte. Er kippte nach links, verlor mit dem Fuß den Rückhalt am Baum und pendelte gegen die Felswand. Ein Adrenalinstoß jagte durch seinen Körper. Er hing etwa vier Meter über dem Grasband, der Riss zog sich zwei weitere Meter durch den Fels. Der Baum war unerreichbar.

Mit blinder Wut zerrte sich Jan in dieser Schräglage an der Kante hinauf, während er seine Füße gegen die andere Seite des Risses presste, um Gegendruck zu erzeugen. Die letzten Meter in weniger steilem Gelände robbte er über den Fels und klammerte sich immer noch an die nun großzügig vorhandenen Griffe, als er bereits neben Anna lag und nicht mehr stürzen konnte.

Anna ließ ihren Blick umherschweifen, während Jan seinen Atem beruhigte und die Unterarme massierte. Dann folgten sie dem Absatz Richtung Schlucht und setzten sich an einen Quader, der so gleichförmig aus der Wand herausgebrochen war, dass er von Menschenhand geschaffen schien. Die Sonne stand hoch am Himmel, der Schatten der Felswand in ihrem Rücken reichte gerade über ihre ausgestreckten Beine.

Sie befanden sich nun höher als der heidekrautbewachsene Hügel, der dem Mörder keine Deckung bot. Auch direkt am Ufer konnte er sich nicht befinden: Es war steinig und von ihrer Position bis nahe an die Schlucht heran einsehbar. Die Ausnahme bildete ein kleines Wäldchen auf der gegenüberliegenden Seite, das bis nahe an den Fluss heranreichte.

Der erste Lufthauch des Tages strich über sie hinweg. Jan lächelte unwillkürlich. Der Ausblick war eines Fotobandes würdig.

„Dort ist er“, flüsterte Anna.

„Wo?“

„In dem Wäldchen.“

„Hast du ihn gesehen?“

„Nein. Aber das Wäldchen ist ideal. Auf der einen Seite der Fluss, auf der anderen Grasland – von da kontrolliert er ungesehen die Schlucht, ohne dass sich jemand an ihn ranschleichen kann.“

Die Vorstellung, dass der Mörder nicht hinter dem nächsten Felsen hockte und auch nicht in der kaum einen Steinwurf entfernten Wand gegenüber, war erleichternd. Dafür missfiel es Jan, dass der Mörder sie just in diesem Moment ungesehen mit dem Feldstecher beobachten mochte. „Meinst du, er hat uns schon entdeckt?“

„Er wird uns hier nicht vermuten, schließlich kommen wir von hier nicht zum Fluss runter. Und im Schatten sind wir schwer auszumachen. Solange er nur flüchtig herschaut, dürften wir ihm entgehen.“

„Eben waren wir noch in der Sonne.“

„Vielleicht hat er uns ja gesehen, aber wir sind zu weit weg, um uns sicher zu treffen und er will sich nicht verraten. Was soll er machen? Am Ufer entlanglaufen, bis wir aufeinander schießen können?“

„Da hätten wir die besseren Karten.“

Anna zuckte die Schultern. „Wir wissen nicht, was für ein Gewehr er hat und wie gut er schießt. Vielleicht hat er uns auch nur noch nicht gesehen.“

Jan kniff die Augen zusammen. Wenn Anna recht hatte, trennten sie nur wenige Hundert Meter von dem Wahnsinnigen, der Laura und wohl auch Jenny ermordet hatte. Und viele andere vor ihnen. „Verziehen wir uns.“

„Gleich.“

„Hast du eine Idee, wie wir an den Fluss gelangen können?“

Ein leichter Windstoß blies ihr eine Locke in die Stirn. Sie strich sie ungeduldig zur Seite. „Keinen Schimmer. Nicht mal nachts und erst recht nicht mit Michael. Abgesehen davon brauchen wir ein robustes Floß, sonst können wir uns auch eine Stromschnelle flussaufwärts suchen und uns dort ertränken.“

„Wir sollten uns zurückziehen.“ Er dachte an den Riss. „Dumm, dass wir kein Seil dabeihaben.“

„Natürlich! Wir könnten uns ablassen! Wenn wir wiederkommen, zur Schlucht.“ Sie rappelte sich auf, lief den Absatz weiter, bis er zur Schlucht hin abbrach, hielt sich mit einer Hand fest und lehnte sich nach vorne.

Jan folgte ihr und spähte mit etwas größerem Abstand über die Kante. Gut fünfzig Meter unter ihnen floss der dunkelgrüne Strom. Auf der gegenüberliegenden Seite strahlte ein Uferstreifen weißlich im Sonnenlicht.

Anna machte einen Schritt zurück. „Wir binden die beiden Seile zusammen und lassen uns ab.“

„Woher willst du wissen, dass du nicht im Fluss landest?“

„Wenn auf unserer Seite kein Uferstreifen verläuft, müssen wir eben rüberschwimmen.“

„Und wo willst du das Seil befestigen? Hier ist nirgends ein Baum.“

„Am Quader.“

„Der müsste halten.“

„Der wiegt locker eine Tonne. Da können wir uns zu dritt gleichzeitig dranhängen.“

Jan spürte Hoffnung aufkeimen. Sogleich verließ sie ihn wieder. „Wir werden Michael hier nicht hoch bekommen.“

„Vielleicht finden wir einen einfacheren Weg. Sonst ziehen wir ihn mit dem Seil die Wand rauf und er soll uns so viel unterstützen, wie er kann.“

„Und wenn wir in der Schlucht sind?“

„Dann finden wir mit etwas Glück genügend Schwemmholz für ein Floß. Sonst verschanzen wir uns und sehen weiter.“

„Okay, lass uns schauen, ob es einen leichteren Zugang hierher gibt.“

Sie liefen den Absatz zurück, doch dieser endete bald. Die einzige Möglichkeit herunterzukommen war der Riss, den sie für den Aufstieg verwendet hatten. Anna stieg als Erste ab.

„Pass auf“, rief sie, als sie unten stand, „man kann am Baumstamm leicht abrutschen.“

Jan kletterte bis zum Riss und blickte hinunter. ‚Es sind nur sechs Meter‘, sagte er sich – und dachte: ‚Genug, um sich alle Knochen zu brechen. Oder sich eine Wunde zuzuziehen wie Michael.‘ Er stellte sich vor, dass er sich an zwei Griffen herablassen und dann mit einem Fuß weit nach hinten ausgespreizt den Baum finden müsste, woraufhin er die Griffe loslassen und –

Der Abhang unter ihm begann, sich zu drehen. Er kletterte ein Stück höher, bis er einen guten Tritt fand, und rief: „Ich kann das nicht!“

Er erhielt keine Antwort. Da er Anna nicht sehen konnte, wurde er nervös. „Anna?“

„Ich gehe Michael allein holen.“

„Er braucht uns beide, um ihn zu stützen.“

„Du kannst von hier oben Ausschau halten. Wenn du den Mörder auf unserer Seite siehst, hängst du die Decke über den Felsen.“

„Soll ich nicht doch versuchen -“

„Nein, bleib hier.“

Jan blickte auf das Wäldchen und über die Hügel. Es stimmte, dass er den Mörder entdecken und den anderen ein Zeichen geben könnte. „Hol mich, wenn ihr mich braucht. Notfalls komm ich da runter!“

„Ja.“

„Pass auf dich auf!“

„Halt dich im Schatten. Und häng die Decke nur auf, wenn der Mörder sich eindeutig auf uns zubewegt!“

„Ich bin vorsichtig. Bis gleich.“

Er wartete noch eine Weile, dann nahm er den vertrauten Platz an der Felswand ein. Er rutschte so tief, dass er gerade über den Absatz hinweg das Wäldchen observieren konnte. Zwischendurch ließ er den Blick über die Hügel streifen. In der Ferne konnte er den flachen Rücken mit der Mulde erkennen, hinter dem Michael lagerte.

Letztlich war alles Spekulation. Möglicherweise war es dem Mörder nur recht, wenn sie die Schlucht hinunterführen, weil die Wassermassen sie dort unweigerlich zerschmettern würden. Er mochte sie ganz woanders jagen, wo er mit seiner überlegenen Ortskenntnis eine günstigere Ausbruchsstelle kannte.

Jan dachte daran, wie die Stromschnellen sie in der Nacht auf und nieder geworfen hatten, und ihm graute bei dem Gedanken an die Fahrt, die vor ihnen lag, falls ihr Plan aufging. Er malte sich aus, wie ihr notdürftiges, steuerloses Floß zermalmt würde. Und selbst wenn sie sich auf einen Vorsprung retten könnten, würden sie dem Hunger erliegen. Oder reichte das bisschen, das sie in ihren Rucksäcken bei sich trugen? Wie viel Nahrung brauchte ein Mensch, um zwei Wochen zu überleben?

Das brachte ihn auf einen Gedanken: was, wenn sie sich so weit treiben ließen, dass der Mörder ihnen nicht folgen könnte, da er sonst ebenfalls feststecken würde? Ein Stamm würde dafür genügen. Bestenfalls würden sie eine Bucht finden, zumindest einen Felsvorsprung. In 16 Tagen würde der Pilot des Wasserflugzeugs zum Haus gehen, um nach ihnen zu schauen, dort Gregors Leiche finden und Alarm geben. Die Polizei würde rasch auf das Kanu stoßen und hoffentlich sogleich die Schlucht absuchen. Man würde sie halb verhungert bergen und mit Nährlösungen aufpäppeln.

Aber nein – mit Michaels Bein war das unmöglich! Wie hatte er das vergessen können? Oder hatte er eine Variante durchgespielt, die sich eröffnen würde, sollte Anna zurückkehren und berichten, dass Michael tot war?

Ein Schreck durchfuhr ihn. Hatte Anna den gleichen Einfall gehabt und ihm verschwiegen? Sie war sonst so gut darin, die Lage einzuschätzen und Pläne zu entwickeln. Und als er vor dem Riss zurückgeschreckt war, hatte sie nicht protestiert, sondern ihn darin bekräftigt, dass er bleiben solle. Sie hatte ihm sogar eine Ausrede geliefert, wie er dennoch nützlich sein könnte. Vielleicht wollte sie ihn loswerden – um Michael loszuwerden. Sie konnte irgendwo zwei Stunden warten, ehe sie zu ihm zurückkehrte und behauptete, Michael sei gestorben.

Aber sie hatten ihre Vorräte bei Michael deponiert. Anna musste zu ihm. Und dann? Wenn sie überzeugt war, dass er verloren war ... Wenn sie glaubte, Jans Leben und ihr eigenes retten zu können ... Er traute ihr zu, Michaels Leiden abzukürzen.

Sein Herz schlug schnell, er blickte hektisch über die Hügel. Anna musste noch auf dem Hinweg sein. Er könnte den Riss hinabklettern und ihr nachrennen. Unsicher stand er auf. Sein Fuß stach und er begriff, dass er Anna nicht mehr einholen würde.

Das Einzige, was er unternehmen konnte, war die Decke herauszuhängen. Das mochte Anna dazu bewegen umzudrehen, ehe sie zu Michael gelangt war. Wenn er sich jedoch täuschte und sie Michael holen wollte, würde er dessen Rettung vereiteln.

Er konnte sich nicht entscheiden, bis ihm klar wurde, dass Anna die Decke ohnehin erst wahrnehmen würde, wenn sie sich auf dem Rückweg der Felswand näherte. Bis dahin versperrten ihr die Hügel die Sicht. Das Einzige, was Jan erreichen würde, wäre, sie alle in Gefahr zu bringen, indem er dem Mörder ihren Standort verriet. Die Aufgabe mit dem Warnsignal war eine Farce!

Er setzte sich wieder an die Felswand und fragte sich, was er tun würde, falls Anna allein zurückkäme. Er würde nicht wissen, ob sie die Wahrheit sagte. Und selbst wenn er wüsste, dass sie log: Würde er nicht trotzdem mit ihr fliehen?

Die Aufregung wich der Niedergeschlagenheit. Er spürte die Schläge, die er in der Nacht im Wildwasser erhalten hatte, und eine Mattigkeit, die bis in die Knochen reichte. Seine Augenlider klappten zu, er riss sie wieder auf, setzte sich aufrechter und trank einen Schluck, um nicht einzuschlafen. Er betrachtete seine wunden, verschmutzten Hände. Er hätte sie gerne gewaschen, und auch den Schlamm, der auf seiner Haut kratzte, wäre er gerne losgeworden. Doch er durfte das kostbare Wasser nicht dafür verschwenden. Wer konnte wissen, wie lange er hier oben würde ausharren müssen?

Es war zwar noch früh am Nachmittag, doch die Felswände in seinem Rücken waren so hoch und steil, dass der Schatten eines Gipfels bereits über den Hügel zu seinen Füßen wanderte. Nach und nach schob sich die Schattenlinie weiter voran, dehnte sich zum Osten hin aus und erreichte den Fluss. Jan beobachtete, wie das leuchtende Grün des Wassers fast schwärzlich wurde, sobald es in den Schatten floss. Ein Stück tiefer im Schatten jedoch, wo der Kontrast weniger die Wahrnehmung beeinflusste, schimmerte erneut ein Grünton an der dunklen Oberfläche.

Schnell sprang Jan mit dem Blick zurück zu den Hügeln, die er vernachlässigt hatte, und suchte sie gründlich ab. Als er wieder zum Wäldchen schaute, sah er einen schwarzen Fleck, der den Fluss durchschwamm. Es war der große, längliche Kopf eines Tieres, das sich schräg mit der Strömung treibend auf das Jan gegenüberliegende Ufer zubewegte. Eine Elchkuh stakste an Land und lief flussaufwärts. Am Wäldchen stoppte sie und witterte, dann trabte sie davon. Das sprach dafür, dass der Mörder sich tatsächlich dort aufhielt. Oder hatte er sich zuvor dort aufgehalten und sein Geruch hing noch in der Luft?

Jan überlegte, wonach der Mörder riechen mochte. Er konnte sich im Tal eine behagliche Behausung eingerichtet haben und dem Gepäck der Ermordeten Shampoo, Zahnpasta, Rasierklingen und dergleichen entnehmen. Ebenso gut konnte er jeden Sinn für Körperpflege verloren haben und mit einen verfilzten, zotteligen Bart und schulterlangem Haar aussehen wie ein Vorzeitmensch.

Jan grübelte, was die eine oder andere Möglichkeit für das Verhalten des Mörders bedeuten könnte, doch er hatte zu wenige Anhaltspunkte. Der Mörder blieb unerklärlich. Sicher war nur, dass niemand, der jemals von seiner Existenz erfahren hatte, entkommen war.

Die Schatten glitten über das Wäldchen hinweg. Jan aß eine Scheibe von dem abgepackten Schwarzbrot und trank einen sparsamen Schluck aus der Plastikflasche. Die Gletscher auf der nördlichen Talseite glitzerten. Jan hatte sie auf der Suche nach Gregor ausschnittsweise gesehen. Nun reihten sie sich vor seinem Blick aneinander, als sei die Eiszeit noch im Gange.

„Jan“, rief Anna.

Er sprang auf und eilte zum Riss. Der Baum dahinter vibrierte, sie war schon in die Wand eingestiegen. Ihr Gesicht tauchte auf, sie zog sich in das trichterförmige Steilstück oberhalb des Risses und suchte sich einen guten Stand.

„Wo ist Michael?“

Sie setzte den Rucksack vor sich auf den Fels und holte ein Seil hervor. „Unten. Hast du irgendwas gesehen?“

„Eine Elchkuh, die das Ufer entlanggelaufen ist und am Wäldchen etwas gewittert hat.“

Anna ließ das Seil am Riss herab.

„Das reicht“, rief Michael herauf.

Jan erschrak über die krächzende Stimme. Leise fragte er: „Wie geht es seinem Bein?“

„Schlecht.“

„Wie läuft er?“

„Miserabel.“

Jan beobachtete ihr verschlossenes Gesicht. Vielleicht hatte sie mit dem Gedanken gespielt, Michael zurückzulassen oder umzubringen, und es nicht über sich gebracht. „Du wolltest mich nicht dabei haben, nicht wahr?“

„Ich wusste, dass es brutal werden würde.“ Anna blickte vom Seil auf. „Du hättest nicht dabei sein wollen.“

Jan nickte. Er wäre zu schwach, zu weich gewesen, um Michael anzutreiben – oder um auch nur mit anzusehen, wie Anna tat, was getan werden musste. Es war gut, dass sie ihn hiergelassen hatte. Er schämte sich seines Misstrauens. Hatte Anna nicht von sich aus begonnen, ihren Rucksack zu packen, als sie am Bächlein lagerten und den Zustand von Michaels Wunde gesehen hatten?

„Ich bin soweit“, rief Michael.

Anna warf Jan das Seil zu. Er stellte sich auf das schmale Band oberhalb des Trichters, lehnte sich mit dem Rücken gegen den Fels und holte das lose Seil ein, bis es spannte.

„Steig nach!“, rief Anna, und sie begannen beide, zu ziehen.

„Nicht so schnell“, kam Michaels knapper Ruf.

Sie fanden einen gemeinsamen Rhythmus, bei dem Michael sich ein kleines Stück emporschob, während sie mit Kraft nachzogen. Jan beobachte besorgt, wie Anna freihändig im steilen Trichter stand und sich gegen den Zug des Seiles stemmte.

Michaels Hände suchten oberhalb des Risses nach Griffen. Anna und Jan unterstützten ihn mit starkem Zug, als er sich daran hinaufzerrte. Das letzte Stück kroch er seitlich, um den verletzten Oberschenkel vom Fels fernzuhalten, und blieb auf dem Absatz liegen.

Jan kniete sich neben ihn. „Du hast es geschafft!“

Michael atmete stoßweise und verbarg mit dem Arm seinen Kopf.

„Lass ihm Zeit.“ Anna wickelte das Seil ein. „Wir bereiten alles für den Abstieg vor.“

Sie gingen zum Quader, legten das Seil darum und verknoteten es. Dann verbanden sie es mit dem zweiten Seil, an dem die zehn Meter fehlten, die sie damals für die Jagd auf Gregor abgeschnitten hatten. Sie prüften noch einmal die Knoten und kehrten zu Michael zurück.

Sein Gesicht war von Schmerz und Anstrengung gezeichnet, sein Blick seltsam gleichgültig und glasig. Sie schleiften ihn mehr zum Ende des Absatzes, als dass sie ihn stützten, und setzten ihn dort an die Felswand. Jan fragte sich, wie Anna ihn hierher gebracht hatte.

„Du gehst zuerst“, sagte Anna. „Dann folge ich mit Michael.“

„Wird der Mörder nicht auf mich schießen, sobald ich im Seil hänge?“ Der Gedanke kam ihm nicht erst jetzt – aber jetzt, da er sich hinauswagen musste, wirkte er viel bedrohlicher.

„Solange ich mit dem Gewehr hier oben bin, kann er nicht aus dem Wäldchen raus. Von dort wird er dich nicht treffen.“ Sie ging in die Hocke, holte Wurst, Käse und Schokolade aus ihrem Rucksack und reichte sie ihm. Er öffnete seinen Rucksack und ließ die Lebensmittel hineinfallen.

„Das genügt“, widersprach er, als sie ihm nochmals zwei volle Hände entgegenstreckte. „Ihr seid zu zweit, ihr braucht mehr.“

„Nimm es!“

„Wieso?“ Er fühlte sich überfallen. Wozu brauchte er das ganze Essen?

„Nimm es einfach!“ Anna stopfte es in seinen Rucksack.

„Ich nehme ein Drittel, mehr nicht.“

„Lass den Romanto-Scheiß.“ Michaels raue Stimme, Jan fuhr herum. „Wenn der Mörder mit seinem Feldstecher sieht, dass du das Gewehr nicht dabei hast, lässt er dich wahrscheinlich durch, weil er sich schlechte Chancen ausrechnet, dich zu treffen und seinen Standort nicht verraten will. Er wird darauf warten, dass einer von uns mit dem Gewehr ins Seil steigt. Dann kann er rankommen und diejenigen, die noch im Seil hängen, runterballern. Falls schon jemand unten ist, kann der Mörder auch den erledigen. Jemand muss oben bleiben, kapiert?“

Michael hatte das mit großer Anstrengung heruntergespult. Er musste es zigfach in Gedanken durchgekaut haben. Dabei klang es in seiner komprimierten Konsequenz mehr nach Anna. Es konnte nur ihr Plan sein. Allerdings verstand Jan nicht, weswegen sie die Stellung mit halten wollte. „Kannst du den Eingang zur Schlucht nicht alleine verteidigen?“, fragte er Michael. „Wenn sich Anna auch ablässt, kommt eher jemand durch und holt dir Hilfe.“

„Das habe ich ihr gleich gesagt.“

„Ich bleibe oben“, sagte Anna entschieden. „Dein Zustand ist zu schlecht, Michael, du kannst nicht vernünftig zielen, und ich habe keine Ahnung, ob du nicht plötzlich das Bewusstsein verlierst.“

Jan bemühte sich zu durchschauen, ob das ihre wahren Gründe waren, verlor jedoch den Überblick über die Zusammenhänge. „Aber dann brauche ich trotzdem nicht so viel Essen“, protestierte er. „Das ist mehr als die Hälfte.“

„Etwas“, antwortete Anna. „Du musst unter Umständen weit laufen.“

„Aber ihr seid zu zweit!“

„Ich brauche kein Essen“, sagte Michael.

„Was willst du damit sagen?“

„Dass ich den Teufel tun und noch einen Bissen verschwenden werde, wenn ich weiß, dass ich sowieso verrecke. Entweder es kommt Hilfe von außen oder nicht. Zum Verhungern bleibt mir nicht die Zeit.“

Jans Knie wurden weich. Er schüttelte stumm den Kopf. Doch als Anna ihm den Rucksack hinhielt, schob er die Arme durch die Träger und zog die Schnallen über Bauch und Brust fest.

Anna näherte sich dem Rand und warf das erste Seil, das sie lose wie ein Lasso übereinandergelegt hatte, in einem weiten Bogen hinaus. Das zweite, das daran befestigt war, schoss über den Boden, bis es sich mit einem Ruck straffte.

„Sehr gut“, sagte Anna, „es hat sich nirgends verheddert.“

Jans Augen füllten sich mit Tränen. Er blinzelte dagegen an, lächelte Michael zu, trat an die Kante und setzte sich nieder, so dass seine Beine über der Schlucht baumelten. Anna kniete sich zu ihm und küsste ihn auf den Mund. Sie schmeckte salzig und roch nach Schweiß. Für einen Moment glaubte er, er würde fallen, und krallte sich an den Fels. Sie zog sich zurück und sagte hart, doch ohne ihre Emotionen verbergen zu können: „Die Beine müssen die Hauptlast tragen. Mit den Armen hältst du so eine Strecke nicht durch.“

Jan schaute hinab auf den grünen Strom, der tief unter seinen Füßen floss. Was würde er tun, wenn er an eine unpassierbare Stelle geriet? Seine Nahrungsmittel mochten reichen, um auf Rettung zu warten. Aber er würde wissen, dass Michael seiner Wunde erlag. Und auch Anna würde dem Mörder nicht entgehen. Der Wassermangel würde sie bald aus dem Felsennest zwingen.

„Nein.“ Er schob sich vom Abgrund weg und wandte sich um. „Das kann ich nicht.“

„Wieso?“, fragte Anna schrill.

„Es muss einen besseren Plan geben.“

Sie schüttelte den Kopf.

„Du kannst mir das Gewehr herunterlassen. Ich laufe damit ein Stück in Richtung Wäldchen und halte den Mörder in Schach.“

Sie überlegte. „Auf der anderen Uferseite liegen Felsblöcke, vielleicht auch auf unserer. Ausreichend Deckung müssest du haben.“

„Ihr kommt also nach?“

Sie kniete sich zu Michael, der immer noch an der Felswand saß. „Schaffst du das?“

„Wie tief ist es?“

„Ungefähr sechzig Meter.“

„Wir werden es rauskriegen.“

Sie lächelte Jan zu. „Geh du vor, wir folgen dir.“

Er wandte sich wieder der Kante zu und ihm wurde bang. Selbst Bilder von kletternden Menschen waren ihm unangenehm. Er hatte nicht die Nerven für Bergabenteuer und war froh gewesen, dass sich sein Vater mit ihm stets an sichere Wanderwege gehalten hatte. Doch nun musste er sich ohne Sicherung sechzig Meter herablassen.

Er rutschte zur Kante, hangelte sich darüber und schlang die Beine ums Seil. Nervöse Schauer peitschten durch seine Hände. Sie kribbelten, dass er glaubte, sie würden sich von allein öffnen. Dennoch widerstand er der Versuchung, sich wieder auf den Absatz hochzuziehen, und glitt langsam hinab. Nach einigen Metern erreichte er einer Felsnase, an der er einen Fuß vom Seil lösen musste, um sich mehrmals abzustoßen, danach baumelte er im Freien. In seinem ganzen Leben war er nie so ausgesetzt gewesen. Er atmete gegen den Druck auf seinem Brustkorb wie gegen eine Stahlschlinge an – bis zu seinem verkrampften Bauch kam die Luft nicht.

Zwischendurch warf er rasche, furchtsame Blicke zum Wäldchen. Die Perspektive veränderte sich, während er sich abließ. Die Stämme wirkten höher, dafür schrumpfte das Blätterdach. Er überlegte, ob ihn der Schall vor der Kugel erreichen würde.

Sein Fuß rutschte ab, er klammerte sich mit den Armen ans Seil, wickelte ihn wieder ein und blickte nach unten. Am Fluss verlief auch auf seiner Seite ein Uferstreifen. Das Seil schlenkerte unter ihm durch die Luft. Er pendelte leicht, es drehte ihn zur Schlucht hin, er erhaschte einen Blick auf ihre gewaltige Größe und rotierte zurück zum Tal. Vom Mörder war nichts zu sehen.

Als er den Boden erreichte, zog er dreimal am Seil. Die Blasen, die er sich beim Paddeln eingehandelt hatte, bluteten. Er spürte nichts davon, stand einfach nur da und schaute zu, wie das hüpfende Seilende emporstieg. Dann bückte er sich ans Ufer, wusch sich Gesicht und Arme und trank.

Etwas pfiff durch die Luft und schlug neben ihm ein. Ein Steinchen. Er blickte hinauf und hielt eine Hand schützend über seinen Kopf. Das Gewehr federte am Seil einige Meter über ihm auf und ab, dann sank es rasch zu Boden.

Jan band es los und lief damit geduckt flussaufwärts bis zu einem Felsblock etwas außerhalb der Schlucht. Dort kniete er nieder, schob den Kopf halb aus der Deckung und beobachtete mit einem Auge das Wäldchen.

Nach einer Weile blickte er hinter sich nach oben. Anna hing direkt unter Michael, vielleicht stützte sie ihn, vielleicht redete sie ihm auch nur gut zu. Die beiden waren noch nicht weit gekommen. Es hatte wohl Schwierigkeiten beim Einstieg gegeben.

Er schaute wieder zum fernen Waldrand und versuchte, über Kimme und Korn probehalber auf einen Baum zu zielen. Der Lauf schwankte zu stark. Nachdem er ihn gegen den Fels drückte, ging es besser, doch immer noch traute er sich nicht zu, den Mörder auf diese Distanz zu treffen.

Nochmals schaute er zurück. Die beiden hatten etwa die Hälfte der Höhe bewältigt. Michael stützte sich mit einem Bein auf Annas Schulter. Rasch wendete Jan den Blick ab. Er wollte nicht zusehen, falls sie stürzten.

Eine Böe drückte das Gras am Hügel nieder, der den Fluss zur Linken flankierte, und schüttelte die Wipfel des Wäldchens. Doch keine Wolke störte das Tiefblau des Himmels, und die Fernsicht blieb messerscharf.

„Komm zurück!“, rief Anna.

Für eine Sekunde schloss Jan vor Erleichterung die Augen, dann eilte er zu den anderen. Michael saß mit gebeugtem Kopf am Boden. Anna hängte ihr Gewicht ans Seil, schnitt es über ihrem Kopf ab und packte es ein. Gemeinsam schleppten sie Michael voran, während sie immer wieder hinter sich blickten.

Der Strom war ursprünglich weiter rechts geflossen und hatte eine Biegung nach links beschrieben. Im Lauf der Jahrtausende hatte er sich jedoch einen immer direkteren Weg gegraben, so dass sich das ehemalige Flussbett auf ihrer rechten Seite zu einer welligen, zur Wand hin ansteigenden Mondlandschaft weitete. Das dunkelgraue Vulkangestein war glattgespült, darauf lagen kantige Blöcke, die wohl aus der Wand gebrochen und im Frühjahr vom Schmelzwasser weitergetragen worden waren.

Einige Hundert Meter vor ihnen stieß der Strom auf die weitläufige Biegung seines alten Bettes und wurde von der Felswand jäh in eine enge Kurve gezwungen. In weiteren Jahrtausenden mochte er auch dieses Hindernis entschärft haben, bereits jetzt hatte er die Wand unterspült und in den halbrunden Höhlen brodelten unermüdliche Mahlwerke.

Auf der gegenüberliegenden Seite war der Uferstreifen schmaler und zerklüfteter. Weiter als auf ihrer Seite würden sie dort keinesfalls kommen.

Sie blieben hinter einem Felsblock stehen. „Das Schwemmholz ist alles nur Kleinzeug“, sagte Anna.

„Da unten liegt ein Stamm.“ Jan deutete aufs linke Ufer. „Wir müssen unsere Seite absuchen. Zeit haben wir, der Mörder scheint nicht im Wäldchen gewesen zu sein.“

„Oder der Abstand war zu groß und er wollte uns lieber in Sicherheit wiegen, statt uns mit ungezielten Schüssen vorzuwarnen.“

„Jedenfalls müssen wir nach Holz suchen.“

„Ich halte Wache.“ Es war das Erste, was Michael in der Schlucht von sich gab.

Sie halfen ihm in eine ovale Vertiefung, in der er sich so einrichtete, dass er über den Rand spähen konnte.

Anna übernahm das Gebiet flussabwärts, Jan suchte zu den Felswänden hin. Je höher er stieg, desto verworrener wurde die Mondlandschaft mit ihren ausgefrästen Löchern und Türmchen. Er fand etliche Äste und einen dünnen Stamm – bei Weitem kein ausreichendes Material für ein Floß, dem sie sich anvertrauen könnten.

„Hier“, schrie Anna vom äußersten Ende der Uferfläche her.

Jan rutschte, krabbelte und sprang das Gelände hinab und rannte zu ihr. „Was ist?“, rief er im Laufen.

„Holz!“

Er erreichte den zerklüfteten Abbruch zum Wasser. Dahinter lag eine winzige Bucht, in deren Mitte etliche Äste und kleine Stämme kreisten. Andere hingen an einem schmalen Felsabsatz, der knapp oberhalb der Wasseroberfläche hervorstand.

„Wenn wir genug davon zusammenbinden, trägt uns das.“

„Aber ob es hält?“ Jan malte sich aus, was eine Stromschnelle mit einem Patchwork-Floß anrichten würde. „Wie viel Seil haben wir noch?“

„Etwa zwanzig Meter.“

„Damit können wir höchstens fünf Stämme halbwegs vernünftig zusammenbinden.“

„Was sollen wir sonst tun? Früher oder später wird der Mörder entdecken, dass da ein Seil am Eingang der Schlucht baumelt. Und wenn du Michael nicht draufgehen lassen möchtest, haben wir sowieso keine Wahl.“

Sie liefen zu Michael, gingen in die Hocke und teilten ihm den Plan mit.

„Lasst mir das Gewehr da“, sagte er. „Falls der Mörder kommt und ihr nicht fertig seid, kann ich ihn aufhalten.“

„Wir fahren nicht ohne dich“, erwiderte Jan.

„Ihr fahrt, wenn ihr fahren müsst.“

„Wir bringen dich zur Bucht, wo wir das Floß bauen. Du kannst uns von dort den Rücken freihalten.“

„Dann kommt der Mörder zu nahe ran, dann könnt ihr nicht mehr über den Fluss entkommen.“

Michael hatte recht. Offensichtlich hatte er seine Entscheidung durchdacht, während er hier gelegen hatte. Jan überreichte ihm das Gewehr mit beiden Händen.

Auf Michaels Gesicht und Bart klebte eine Schicht aus Schmutz, Schweiß und Tränen, doch nun lächelte er wie früher, wenn er Jan ermutigen wollte. „Vielleicht bin ich doch ein anständiger Mensch, auch wenn ich das irgendwie gehasst habe.“

Jan nickte und brachte kein Wort heraus. Anna gab Michael eine Wasserflasche und eine Kekspackung, dann schulterten sie die Rucksäcke und eilten zur Bucht.

Sie kletterten den gut mannshohen Steilhang hinunter zum Absatz. Nachdem sie sich bis auf die Unterwäsche entkleidet hatten, stiegen sie ins hüfttiefe Wasser, wählten fünf Stämme aus und hievten sie auf den Absatz. Jan wuchtete sich mit einem großen Schritt ebenfalls hinauf und holte die Axt aus dem Rucksack. Als er den ersten Schlag setzte, fuhr ihm ein brennender Schmerz durch die Hände. Anna warf einen Blick auf seine offenen Blasen und übernahm die Axt. Er durchdachte die anstehende Aufgabe und halbierte das Seil. Als Anna an zwei Stämmen die Aststümpfe entfernt und Kerben für das Seil eingeschlagen hatte, legte er diese nebeneinander und begann, sie zu verknoten. Da sie die weite Mondlandschaft nicht einsehen konnten, beschränkte sich ihre Welt auf die eine Aufgabe, so schnell als möglich ein Fluchtmittel zu bauen. Das Schlagen der Axt, der Duft von Holz und Rinde, Schweiß in den Augen, mehr war nicht.

Mit dem dritten Stamm wurde das Floß zu breit für den Absatz, und Jan musste es halb ins Wasser schieben. Das erschwerte die Arbeit, da er mehrfach hinein- und herausklettern musste und im Wasser weniger gut arbeiten konnte.

Als sie fertig waren, bewegten sie das Floß hin und her, um es zu testen. Die Konstruktion hielt so miserabel, wie sie aussah: ein ausgebleichter Stamm, löchrig wie ein Schwamm, zwei rötliche, dünne Nadelhölzer, eine Birke, die am weitesten überstand, und das geborstene Stück eines mächtigen Laubbaumstammes, das in der Mitte des Floßes die Hauptlast tragen sollte.

Sie öffneten die Knoten und entfernten die Birke, um Seil zu gewinnen. Aus ihr schlugen sie zwei Querstreben zurecht, banden sie mit ein und ließen etwas Seil für Schlaufen, an denen sie sich festhalten könnten, selbst wenn sie von Bord gespült würden.

„Sollen wir das Seil nochmal lösen?“, fragte Anna und zog unzufrieden an der vorderen Querstrebe.

„Ja, die zweite haben wir besser hingekriegt.“

Sie begannen, die Knoten aufzufädeln. „Halten tun sie jedenfalls“, schimpfte Anna. „Wir haben -“

Ein Schuss krachte, das Echo donnerte durch die Schlucht.

Anna und Jan starrten sich wie versteinert an. Es war so weit: Der Mörder war da! Eine Viertelstunde hatte ihnen gefehlt, um die zweite Querstrebe nochmals zu fixieren und Michael zu holen.

Wieder ein Schuss – anders, von näher. Das musste Michael sein.

„Hilf mir!“ Anna war bereits dabei, das halb gelöste Seil zwischen zwei Stämmen hindurchzuwinden und um die Querstrebe zu wickeln. Jan zog mit zusammengebissenen Zähnen und machte einen Knoten.

Ein Schuss des Mörders, gleich darauf Michaels Antwort.

Jan und Anna arbeiteten besessen, während in unregelmäßigen Abständen Detonationen durch die Schlucht hallten.

Jan setzte einen Knoten. „Wenn er Michael trifft, hören wir das?“

„Vielleicht.“

„Einer sollte Ausschau halten.“

„Der Mörder wird davon ausgehen, dass wir bei Michael sind und das Gewehr übernehmen. Er wird sich sehr vorsichtig dem Loch nähern.“

„Er wird die Axtschläge eben gehört haben. Dann kann er sich denken, wo wir stecken.“

„Okay, du spähst, ich mache weiter.“

Jan stieg den Steilhang ein wenig hinauf und schob seinen Kopf über die Kante. Vor ihm lag die menschenleere Schlucht: grauer Fels, der ein dunkelgrünes und ein strahlend blaues Band hoch darüber einfasste.

Michael tauchte aus einem Loch auf, riss das Gewehr über den Rand und wartete. Er schien auf die gegenüberliegende Flussseite zu zielen.

Das eintönige Rauschen des Wassers vermischte sich mit dem Pulsieren des Blutes in Jans Ohren. Nichts geschah.

Plötzlich schoss Michael und ließ sich zurück ins Loch rutschen. Jan suchte das graue Einerlei schräg gegenüber ab. Irgendwo in dem Felsgewirr würde nun der Mörder seinen Kopf aus der Deckung schieben. Vielleicht könnte er Michael einen Hinweis zurufen, ihm irgendwie beistehen.

Eine Bewegung – auf der gegenüberliegenden Seite, näher an Michael als erwartet. Der Mörder rannte flussabwärts. Auf die Entfernung konnte Jan das Gesicht nicht erkennen, das Alter nicht schätzen. Er sah nur, dass der Mörder dunkle Haare hatte, grau-braune Kleidung trug und über den schwierigen Untergrund sprintete, als sei der aus Asphalt. Der Mörder warf sich hinter einen Felsblock und stützte das Gewehr darauf ab.

Jan wollte Michael warnen, doch sein Verstand war gelähmt vor Angst. Er fürchtete, dass Michael einen Zuruf nicht oder falsch verstehen, er selbst sich aber dem Mörder verraten würde.

Michaels Kopf schnellte aus dem Loch und wieder zurück. Es war Jan unverständlich, wie sich Michael, den sie zuvor kaum durch die Schlucht hatten schleifen können, so behände bewegte. Er musste unter Adrenalin stehen – oder er schaffte es, seinen Schmerz zu ignorieren.

Für einen Sekundenbruchteil huschte Jans Blick zum Mörder, der unverändert auf Michaels Loch zielte.

Wieder fuhr Michael aus der Deckung empor, das Gewehr im Anschlag – offensichtlich hatte er den Mörder in der neuen Position nicht gesehen. Jan stieß einen gellenden Warnschrei aus, zugleich knallte ein Schuss und eine rote Wolke sprühte aus Michaels Kopf.

Michael sackte zurück.

Jan taumelte nach hinten, stürzte in den Pool, kam auf die Beine und starrte Anna voll Entsetzen an. Vor seinem inneren Auge sah er die blutige Wolke.

Anna sprang ihm nach, packte ihn am Arm und schrie auf ihn ein. Er half ihr, das Floß ins Wasser zu zerren und hinaus in die Strömung zu schieben. Plötzlich riss sie an seiner Hand, dass er das Gleichgewicht verlor und vornüber fiel. Ein Schuss krachte.

Er tauchte wieder auf. Das kalte Wasser hatte seinen Schock gelöst, er griff in die hintere Schlaufe, Anna hielt sich vorne fest. Sie trieben neben den Strudeln, die sich unter die gewölbte Felswand gegraben hatten. Das Floß gab ihnen Schutz und auch das aufgewühlte Wasser erschwerte dem Mörder das Zielen. Aber sie waren zu langsam. Der Mörder konnte am Ufer entlang aufholen. Erst wenn sie schneller vorankamen als er, würde er anhalten und das Feuer eröffnen.

Die Sekunden vergingen. Ein Strudel zog an Jans Beinen, doch das Floß driftete zur Mitte und nahm Fahrt auf.

Mehrere Schüsse fielen rasch nacheinander. Holzspäne wirbelten über Annas Kopf hinweg. Eine Welle nahm Jan die Sicht. Er spukte Wasser aus, atmete tief ein und tauchte ab. Mit der einen Hand hielt er immer noch die Schlaufe umklammert, mit der anderen bewegte er sich unter das Floß. Anna hing bereits dort, die Haare fluteten schwerelos um ihren Kopf. Kugeln rauschten durchs Wasser und zogen Schweife aus Blasen hinter sich her, verloren jedoch rasch an Kraft. Jan musste atmen, sein Zwerchfell krampfte. Er hielt noch einen Moment aus und kehrte kontrolliert zur Oberfläche zurück, füllte die Lungen und glitt erneut unter das Floß. Die Kugeln blieben aus, Anna tauchte auf und wieder ab.

Als er den nächsten Atemzug nahm, befanden sie sich in der Strommitte, die Strudel waren kaum mehr zu hören. Das Floß hatte ein wenig gedreht und den Blick flussaufwärts freigegeben. Die scharfe Krümmung lag hinter ihnen, die Mondlandschaft war verschwunden. Auf der gegenüberliegenden Seite reichten die senkrechten Wände unmittelbar ans Wasser. Der Mörder konnte sie nicht mehr erreichen.

Doch nun waren sie dem Strom auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Ihre Rucksäcke hatten sie in der Bucht zurückgelassen. Selbst wenn sie eine Stelle fänden, an der sie an Land gehen könnten, würde sie der Hunger fortzwingen. Sie mussten sich dem Fluss stellen, solange sie noch Kraft hatten.

Jan robbte aufs Floß und schaute zu Anna, die vor ihm saß. „Michael –“ Ihm versagte die Stimme. Wieder sprühte die Blutwolke aus dem Kopf des Freundes.

„Ich habe ihm bis zum Ende nicht getraut.“ Anna wischte sich die nassen Haare aus dem Gesicht und fixierte Jan, doch nicht herausfordernd, eher wie eine Schuldige ihren Richter. „Deswegen wollte ich oben bleiben. Ich dachte, er könnte das Seil durchtrennen, wenn wir uns ablassen. Wenn er schon stirbt, sollen wir auch nicht leben – zumindest ich nicht.“

Jan schwieg. Er konnte ihr diese Gedanken nicht vorwerfen. Es war durchaus möglich, dass sie tatsächlich durch Michaels Kopf gespukt hatten. Dennoch hatte Jan ihm das Gewehr übergeben, und Michael hatte in diesem kritischen Moment bewiesen, dass die Verantwortlichkeit, die er abzuwerfen versucht hatte, seine wahre Natur gewesen war. „Ich bewundere ihn. Er hat all die Schmerzen auf sich genommen, um in die Schlucht zu gelangen, und dann hat er sein Leben für unsere Flucht gegeben.“

„Ich glaube nicht“, erwiderte Anna traurig, „dass er durchgehalten hat, um sich zu retten. Damit konnte ich ihn nicht vorwärts bekommen, daran hat er nicht mehr geglaubt. Wir haben es nur bis zu dir geschafft, weil ich ihm gesagt habe, dass du ohne ihn nicht fliehen wirst. Dass er dein Todesurteil unterschreibt, wenn er zurückbleibt.“

Jan schaute auf das glatte Wasser, das dem fernen Ozean entgegenstrebte. Der große Kreislauf. Alles nur Atome, die sich immer neu vereinten. Vielleicht eine unsterbliche Seele. Und doch: der Schmerz über den Tod, der ein Individuum ausgelöscht hat.

Die Fahrt wurde unruhiger. Ein Wasserschwall nach dem anderen schwappte über ihre zitternden Beine. Jan blickte zum sonnigen Rand der linken Wand hoch über ihm. Wie viele Stunden blieben ihnen, bis sich die Kälte der Nacht in ihre Schlucht senken würde?

Als sie sich einer Bucht näherten, fragte er, ob sie eine Pause einlegen sollten, um sich aufzuwärmen. Anna wollte möglichst schnell aus der Schlucht heraus. Sie ließen sich weitertreiben.

Vor der nächsten Biegung hörten sie ein Prasseln. Ein Stück weiter ergoss sich ein Wasserfall in drei Kaskaden über die Wand. Sie paddelten mit den Armen auf die gegenüberliegende Seite. Als sie an dem mächtigen Strahl vorbeiglitten, hüllte kalter Sprühregen sie ein. Hinter dem Wasserfall waberte eine türkisfarbene Fläche, die sich nach und nach im Dunkelgrün des Hauptstroms auflöste. Das Wasser war noch kälter geworden.

Jan drehte sich um, legte den Kopf in den Nacken und versuchte, einem Schwall mit dem Blick zu folgen, bis er in den Fluss klatschte.

Ein Baumstamm, von dem noch einzelne Zweigstümpfe abstanden, trieb hinter ihnen. Vielleicht war der von jener hohen Kiesbank gestürzt, an der sie zu Beginn ihrer Kanufahrt vorbeigekommen waren. Dann musste er sich unterwegs vielfach verfangen und eine lange Reise hinter sich haben. Ein wenig erinnerte Jan der Stamm an den, den er am anderen Ufer der Schlucht gesehen hatte, ehe sie mit der Suche nach Holz begonnen hatten. „Wo der Baum wohl herkommt“, murmelte er.

Anna drehte sich um. „Da stimmt etwas nicht.“ Ihre Stimme machte ihm Angst. „Wieso ist der Baum schneller als wir?“

„Ich weiß nicht.“ Er kniff die Augen zusammen.

„Da ist er! Hinten!“

Jetzt erkannte auch Jan den Mörder. Er lag mit dem Oberkörper auf dem gemaserten Stamm, mit den Beinen schwamm er. Jan dachte an Lauras kleinen Finger. Furcht schnürte ihm die Kehle zu.

Anna paddelte bereits mit schnellen Zügen, er half ihr nach Kräften. Dennoch holte der Mörder auf. Also ließen sie sich ins Wasser gleiten und begannen, mit den Füßen schwimmend ihr Floß anzutreiben. Eine Weile schien es ihnen, dass sie den Abstand wahrten, dann merkten sie, dass der Baumstamm erneut nähergekommen war. Der Unterschied in ihrer Geschwindigkeit war gering verglichen mit der rasanten Strömung, jedoch fatal.

„Warum schießt er nicht?“, fragte Jan. „Will er uns lebend?“

„Vielleicht hat er nur noch wenige Patronen.“

Jan blickte wieder über die Schulter und erhaschte einen Blick auf das verunstaltete, braungebrannte Gesicht des Mörders. Ein Gewehr sah er nicht. Vermutlich hatte der Mörder sämtliche Munition verschossen und sich danach entschieden, die Verfolgung aufzunehmen. Vielleicht hatte er erst da den Baumstamm entdeckt, der am Ufer lag.

„Zurück aufs Floß!“ Anna stemmte sich hinauf und Jan tat es ihr gleich.

Nun konnten sie den Mörder besser sehen. Er trug ein kurzärmeliges, graues Hemd, die nackten Oberschenkel zeichneten sich hell unter dem Wasser ab, die Waden waren gebräunt. Im Stamm vor ihm steckte ein langes Messer.

Jan versuchte, einen Plan zu fassen. „Wenn er aufs Floß kommt -“

„Das braucht er nicht. Er kann sich von seinem Baumstamm rüberlehnen.“

Das stimmte: Das Floß war zu schmal, um der Reichweite des Mörders zu entgehen. Außerdem würde es wohl kippen, wenn sie sich beide auf eine Kante stellten.

Anna beugte sich über den zerborstenen Stumpf in der Mitte des Floßes und zerrte an etwas. „Wir müssen ihn töten! Ist dir das klar?“, fragte sie gepresst.

„Ja.“

„Wir müssen seine Arme festhalten. Verletz ihn an Augen, Hals, Eiern. Und pass auf, dass er dich nicht beißt.“ Sie brachte zwei lange Splitter zum Vorschein und reichte Jan einen. Wie Dolche aus Holz. „Wenn ich ein Zeichen gebe, springen wir.“

„Okay.“ Jan suchte mit den Füßen Halt, um sich abstoßen zu können.

Der Mörder musterte sie, er schien seinen Angriff durchzuspielen und die Gegenwehr abzuschätzen. In seinem nassen Haarschopf klebten graue Strähnen und auch der Bart war gesprenkelt. Wo Erfrierungen die Haut nicht verschrumpelt hatten, durchzog sie ein Gewirr von Fältchen. Die Augen blickten bleich. In einem anderen Gesicht mochten sie milde wirken – sie erinnerten an den gelassenen Blick alter Bergführer. Doch in diesem, in dem von der Nase nur eine narbige Beule geblieben war, schockierten sie.

Der Mörder wuchtete sich zwischen zwei Ästen hoch, so dass er die Knie unter sich bringen konnte, und zog die mattschwarze Klinge aus dem Holz. Er trieb keine zwei Meter schräg neben dem Floß. Mit der Messerhand hielt er sich fest, während er mit der anderen kräftig zu paddeln begann. Dabei lehnte er sich zur Seite, um den Arm tiefer eintauchen zu können.

Als er fast gleichauf lag, sprang Anna. Der Aufprall drehte den Stamm und Anna und der Mörder fielen auf der anderen Seite ins Wasser.

Annas Absprung hatte das Floß zurückgestoßen und Jan aus dem Gleichgewicht gebracht. Er bekam keinen kraftvollen Sprung zustande, sondern klatschte der Länge nach ins Wasser. Als er die Augen unter Wasser öffnete, sah er die beiden Kämpfenden ineinander verschlungen herabsinken. Sie zogen einen Schleier aus Blut hinter sich her. Der Mörder drückte das Messer gegen Annas Widerstand auf ihren Kopf zu. Jan tauchte, so schnell er konnte – und erkannte, dass er zu spät kommen würde. Das Messer schien in Annas Wange einzudringen. Da stießen die beiden auf den Grund und wurden, ohne voneinander abzulassen, Jan entgegengewirbelt. Er bekam den Schopf des Mörders zu fassen und zog sich heran, sah Annas verzweifelten Blick und das Blut, das aus ihrer Wange trat, den Arm des Mörders, der, noch immer von Annas Hand umklammert, auf ihn zuschwenkte und das Messer in seine Richtung wendete, suchte mit den Fingern das Auge in dem ihm abgewandten Gesicht und rammte den langen Splitter hinein. Das Brüllen des Mörders klang unter Wasser wie ein Ungeheuer, sein Kopf zuckte und er ließ das Messer los. Der Schwung trieb es gegen Jans Schulter, von wo es sacht abprallte und versank.

Jan griff Anna am Arm und tauchte mit ihr auf. Er schnappte nach Luft, sie riss sich los, rief: „Halt mich fest!“, und drückte eine Hand auf den anderen Arm, aus dem sie blutete. Er fasste sie am Nacken, wie er es auf Schaubildern gesehen hatte, und schwamm rückwärts zum Floß.

Neben ihnen brach der Mörder aus dem Wasser hervor, beide Hände auf sein Gesicht gepresst, in dem noch immer der Splitter steckte, und ging sogleich wieder unter. Während zweier Armzüge sah Jan noch einen hellen Fleck, dann konnte er ihn nicht mehr ausmachen.

Sie erreichten das Floß, ohne dass der Mörder nochmals aufgetaucht wäre. Jan zog sich hinauf und half Anna nach. Blut quoll unter ihrer Hand hervor und tropfte mit Wasser vermischt herab. Auch aus der Wunde an ihrer Wange floss Blut über ihren Körper, doch diese Verletzung war ungefährlich.

Anna hielt den Unterarm, auf den sie immer noch eine Hand presste, in die Höhe und schloss die Augen.

„Wie können wir die Blutung stoppen?“

„Gar nicht.“

„Was?“

Anna sah ihn an. In ihren strahlend grünen Augen lag Verzweiflung, ihre Stimme blieb beherrscht. „Das kalte Wasser hat nicht gereicht. Und für einen Druckverband haben wir kein Material.“

„Unsere Unterwäsche -“

„Kannst du vergessen. Wir können nur warten, bis sich die Wunde von alleine schließt. Bis dahin muss ich den Arm hochhalten und Druck ausüben. Falls ich ohnmächtig werde, musst du das übernehmen.“

Jan nickte. Da sie nichts mehr sagte, fragte er: „Hat er eine Ader getroffen?“

„Nein, sonst würde das Blut mit jedem Herzschlag spritzen. Aber irgendetwas muss er getroffen haben.“

„Es gibt wirklich nichts, was ich für dich tun kann?“

„Gute Ballettmusik auflegen.“

Jan war sich unsicher, was sie damit sagen wollte. Ihre Abschiedsmusik?

Sie lächelte. „Du kannst mich warmhalten.“

Er setzte sich hinter sie und stützte ihren Arm, sie rutschte zwischen seine Beine und lehnte sich an. Das Blut rann an ihnen herunter und wurde vom Wasser, das zwischen den Stämmen schwappte, davongespült.

Nach einer Weile wurden die Felswände niedriger und schräger. Der Rand war nun von Bäumen gesäumt, die sich im Wind bogen. Dahinter ließen sich keine Bergflanken und Gipfel mehr erkennen – die Schlucht musste sich durch ein hochgelegenes Tal winden.

Jan entdeckte eine Stelle, an der er sich zutraute hinaufzuklettern. Ein Geröllkegel reichte bis zehn Meter unter den Rand der Schlucht, und das Felsstück darüber war mit Büschen bewuchert. Doch er würde Anna in ihrem Zustand nicht hinaufbekommen. Sie blutete und fror jämmerlich. Außerdem würden sie dort oben mitten in der Wildnis landen, in einem Tal ohne Mörder, doch auch ohne die Hilfe, auf die sie angewiesen waren. Sie mussten weiter.

„Wenn ich überlebe“, sagte Anna und schwieg.

Er wartete eine Weile, dann flüsterte er: „Ich liebe dich.“

Bald darauf lehnte sie schwerer an ihm und hörte auf zu zittern. Ihr erhobener Arm hing mit ganzem Gewicht in seiner Hand. Er sprach sie an und erhielt keine Antwort, also zog er ihre Hand von der Stichwunde. Blut floss heraus. Schnell drückte er mit seinem Handballen dagegen.

Er betete, dass der Strom weiterhin so ruhig und schnell fließen möge und dass sie bald auf Menschen träfen. Und er redete Anna zu, dass sie durchhalten müsse, in der Hoffnung, dass seine Worte irgendwie in ihr Unterbewusstsein gelangten.

Manchmal drängte sich die Erinnerung an den furchtbaren Moment dazwischen, in dem er dem Mörder den Splitter ins Auge gebohrt hatte. Das Holz war tief in die Augenhöhle eingedrungen, es mochte das Gehirn erreicht haben. Er musste ertrunken sein. Auch er tat Jan leid, so wie er die Hände auf sein zerstörtes Auge gedrückt hatte, als könne er den Schmerz herausreißen.

Jan hatte in der entscheidenden Sekunde nicht nachgedacht. Dass er einen Menschen umgebracht hatte, war ihm geschehen. Hätte er gezögert, wären Anna und er nicht mehr am Leben. Das Messer hätte sich in seine Schulter gebohrt und der Mörder hätte seine beiden verwundeten Gegner abstechen können. Und doch entsetzte Jan seine Tat.

Die Luft wurde kälter und er fror stärker. Die Wände erhoben sich wieder so hoch wie je und die Berge rückten heran. Die Schlucht lag nun gänzlich im Schatten, nur ab und an war ein besonnter Gipfel zu sehen. Das Wasser wurde undurchdringlich. Bald würde das Floß auf einer schwarzen Flut dahingleiten wie ihr Kanu in der letzten Nacht. Jan dachte an die weiße Gischt, die auf den Wellen getobt hatte, und fragte sich, wie lange der Strom friedlich bleiben mochte.

Doch statt wilder zu werden, wurde er träger. Hinter einer Biegung öffnete er sich zu einem kleinen, von Felswänden eingekesselten See.

Die Strömung war zum Erliegen gekommen. Dafür blies der Wind kräftig durch den Kessel und trieb Jan auf einen schotterigen Uferstrich zu. Er versuchte abzuschätzen, wie steil der See dort abfallen mochte und ob er das Floß watend zur Fortsetzung der Schlucht ziehen könnte. Da sah er einen gelben Fleck.

Ein Zelt!

Jans Schreie hallten durch den Kessel. Er schrie um Hilfe und aus Verzweiflung, aus Freude und Unglauben.

Zwei Männer kamen aus dem Zelt und liefen flink über die Steine ans Ufer. Jan winkte mit einem Arm. Die beiden Männer rissen sich die Kleider vom Leib, stürmten ins Wasser und kraulten auf ihn zu.

Jan blickte den Schwimmern entgegen und erzählte Anna, dass Rettung nahe und sie nicht mehr lange durchhalten müsse. Die Männer sahen verwegen aus. Sehnige, verschrammte Arme. Mit Tape umwickelte Finger. Lange, blonde Haare. Gegerbte Haut, die sich über hohe Wangenknochen spannte. Um den Hals des einen hing ein Amulett.

Sie erreichten das Floß, hielten sich fest und trieben es mit kräftigen Stößen aufs Ufer zu, während Jan ihnen die Lage erklärte. Ihr Englisch war noch schlechter als die Brocken, die Jan in der Aufregung hervorbrachte. Das Floß stieß ans Ufer, die Männer trugen Anna ins Zelt und steckten sie in einen Schlafsack. Jan wankte auf matten Beinen hinterher und quetschte sich in einem Schlafsack an die Zeltwand, damit die Männer sich in die Mitte knien konnten. Was sie mit Anna taten, konnte er nicht sehen. Nur den Erste-Hilfe-Beutel hatte er im Blick, aus dem sie nach und nach Latexhandschuhe, Desinfektionsspray, Nadel, Faden und Schere, Kompressen und Binden und schließlich Klammern zum Verschließen des Verbandes entnahmen. Er lauschte, wie sie ruhig in einer slawischen Sprache miteinander redeten, und begann zu weinen.

Während sie das Material wieder im Beutel verstauten, teilten sie ihm mit, dass Annas Puls niedrig sei, die Blutung jedoch gestillt, und dass sie es schaffen würde, bis der Helikopter einträfe. Dann würde sie Blutreserven erhalten und sich voraussichtlich rasch erholen. Die Wunde sei, abgesehen vom Blutverlust, nicht kritisch. Mehrere Anläufe waren nötig, bis Jan alles begriffen hatte.

Die Männer, immer noch nackt, verließen das Zelt. Jan blickte hinüber zu Anna. Die Kapuze des Schlafsacks war um ihr bleiches Gesicht zusammengezogen, auf der Wange klebte eine Kompresse. Sie wirkte mehr tot als lebendig. Dann wurde alles dunkel und Jan glaubte, er triebe wieder durch die Schlucht.

Ihm war warm. Das erstaunte ihn, er öffnete die Augen. Über ihm flatterte das gelbe Zeltdach im Wind, im Vorzelt hockten die beiden Männer. Das Klettermaterial, das sich zuvor dort angehäuft hatte, war herausgeschafft worden. Neben ihm lag Anna, die Augen geschlossen. Er stellte sich vor, wie er sie in die Arme nehmen würde. Im Krankenhaus. In ihrer gemeinsamen Wohnung in Berlin oder Paris. Wo auch immer – sie würden zusammenbleiben.

Er versuchte, sich einen Tag mit ihr in einer großen Stadt auszumalen, und driftete unausweichlich zurück zu ihren Erlebnissen in der Wildnis. Zwölf Tage, die sie für immer geprägt hatten. Anfangs hatte Anna keinerlei Rücksicht auf die Gruppe genommen – zuletzt hatte sie alles daran gesetzt, Michael zu retten, so sehr sie ihm auch misstraute. Und auch die anderen hatte die Gewalt dieser Tage im Tal verändert. Michael hatte aus dem krankhaften Kampf mit seinen übersteigerten Selbstansprüchen herausgefunden und nach seinem Gewissen gehandelt. Lauras Sucht nach Aufmerksamkeit und Bewunderung war in sich zusammengebrochen. Und Jenny hatte das Joch ihrer strengen Eltern abgeschüttelt, unter das sie sich wohl nie wieder begeben hätte. Vielleicht hätte sich selbst Gregor gewandelt, wenn er Zeit gehabt hätte, sich mit den Folgen seiner Aggressionen auseinanderzusetzen.

Und er selbst? Er war ein anderer Mensch. Wie anders? Er wusste es nicht. Es war ihm seltsam gleichgültig.

Er dachte wieder an Anna, bis ihm einfiel: Gerade dass er sich nicht an der Frage nach seiner Identität festbiss, dass ihn die Suche nach seinem Wert und seinem Sinn, nach seinen Möglichkeiten und den Wegen dorthin nicht in einen inneren Kokon fesselte, in dem er entsetzt und verletzt verharrte, weil er nicht der Schmetterling war, unter dessen Flügelschlägen sich die Welt in Kunst verwandelte, wie er es sich erträumte – gerade daran konnte er sehen, wie er sich geändert hatte. In Zukunft würde er nicht mehr von einer Party abhauen, weil er sich nicht gegen den Lärm durchsetzen konnte wie Gregor, weil er nicht auf der Bühne sang wie Michael und nicht tanzte wie Anna. Er schlief wieder ein und träumte, dass er mit Anna eine Ballettvorführung gab. Auf der Bühne war eine Gebirgslandschaft dargestellt, die immer höher wuchs, bis schroffe Wände sie von den Zuschauern abschnitten.

Ein Knattern und Rauschen drang in seine Sinne und holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Ein Helikopter senkte sich ab, der Luftdruck beulte die Zeltwand nach innen. Der Lärm ließ nach, die Rotoren schlugen langsamer. Jan öffnete mühsam den Reißverschluss seines Schlafsacks, seine Arme waren schwer und gehorchten nicht sogleich. Während er noch Kraft sammelte, um aufzustehen, wurde der Zelteingang aufgezogen und zwei Männer in Overalls kamen herein. Sie befahlen ihm, liegen zu bleiben, hoben Anna auf eine Trage und bugsierten sie hinaus.

Gleich darauf erschien ein weiterer Retter, der Jan aus dem Zelt half. Ein kleines Stück entfernt stand ein rot-weißes Ungetüm, die Unterseite flach, die Schnauze rund, der Rumpf wuchtig. Die Rotoren drehten sich flatternd und wirbelten Staub vom Boden auf. Gestützt lief Jan darauf zu, während die Trage mit Anna bereits hineinverfrachtet wurde.

Mehrere Hände packten ihn, halb wurde er gehoben, halb stieg er in den Innenraum. Jemand schob ihn auf einen Sitz im hinteren Teil der metallisch-grauen Kabine und legte ihm einen Gurt an. Über den Mann hinweg sah Jan Schränke, Geräte, Schläuche, Armaturen.

Die Schiebetür wurde zugeworfen, das Knattern der Rotoren ging in ein dröhnendes Sirren über. Der Helikopter vibrierte und hob ab. Jan blickte durch ein Fenster auf den See und die Felswände, die nicht länger bedrohlich wirkten. Sie stiegen schräg empor, der Kessel blieb zurück, die Weite der schneebedeckten Berge umfing sie im Abendglanz. Sie waren der Wildnis entkommen.

 

 

 

Als freier Autor habe ich keinen Verlag, der für mich wirbt. Daher lebe ich von den Empfehlungen meiner Leser. Herzlichen Dank allen, die eine Kundenrezension auf Amazon hinterlassen!