6. Tag
„Wieder so ein herrlicher Tag.“ Gregor trat mit dem Gewehr auf die Veranda und streckte sich. „Auf zur Jagd! Peng, bumm!“
Jan lockte die Vorstellung, Gregor in eine Schlucht zu stürzen.
„Bist du sauer wegen gestern?“ Gregor lachte. „Man muss auch verlieren können.“
„Und Jenny?“
„Die wird diese Nacht nie vergessen.“
„Sie ist noch immer nicht aus ihrem Zimmer gekommen.“
„Sie hat eine Menge erlebt. Das muss sie erstmal verarbeiten.“
Jan war sprachlos. Wie konnte man ein solches Tier sein?
„Du wirst dich ein wenig gedulden müssen, bevor du dran bist“, setzte Gregor nach.
„Laura hat erzählt, dass sie ständig weint.“
„Ich bin keine Frau, was weiß ich, wie sich das anfühlt. Aber wahrscheinlich heult sie wegen ihrer Eltern und ihrer verklemmten Sitten. Ein anständiges vietnamesisches Mädchen –“
„Und dir ist das scheißegal.“
„Im Gegenteil. Es war verdammt geil!“
„Ich hätte Lust, dir auf die Fresse zu hauen!“
Gregor boxte in die Luft. „Na auf, ich lasse dich zuerst zuschlagen.“
Jan rührte sich nicht.
„Komm schon!“ Gregor sprang über die Stufen hinweg auf die Wiese. „Ich mach dir ein Angebot. Du hast einen Schlag frei, auf den Bauch. Ich werde mich nicht wehren.“
„Lass mich einfach in Ruhe!“
„Was? Ich bums dein Liebchen und du bist nicht mal Manns genug, mir eine reinzuhauen?“
Jan schaute über Gregor hinweg auf die Berge. Er wollte den Eindruck erwecken, als fiele es ihm leicht, die Beherrschung zu behalten.
„Zwei habe ich flachgelegt, jetzt fällt die Dritte. Jenny war fast ein bisschen einfach, Anna wird sich heftiger wehren.“ Gregor schlenderte davon.
Jan war versucht, ihm nachzurufen, dass er sich bei Anna den Kopf einrennen werde, selbst wenn er sie erwische. Aber er hielt sich zurück, um Gregors Ehrgeiz nicht weiter anzufachen. Was für ein Tier, dachte er noch einmal bei sich und verließ die Veranda, die Gregor mit seiner Präsenz verseucht hatte. Unschlüssig stand er im Salon, als Michael aus der Küche kam. „Morgen, Jan.“
„Weißt du, wie es Jenny geht?“
Michael wirkte konsterniert. „Ich bin eben erst aufgestanden.“
„Ich hasse Gregor dafür!“
„Warum hat sie auch ausgerechnet ihn genommen? Mir ist nie aufgefallen, dass sie eine besondere Zuneigung zu ihm hatte.“
„Er hat sie bedrängt, gestern am frühen Abend. Sie wollte nicht. Gut, sie ist auch nicht einfach weggegangen, aber immerhin war sie eindeutig abgeneigt. Da hat er ihr etwas gesagt und plötzlich war sie ... aufmerksam, interessiert.“
„Klingt nicht, als habe er ihr ein Kompliment gemacht.“
„Nein, es muss etwas ganz anderes gewesen sein.“
„Jetzt muss ich ihm jedenfalls hinterher. Wir wollen Anna am Ufer suchen. Vielleicht können wir sie überraschen.“
„Sie wird bei den Felsen sein, wo wir vorgestern waren. Da kommt ihr zu Fuß nicht hin.“
„Sie braucht Nahrung. Dafür muss sie früher oder später in die Küche einbrechen. Es kann also gut sein, dass sie sich irgendwo auf unserer Seite aufhält. Denn wenn sie dafür über den See müsste, könnten wir sie entdecken.“
„Soll ich euch begleiten?“
„Bewach besser mit den Mädchen das Haus. Ich habe ein Auge auf Gregor.“
Jan nahm wieder seinen Veranda-Platz ein und beobachtete die Quellwolken, die von Westen herantrieben, während Michael davoneilte. Es missfiel ihm, dass Michael sich mit Gregor abgesprochen hatte, ohne ihn einzubeziehen. Und er verstand nicht, weshalb sein Freund Gregors Umgang mit Jenny nicht entschiedener verurteilte.
Die beiden Jäger waren schon seit einer Weile unterwegs, als Laura schnaufend die Tür aufriss und sich neben Jan auf einen Liegestuhl plumpsen ließ. „Puh, heftig.“
„Geht es ihr immer noch nicht besser?“
„Kaum hat sie sich beruhigt, flennt sie wieder los. Ich weiß auch nicht, was ich noch tun soll.“
„Soll ich einmal nach ihr schauen?“
„Nein! Sie hat verboten, dass irgendwer sonst unser Zimmer betritt.“
Jan hatte sich schon halb erhoben und sank nun zurück. „Was hat Gregor –“
„Was weiß ich? Sie sagt ja nichts. Sie plärrt nur ständig rum, dass sie nichts wert ist.“
Wie konnte Laura so herzlos sein?
„Schau mich nicht so an, Jan. Ich mache das seit heute Nacht nonstop mit, irgendwann ist mein Mitgefühl erschöpft. Ich ... ich kann sie besser verstehen, als du dir vorstellen kannst. Wenn du wüsstest, was ich schon so alles mitgemacht habe. Aber dieses Drecksselbstmitleid kann ich auf den Tod nicht ab.“
„Warum hast du sie angestachelt?“
Laura warf ihm einen bösen Blick zu. „Sie war scharf auf Sex. Schon seit wir hier sind, fiebert sie danach. Hast du das nicht gemerkt? Sie hat doch sogar mit dir rumgemacht, als sie geschnallt hat, dass Michael für sie blind ist. Würde mich nicht wundern, wenn sie genau deswegen mitgekommen ist.“
„Jenny ist nicht so abgebrüht wie du.“
„Natürlich hat sie nicht in ihr Tagebuch mit dem Blümchenmuster geschrieben: ‚Fliege mit drei Jungs in die Wildnis, um mich endlich mal richtig durchvögeln zu lassen.‘“
Jan fehlte die Kraft, um sich mit Laura zu streiten. Der Tag wurde noch schwüler als der vorhergehende. Sie schwiegen.
Unvermittelt nahm Laura das Gespräch wieder auf. „Was ich schon so alles gesehen habe. Von klein auf. Das härtet ab, wenn der Alte unterm Tisch liegt, an dem du deine Cornflakes löffelst. Aber wehe du wiederholst in der Schule auch nur das harmloseste Schimpfwort, das dir der Alte in seinem Suff an den Kopf geworfen hat. Nein, da lernst du schönschreiben. Und wie die Juden ins Heilige Land gezogen sind, dazu darfst du eine Bildergeschichte anmalen. Zu Hause erwartet dich dann deine Mutter mit einem blauen Auge und findet garantiert einen Vorwand, um dir eine zu scheuern.“
Jan war froh, dass sie ihn nicht anschaute. Sie tat ihm leid, doch er fühlte sich überlastet. Ihre Beziehung gab eine solche Offenheit nicht her.
„Andere Väter sind durchgebrannt, meiner hat sich durchgesoffen, von einer großen Mietwohnung mit Dachterrasse bis runter in die Gosse. Er kam immer seltener nach Hause, und irgendwann hat Mutter das Schloss ausgewechselt und ich durfte ihn nicht reinlassen. Er hat uns vor die Tür gekackt und bei allen Nachbarn im Haus auf die Klingel gedrückt. Danach habe ich ihn nur noch einmal gesehen, aber ganz sicher bin ich mir nicht, das war ein Penner mit Karl-Marx-Filzbart, der hat mich so komisch angeschaut.“
„Fürchterlich“, sagte Jan. „Ist es dir und deiner Mutter danach wenigstens besser ergangen?“
„Schon. Vor allem meiner Mutter. Die hat sich ein bisschen hergerichtet und so viel die Beine gespreizt, dass sie wieder in den Spagat kam. Und deine Eltern?“
„Meine Eltern?“ Jan war überrumpelt. „Also meine Mutter ist Hausfrau und mein Vater im Arbeitsministerium.“
„Ein hohes Tier?“
„Nein, nichts Weltbewegendes, er hat es auch nicht auf eine große Karriere angelegt. Mehr der Bildungsbürger, der seine 38 Stunden ableistet und danach ins Konzert oder ins Theater geht und am Wochenende wandert. Nach außen wirkt er tadellos und jammert gerne über den allgemeinen Werteverfall -“ Jan zuckte die Schultern, von den Seitensprüngen wollte er vor Laura nicht sprechen, auch wenn sie sehr private Dinge mitgeteilt hatte.
„Kein Problem, wenn du lieber die Klappe hältst, so gut kennen wir uns ja nicht. Ich weiß auch nicht, warum ich dir das Ganze verklickert habe.“
Jan dachte sich, dass Jennys Elend sie an ihr eigenes erinnert und sie so aufgewühlt hatte, dass selbst er ihr als Zuhörer recht gewesen war. Ganz so tough, wie sie sich gab, war auch sie nicht.
Er entschuldigte sich, nahm den mittlerweile gut ausgetretenen Pfad hinunter zum See und lief das Ufer entlang bis zur Kiefer, die hinaus aufs Wasser ragte. Dort legte er sich mit dem Rücken auf den dicken Stamm. Ein Bein ließ er links, das andere rechts hinunterbaumeln. Vom Gebirge wanderten Wolkentürme zum See, lösten sich auf und kamen doch unmerklich näher.
Erst jetzt, da er für einen Moment loslassen konnte, spürte er, wie sehr ihn all die Anspannung der letzten beiden Tage, die Überraschungen und Verdächtigungen und Ängste geschlaucht hatten. Auf dem Hinweg hatte er sich ständig um Anna gesorgt, nun flogen die Gedanken durcheinander: dass er gerne auf seinem Handy eine Symphonie hören würde, dass er keinen brauchbaren Soldaten abgeben würde, weil er ungestörte Zeit für sich so dringend benötigte wie Luft zum Atmen, und dass sie fast alle Eltern-geschädigt waren, er selbst und Laura und Jenny, bestimmt auch Gregor. Von Anna wusste er es nicht. Michaels Eltern waren allerdings top.
Ein Schwarm winziger Fliegen waberte über seinem Gesicht. Er schlug einige Male hinein, ohne ihn vertreiben zu können. Der Stamm wurde auf Dauer ohnehin unbequem, und so balancierte er zurück, kühlte sich im See ab und machte sich auf den Heimweg.
„Jan!“, rief eine leise Stimme, als er den Pfad hinaufging.
Er fuhr herum und sah eine Gestalt mit erdverkrustetem Gesicht. „Anna!“ Er wollte zu ihr stürzen, doch seine Beine gehorchten nicht.
„Bist du allein?“
„Ja.“ Er schnappte nach Luft. „Gregor und Michael suchen dich am Ufer. Laura und Jenny sind im Haus.“ Er konnte nichts aus ihrem Gesicht ablesen, der getrocknete Schlamm verdeckte es wie eine Maske. „Wie geht es dir?“
„Komm mit.“
Er folgte ihr. Zwischen hohen, gelb blühenden Büschen hielt sie an. „Wollen sie mich immer noch einsperren?“
„Woher weißt du das?“
„Ich habe vorgestern vom Waldrand aus beobachtet, wie ihr zu viert zum See seid. Und etwas später ist Gregor mit Gewehr im Salon herumgelaufen. Das sah verdammt nach einer Falle aus. Und dann eure Treibjagd gestern! Sie glauben, dass ich das Satellitentelefon habe, und wollen mich zwingen, das Versteck preiszugeben, nicht wahr? Gregor würde mich wahrscheinlich am liebsten nackt an einen Pfosten binden und auspeitschen.“
Jan wollte mit ihr schimpfen, dass sie übertreibe, doch dann erinnerte er sich an die letzte Unterhaltung mit Gregor auf der Veranda. „Gregor hat angedeutet, dass er dich hungern lassen würde. Sei extrem vorsichtig mit ihm!“
Ihr Körper spannte sich an. Jan hatte den Eindruck, dass sie ein Schaudern unterdrückte. „Und die anderen? Was ist mit Laura?“
„Die will dir immer noch an den Kragen.“
„Michael“
„Der möchte mit dir reden, um dich zur Einsicht zu bringen. Notfalls ist er allerdings bereit, dich einzusperren. Und seit du weg bist, steht er Gregor komisch nahe.“
„Was ist aus seinen verrückten Gefühlen für mich geworden?“
„Schwer zu sagen, die habe ich nie begriffen.“
„Und Jenny?“
Jan dachte an das, was sich zwischen ihm und Jenny in der Zwischenzeit ereignet hatte, und hoffte, dass Anna nichts davon beobachtet hatte.
„Was ist mit ihr?“, hakte Anna nach.
„Sie hat mit Gregor geschlafen und weint seitdem in ihrem Zimmer.“
Annas Augen zogen sich zu böse schillernden Schlitzen zusammen. „Das Schwein! Wahrscheinlich hat er sie gekauft.“
So musste es gewesen sein! Plötzlich begriff Jan, worauf Gregors Gerede von den Chips und den Bananen und dem Sex abgezielt hatte. Was hatte er ihr dafür geboten? Was war ihr so viel wert, dass sie ihr erstes Mal diesem Grobian geopfert hatte?
„Und du?“
„Ich?“
„Was denkst du? Habe ich das Telefon geklaut, sollen sie mich einlochen?“
„Ich glaube an deine Unschuld.“ Trotz der Tarnschicht sah er ihre Dankbarkeit. Und es stimmte, wie immer, wenn er sie sah: Er konnte nicht anders, als ihr zu trauen. Doch das war nicht die ganze Wahrheit. „Wenn man die Lage analysiert, bist du allerdings diejenige, die man am ehesten verdächtigen muss. Ein bisschen Herz gegen Verstand.“ Er machte eine unsichere Grimasse, dann legte er all seine Besorgnis in die Stimme: „Bitte stell dich! Ich kann rund um die Uhr bei dir im Zimmer bleiben und mein Essen mit dir teilen.“
„Gegen ein weiches Bett und einen Berg Spaghetti hätte ich nichts einzuwenden. Aber ich fürchte, dass ihr gegen Gregor nichts ausrichten könnt. Wenn er Jenny bekommen hat, bin ich die Einzige, die ihm noch fehlt.“
„Du musst verdammt hungrig sein.“
„Deswegen brauche ich deine Hilfe. Kannst du mir etwas aus der Vorratskammer holen? Wenn du kleine Mengen nimmst – ein Paket Reis, eine Packung Nudeln, eine Tüte Kekse –, merken sie es hoffentlich nicht. Und dann bräuchte ich einen kleinen Topf und ein Feuerzeug. Und eine Decke.“
Jan überlegte, was Gregor mit ihm anstellen würde, wenn er das herausbekäme.
„Ich kann verstehen, wenn du nicht willst.“
„Natürlich mache ich das. Nur will ich nicht, dass du wieder abhaust. Das ist zu gefährlich.“
„Gefährlich – und einsam.“ Hatte er richtig gehört? Anna gab zu, einsam zu sein? Schon korrigierte sie sich: „Oder wie immer man das nennen will. Eine verrückte Mischung aus Nervosität und Langeweile.“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wie lange sind Gregor und Michael schon unterwegs?“
„Schätzungsweise zwei Stunden.“
„Haben sie gesagt, wie lange sie wegbleiben?“
„Nein. Ich denke, noch ein paar Stunden. Gestern haben wir dich fast den ganzen Tag gesucht.“
„Dann komme ich mit zum Haus.“
Jan starrte sie ungläubig an. „Willst du dich doch stellen?“
„Mit etwas Glück kann ich mich in der Vorratskammer bedienen und abhauen. Dann kriegst du keine Probleme.“
„Nein! Laura könnte versuchen, dich aufzuhalten.“
„Mit der werde ich alleine fertig. Geh zum Haus und tue so, als ob nichts wäre.“
„Das ist zu –“
„Mach schon!“ Sie wollte ihn aus dem Gebüsch schieben.
„Lass das! Wenn ich dir helfen soll, darfst du mich nicht herumkommandieren.“
Sie betrachtete ihn schweigend.
„Ich werde dir Essen holen. Bleib hier, ich bin so schnell wie möglich zurück.“
Ein wenig Spannung wich aus ihrem Körper. „Danke, Jan.“
Er joggte den Pfad hinauf, ehe er sich zu einer normalen, unverdächtigen Geschwindigkeit zwang. Als er zur Lichtung kam, sah er Jenny. Sie stand genau dort, wo ihr Gregor gestern etwas zugerufen und sie zu ihm aufgeschlossen hatte. In ihrer langen Hose und dem dünnen Pullover musste ihr viel zu heiß sein. Jan ging zu ihr. Sie betrachtete ihn durch ihre Sonnenbrille, wandte den Kopf ab, grüßte leise und bat ihn im gleichen Atemzug, sie allein zu lassen.
Er stieg die Stufen zur Veranda hinauf und blickte zurück. Wie Jenny ihr Leid darstellte, hatte etwas Theatralisches. Doch es war kein Ruf nach Mitleid. Die anderen sollten keine Tröster sein, nur Zuschauer ihrer Zeremonie. Oder brauchte sie nicht einmal Zuschauer, tat sie das ganz für sich? Jan riss sich los, er brauchte keinen Sinn darin zu erkennen – Jenny musste ihren Kummer selbst bewältigen.
Er holte seinen Rucksack von oben. Durch die Tür des Mädchenzimmers hörte er Laura einen Popsong summen. Leise stieg er die Treppe wieder hinunter. In der Vorratskammer leerte er einen Kartoffelsack und füllte ihn mit möglichst kalorienhaltiger Nahrung. Dann verstaute er ihn zusammen mit einem Topf, einem Feuerzeug und zwei Packungen Streichhölzer in seinem Rucksack und spähte in den Salon. Niemand war zu sehen. Er nahm eine der Fleece-Decken von der Couch, legte sie über das Essen und öffnete vorsichtig die Tür nach draußen.
Direkt neben ihm lehnte Laura an der Wand. „Wieder zurück?“
„Ja“, stieß er hervor.
„Ich werde nachher auch eine Runde schwimmen. So eine Hitze.“
„Das ist eine gute Idee.“ Er lächelte so entspannt er konnte.
Laura nickte mit dem Kopf in Jennys Richtung. „Die steht seit Ewigkeiten in der prallen Sonne, wie festgewachsen.“
„Vielleicht sollten wir sie reinholen.“
„Ach, sie muss selbst wissen, ob sie sich grillen will.“ Laura klopfte ihm über die Schulter, als würde sie Staub wischen. „Wo hast du dich denn rumgetrieben?“
Jan sah, dass er sich Schulter und Oberarm mit gelben Pollen bedeckt hatte. „Keine Ahnung.“
Sie heftete ihren Blick auf seinen Rucksack. „Und wo gehst du jetzt schon wieder hin?“
„Ich ...“ Jan räusperte sich und suchte nach einer Antwort. „Nochmal zum See. Ich habe mein Buch liegen lassen.“
Laura wiegte nachdenklich den Kopf. „Ich würde ja gerne mitkommen, aber es ist wohl doch korrekter, wenn jemand bei Jenny bleibt.“
„Das ist lieb von dir. Ich beeile mich. Dauert höchstens eine halbe Stunde.“ Jan lief davon, ehe sie antworten konnte.
Er fand Anna auf Anhieb in ihrem Versteck, gab ihr die Vorräte und die Decke und versprach, in zwei Tagen eine Tüte am westlichen Ufer zu verstecken. Sie kannte den Baum, auf dem er eben gelegen hatte, und sie vereinbarten, dass er die Tüte dort aufhängen würde. Übrigens habe sie ihr Kanu vor Tagesanbruch nicht weit davon entfernt an Land gebracht, erwähnte Anna. Er mahnte sie, vorsichtig zu sein. Michael und Gregor mochten es gefunden haben und ihr einen Hinterhalt legen. Sie beruhigte ihn, sie habe es einen Bach hinaufgezogen und sehr gut versteckt. Auf jeden Fall wolle sie bis zur Dunkelheit warten, ehe sie wieder ablege. Zum Abschied umarmte sie ihn. Ein wenig Dreck bröselte von ihrer Wange auf sein T-Shirt. Er schaute ihr nach, bis das Grün sie geschluckt hatte.
Er wartete eine Weile, damit seine Geschichte vom vergessenen Buch glaubwürdig wäre, und schlenderte zum Haus. Laura ging zum Baden und kam zurück, Jenny, die sich hingelegt hatte, machte sich ihrerseits auf zum See. Die Stunden zogen sich dahin. Jan saß ruhelos auf der Veranda und hoffte, dass Anna ihren Jägern nicht in die Arme liefe.
Endlich näherte sich jemand, doch es war nur Jenny. Sie schritt selbstversunken über die Lichtung, nickte Jan zu und verschwand im Haus. Er lief eine Weile auf und ab und setzte sich wieder. Wo blieben Michael und Gregor nur? Die Sonne fiel bereits schräg auf den funkelnden See.
Ein Schuss ertönte in der Ferne! Jan sprintete los, Zweige kratzten ihm übers Gesicht, er stolperte, rappelte sich auf, sprang über einen querliegenden Baumstamm, stürmte durch die Senke mit den Farnen und eine Anhöhe dahinter hinauf. Oben blieb er stehen und schrie nach Anna. Wie weit war ein Schuss zu hören?
Michael rief nach ihm. Jan rannte auf die Stimme zu und sah die beiden gleich darauf durch den aufgelockerten Wald. Gregor trug etwas in der Hand: einen großen, grauen Hasen.
Jan taumelte und rang nach Atem, die beiden anderen kamen auf ihn zu.
„Was ist los?“ Michael blickte alarmiert.
Jan schüttelte den Kopf. „Nichts.“
„Warum bist du dann so in Panik?“
„Bingo!“ Gregor schwenkte den toten Hasen. „Er dachte, wir hätten Anna abgeknallt. “
Sie kehrten zum Haus zurück. Vor Laura schwärmte Michael: „Ihr hättet sehen müssen, was Gregor für ein sicherer Schütze ist. Der Hase war sofort tot, dabei war er zwanzig oder dreißig Meter entfernt.“
„So oft, wie ich meinen Vater begleitet habe ...“ Gregor zuckte mit den Schultern. „Ihr hättet in Tunesien bei der Vogeljagd dabei sein sollen. Das sind fiese Ziele!“
„All die Jahre haben wir auf der Schulbank gesessen und dabei ist der Mensch zum Jagen gemacht!“, rief Michael.
Sich den Bericht von der Jagd anzuhören, überstieg Jans Kräfte. Er floh hinauf ins Jungenzimmer, legte sich aufs Bett und blickte aus dem Fenster auf die blendend weißen Wolkentürme. Wie konnte sich Michael für Gregors Schießkünste begeistern und so wenig Mitgefühl zeigen?
Jan las, um sich abzulenken. Unten wurde der Hase gebraten, der Duft stieg ins Jungenzimmer. Hoffentlich würde niemand die fehlenden Vorräte bemerken.
Er grübelte, wie er Anna helfen könnte, falls sich diese Situation über längere Zeit hinziehen sollte. Er musste einen Weg finden, ihr regelmäßig Proviant und Informationen zukommen zu lassen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Und ein Buch aus Mr. Thompsons kleiner Bibliothek im Salon sollte er ihr jedes Mal beilegen. Sie tat ihm leid, er hätte gerne ihr Exil geteilt. Dabei wusste er nicht, ob sie nicht die Täterin war und er die Gefahrensituation für die Gruppe verlängerte, indem er ihr beistand. Aber wie konnte er sie für schuldig halten, wenn er sich so zu ihr hingezogen fühlte?
Michael rief zu Tisch. Der Hase war halb roh und versalzen – Jenny hatte in der Küche gefehlt und auch zum Essen war sie nicht erschienen. Gregor und Laura schimpften über Anna, die ihnen den Urlaub kaputtmache, Michael stimmte zu, ohne selbst viel beizutragen. Über Jenny fiel kein Wort.
Jan zog sich mit einem großen Glas Wasser zum Lesen in sein Bett zurück, kaum dass er den letzten Bissen in den Mund gesteckt hatte. Nach fünfzig Seiten wurde er müde, die Zeilen verrutschten vor seinen Augen. Er klappte das Buch zu und wachte erst auf, als die beiden anderen Jungs zu Bett gingen. Es dauerte lange, bis er wieder einschlief.
Irgendetwas weckte ihn. Gregors Decke war zurückgeschlagen. Michael schnarchte.
Jan drehte sich auf die andere Seite. Wahrscheinlich war Gregor einfach pinkeln gegangen.
Aber ihm war, als habe ihn ein Scheppern geweckt. Er beschloss, sich Gewissheit zu verschaffen, stand auf, schlich durch den Flur, die Treppe hinunter, in den Salon. Auf der Couch schimmerte das Jagdgewehr im Mondlicht. Gregor musste es dort abgelegt haben. Jan packte es und legte den Finger auf den kalten Abzug. Es war schwerer als die Flinten, die er vom Jahrmarkt kannte – und es konnte töten.
Auf Zehenspitzen eilte er zur Küche.
Ein kühler Luftzug wehte ihm entgegen. Am Boden glimmerten Scherben, das Fenster war eingeschlagen und geöffnet worden.
In der Vorratskammer polterte es. Jan riss die Tür auf und sprang zurück.
Die Kammer war finster. Etwas bewegte sich auf dem Boden.
„Nicht schießen!“, rief jemand. „Weg mit dem Gewehr!“
Jan senkte die Mündung.
„Jan?“ Gregors Stimme war angestrengt, zugleich erklang ein leises Stöhnen.
„Was machst du da?“
„Hau ab!“ Wieder das Stöhnen, wie ein Rufen, und raschelnde, knackende, scheppernde Geräusche am Boden.
„Anna?“
„Verpiss dich, Jan.“
„Anna, sag was!“
Jan tastete nach dem Lichtschalter. Erst sahen seine geblendeten Augen nichts – und dann alles zugleich: die leergefegten Borde, das umgestürzte Regal, Anna mit dem Gesicht nach unten in dem Durcheinander aus Packungen, Dosen, Obst und Gemüse, Gregor auf ihr liegend, die Arme um sie geschlungen, Hemd und Hose verschmiert.
Anna wehrte sich.
„Lass sie los!“, befahl Jan.
„Wie du willst. Ich komme zu dir, pass auf, dass du nicht versehentlich einen Schuss auslöst.“
Jan trat zur Seite, ließ Gregor fliehen und stürzte zu Anna. „Bist du verletzt?“
Sie atmete stoßweise, ihre Hände zitterten.
„Was hast du?“
Sie drehte sich auf die Seite. Ihre Augen waren geweitet. Jan war, als würde sie ihn nicht erkennen und ihn am liebsten zerreißen. Er wich zurück und sagte: „Ich bin es, Jan. Gregor ist abgehauen. Tut es dir irgendwo weh?“
Sie schloss die Augen und sagte mit einer Stimme, die ihm ein wenig fremd vorkam, etwas tiefer: „Ich weiß nicht. Das Schwein!“ Sie stemmte sich hoch, er half ihr auf. „Ich muss fliehen!“
„In deinem Zustand? Du bleibst hier!“
„Ich muss weg!“
„Sie würden dich fangen. Gregor holt sicher die anderen.“ Er brachte sie zur Couch. Sie ließ sich in die Kissen sinken, er kniete sich neben sie. „Was ist passiert?“
Ein Schauer schüttelte sie und sie griff nach seiner Hand. „Er hat mich überrascht, als ich mir Essen holen wollte. Er hat mich festgehalten und mir ein Tuch gegen den Mund gepresst. Ich hätte davor schreien können. Aber ich habe mich erst gewehrt, das war ein Reflex, und nach ein paar Sekunden war es zu spät.“
„Er wollte dich vergewaltigen!“ Hatte Gregor nicht mit einer Hand seine Hose festgehalten, als er geflohen war? Jan glaubte sich daran zu erinnern, doch all seine Aufmerksamkeit hatte Anna gegolten.
Ihre Lippen bebten. „Zum Glück ... bist du ...“
Jan streichelte ihre Hand. „Hast du sicher nichts Ernsthaftes abbekommen?“
Anna bewegte Arme und Beine. „Nur Schrammen und wahrscheinlich ein paar blaue Flecken.“ Sie versuchte ein tapferes Lächeln.
„Warum hast du dich eingeschlichen? Ich habe dir doch gerade Essen gebracht?“
„Ich habe es in einem Versteck zurückgelassen, um mich ohne Rucksack dem Kanu zu nähern. Falls mir Michael und Gregor auflauerten, wollte ich wegrennen können. Irgendwelche Tiere haben es gefressen. Und da dachte ich mir, dass ich mir eine große Menge beschaffe, die Vorräte unter einem Haufen Steinen vergrabe und vielleicht die verbleibenden drei Wochen damit auskomme.“
Aber Gregor hatte ihr aufgelauert. Wo er nur blieb? Wahrscheinlich wollte er Anna gar nicht mehr festhalten, sondern hoffte, dass sie fliehen und er ungeschoren davonkommen würde. Jan erhob sich. „Ich rufe die anderen.“
„Kannst du mir erst etwas zum Saubermachen geben?“
Er ging in die Küche und holte das Gewehr und ein feuchtes Tuch. Sie wischte sich den Schmutz von Gesicht und Armen und warf das Tuch in den rußigen Kamin.
Jan rief die Treppe hinauf: „Kommt alle runter! Anna ist da.“
Im oberen Stockwerk wurden Stimmen laut. Die vier kamen gemeinsam herunter. Sie hatten sich Pullis und Jacken über ihre Schlafanzüge gezogen. Michael blickte erstaunt, als er Jan mit dem Gewehr hinter der Couch stehen sah. Er dachte wohl, dass Jan Anna an der Flucht hindern wollte.
„Wie hast du sie gefangen?“, fragte Laura.
„Ich habe sie befreit. Setzt euch und hört ihr zu!“
Alle nahmen Platz und Anna erzählte in knappen, unbeteiligten Worten, während Gregor vehement den Kopf schüttelte und sich gewaltsam zurückzuhalten schien.
„Sie lügt“, stieß er hervor, kaum dass Anna geendet hatte. „Ich wollte sie gefangennehmen. Deshalb habe ich ihr gesagt, dass sie stillhalten soll, damit sie sich nicht wehtut. Dass sie ein dreckiges Luder ist – kann schon sein, dass ich das in der Aufregung auch gesagt habe. So falsch wäre das nicht. Aber“, er richtete den Zeigefinger auf Anna, „dass ich sie dafür ficken würde, das hat sie schon wieder dazuerfunden, um Ärger zu machen.“
Laura nickte. „Das kennen wir von ihr.“
„Verdammt“, rief Jan, „ Gregor lag auf ihr drauf! Und ich glaube, seine Hose war offen.“
„Du glaubst, seine Hose war offen?“ Laura lächelte überzogen und flatterte mit den Wimpern. „Wenn Gregor seine Hose geöffnet hätte, würdest du jetzt mit dem Metermaß dasitzen und nachmessen, ob deiner wenigstens halb so lang ist.“
Jan wusste nicht, was er sagen sollte. Laura glaubte nicht im Entferntesten daran, dass Anna die Wahrheit sagte. Sie war nicht einmal bereit, darüber nachzudenken. Für sie stand fest: Die Verräterin war gefasst und versuchte mit einem perfiden Trick, die Gruppe gegen Gregor aufzubringen.
„Probier es mal mit Viagra Junior“, flötete Laura, „für die kleine Erektion.“
„Ich habe nicht auf Gregor geachtet“, rief Jan, „und hör auf -“
Laura hob verzweifelt die Arme, wie eine Anwältin in einer Gerichts-Soap. „Keine weiteren Fragen an den Zeugen. Er hat auf den Angeklagten nicht geachtet.“
„Hör auf mit dem Scheiß“, schrie Jan sie an. „Gregor wollte Anna vergewaltigen, das ist kein Spiel mehr.“
„Du darfst nicht von dir auf andere schließen. Wenn Gregor will, kriegt er so viele Frauen, dass sein Schwanz glüht. Er hat so was nicht nötig, verstehst du?“
„Ganz ruhig, Leute“, intervenierte Michael, „lasst das nicht außer Kontrolle geraten. Wir sollten Jan erzählen lassen, was er mitbekommen hat.“
Jan vollzog den Hergang noch einmal nach. „Ich bin von einem Geräusch geweckt worden und hinunter gegangen. Auf der Couch lag das Gewehr, das habe ich an mich genommen und bin in die Küche. Da habe ich ein Scheppern in der Vorratskammer gehört und habe die Tür aufgerissen. Gregor wollte, dass ich abhaue. Ich glaube, er hat ‚Verzieh dich‘ gesagt. Aber Anna hat gestöhnt und ich habe das Licht angeknipst. Gregor lag auf Anna und ist gleich geflohen.“ Jan überlegte, ob er hinzufügen sollte: Er könne sich jetzt wieder definitiv daran erinnern, dass Gregor seine offene Hose mit einer Hand festgehalten habe. Aber er brachte es nicht über sich. Er hätte gründlich nachdenken müssen, ehe er sich zu einer solchen Lüge durchgerungen hätte.
Michael fragte: „Zwischen deinem Aufwachen und dem Moment, in dem du die beiden gesehen hast, wie viel Zeit ist da in etwa verstrichen?“
„Bestimmt eine halbe Minute. Ich habe nicht sofort geschaltet, ich war mir ja nicht einmal sicher, ob ich mir das Geräusch nicht eingebildet hatte.“
„Anna hat gesagt, dass Gregor ihr ein Tuch auf den Mund gepresst hat. Kannst du das bestätigen?“
Wieder schoss Jan der Gedanke durch den Kopf, dass er lügen sollte. Gregor war schuldig und durfte sich nicht herausreden! Doch noch während Jan nachdachte, was in dieser Situation richtig war und was falsch, sagte er: „Ich weiß es nicht. Anna hat seltsame Geräusche von sich gegeben, es klang wie erstickte Schreie. Aber ich habe kein Tuch gesehen.“
„Hättest du es gesehen, wenn er es ihr vor den Mund gehalten hätte?“
„Wahrscheinlich nicht. Sie lagen mit dem Rücken zu mir.“
Michael erhob sich. „Laura, kommst du mit in die Vorratskammer nachschauen?“
Die beiden verschwanden durch die Küchentür, ihre leisen Stimmen waren unverständlich. Jenny starrte wie versteinert auf ihre gefalteten Hände. Gregor grinste, doch zugleich kratzte er am brüchigen Leder seiner Armlehne – ein Ausdruck von Nervosität, den Jan von ihm nicht kannte.
Michael kam mit Laura zurück, setzte sich und hielt ein verknittertes Küchentuch in die Höhe.
„Das ist es“, bestätigte Anna.
„Was soll das alles?“ Gregor machte eine wegwerfende Geste. „Der ganze Stapel lagert in der Vorratskammer gleich rechts, wenn man reinkommt. Ist doch klar, dass davon eines runterfallen kann, wenn man da drinnen kämpft. Anna kann mich gerne verklagen, sobald wir hier draußen sind, und dann werdet ihr sehen, wie lächerlich die Anschuldigung ist. Ein echter Richter wird wegen so was nicht mal ein Verfahren eröffnen. Wenn ihr hier Gericht spielen wollt, tut das ohne mich. Ich habe keinen Bock auf Kinderfasching.“
„Ob Anna in drei Wochen eine Strafanzeige erstattet, ist ihre Angelegenheit.“ Michaels sonst so warme Stimme war schneidend. „Wie wir unsere Sicherheit bis dahin gewährleisten, geht uns alle an. Wenn wir nach einer versuchten Vergewaltigung nichts unternehmen, kommt hier am Ende keiner lebend raus.“
„Einer schon.“ Gregor grinste, doch er zerrte weiter mit den Fingern am Leder der Armlehne, die er mittlerweile eingerissen hatte.
„Du hast Anna mindestens eine halbe Minute festgehalten. Warum hast du nicht nach uns gerufen? Warum war die Tür zur Küche geschlossen? Warum hast du sie nicht in den Salon gebracht? Stattdessen hast du sie festgehalten und vermutlich am Schreien gehindert. Dafür haben wir ein Indiz“, Michael tippte auf das Küchentuch auf seinem Knie, „und dafür spricht auch der Umkehrschluss, dass sie sonst geschrien hätte. Oder meinst du nicht, dass es ihr angenehmer gewesen wäre, uns allen Rede und Antwort zu stehen, als unter dir in der dunklen Vorratskammer zu liegen?“ Gregor wollte antworten, doch Michael ließ ihm keine Zeit. „Als Jan hereinplatzte, wolltest du ihn vertreiben. Wieso kam dir seine Hilfe nicht gelegen? Ob das einem Richter reicht, um dich ins Gefängnis zu stecken, kann ich nicht beurteilen. Mir reicht es, um dich einzusperren.“
Laura verzog das Gesicht. „Hast du sie noch alle?“
Michael hatte Gregors Lügen meisterhaft bloßgelegt – aber das prallte an ihr ab. War sie so solidarisch mit Gregor oder so hasserfüllt gegen Anna, fragte sich Jan schockiert.
„Wir wollten Anna einsperren“, sagte Michael fest, „weil wir vermuteten, dass sie unsere Außenverbindung gekappt hat. Wenn wir davon ausgehen müssen, dass Gregor sie vergewaltigen wollte, ist das erst recht ein Grund.“
„Du hast nichts als die Behauptungen von Anna und Jan“, sagte Laura abfällig, „und Jan tut sowieso, was Anna will.“
„Wir haben mehr als das. Wir haben Gregors eigene Aussage, die unstimmig ist, wie ich eben aufgezeigt habe. Außerdem hat er Andeutungen gemacht, dass er Lust dazu hätte, sie zu missbrauchen, wenn sie ihm in die Hände fällt.“
„Du ...“ Gregor ballte eine Faust, ließ los und dachte nach. „So habe ich es nicht gesagt, und das war nur so dahergeredet.“
„Jan, du warst dabei, gestern auf der Veranda. Wie hast du das empfunden?“
Jan versuchte, sich an den Wortlaut zu erinnern. „Er hat gesagt, dass sie uns für unsere Anstrengung entschädigen müsse. Und dann hat er davon geredet, dass Frauen sich von Natur aus prostituieren. Außerdem hat er mir heute Morgen erklärt, nach Jenny sei Anna als Nächste dran.“
„Männergespräche – na und?“ Gregor zog den Finger aus dem Loch, das er in die Armlehne gebohrt hatte, und deutete auf Jan. „Hast du etwa keinen Bock auf sie?“
„Wir wissen doch alle“, rief Laura, „dass Gregor ein Dummschwätzer ist. Er gibt halt gerne an und macht einen auf Macker.“
„Lasst uns realistisch sein“, sagte Gregor und atmete demonstrativ durch. „Also, allen ist klar, dass ich Anna nichts getan habe, außer sie festzuhalten – und das hatten wir längst beschlossen. Dafür sind wir ja zwei Tage wie die Deppen durch den Wald gerannt. Wenn ich dann zufällig nachts im Haus auf sie stoße, dann liegt das doch auf der Hand, dass ich sie festhalte – ist doch das Logischste auf der Welt. Sie hat sich gewehrt wie eine ... Furie!“ Gregor strahlte über die dramatische Bezeichnung, die ihm eingefallen war, und zeigte seinen lädierten Handrücken. „Da, schaut euch an, wie sie mich gekniffen hat, bis aufs Fleisch, das Miststück. Sie hat eine irre Kraft entwickelt, echt wie eine Furie. Meint ihr, ich habe da nachgedacht: ‚Jetzt sollte ich die anderen rufen und wir besprechen die Sache‘? Erst habe ich sie gar nicht in den Griff bekommen, ich wollte ihr ja auch nicht die Fresse einschlagen, und dann musste ich aufpassen, dass sie mir nicht die Augen auskratzt – oder mich beißt. Kann sein, dass ich ihr deswegen das Tuch auf den Mund gehalten habe, falls ich das getan habe, es war so ein Durcheinander, ihr habt ja gesehen, wie es in der Kammer aussieht. Vielleicht habe ich sogar etwas mit Ficken gesagt, ‚Fick dich‘, oder so was.“ Gregor hielt inne und schien seine Gedanken zu ordnen.
Michael sagte: „Du hast -“
„Jetzt bin ich dran! Ihr habt vorhin auch alle ausreden dürfen. Ich will nämlich noch klarstellen, dass ihr beide an Anna ranwollt. Deswegen seid ihr parteiisch. Laura und ich sehen die Sache mehr objektiv, wir denken, dass Anna die ganze Zeit Ärger gemacht hat und gelogen hat und sich in eine Sackgasse manövriert hat. Ist doch super für sie, dass sie mich jetzt beschuldigen kann – auf die Art werde ich am Ende eingesperrt und nicht sie.“
Stille trat ein. Jan war verunsichert. Gregor hatte seine Darstellung mit solchem Selbstbewusstsein vorgetragen – vielleicht würde er Michael zum Zweifeln bringen, und bestimmt reichte es, um Laura auf seiner Seite zu halten. Das allein machte es unmöglich, ihn einzuschließen. Eine solch extreme Maßnahme konnten sie nur gemeinsam treffen und umsetzen.
„Du wirst eingesperrt.“ Jennys Blick huschte zu Gregor und zurück auf ihre gefalteten Hände. „Er hat –“
„Halt die Klappe!“, rief Gregor.
„Ich habe ihn in mein Bett gelassen -“
„Halt die Klappe, verflucht! Das bleibt unter uns.“
„Lass sie aussprechen!“, fuhr Michael ihn an. „Wehe, du unterbrichst sie noch ein Mal.“
„Was dann?“
Michael biss sich auf die Unterlippe und schwieg. Jan gestand sich ein, dass ihr Gericht nichts als eine Farce war. Sie konnten Gregor nicht mit Gewalt drohen. Selbst wenn sie zu zweit auf ihn losgingen und Laura sich raushielt, war nicht abzusehen, wie der Kampf ausgehen würde. Auf jeden Fall war das viel zu gefährlich, um es ernstlich in Erwägung zu ziehen.
„Dann sperren wir dich vorübergehend ein“, sagte Michael.
„Komm her und ich polier dir die Fresse!“
Michael schaute zu Jan. „Pass auf, dass er das Gewehr nicht bekommt. Wenn er dich angreift, schieß.“
Jans Hände wurden feucht. Sollte er im Notfall wirklich abdrücken? Auf die Distanz würde sogar er treffen.
„Ihr könnt nicht auf mich schießen.“ Gregor lachte falsch.
Michael ließ einige Sekunden verstreichen und sagte langsam: „Wenn du Jenny noch einmal unterbrichst, werden wir dich einsperren, bis sie fertiggeredet hat. Und ich werde dabei das Gewehr übernehmen.“ Er wandte sich zu Jenny und lächelte beruhigend. „Du kannst uns jetzt erzählen, was passiert ist.“
Sie zögerte, dann sprach sie monoton, als rezitiere sie einen Text, der sie nichts anginge: „Er hat mir einen Trainee-Posten in der Hotelkette versprochen, für die sein Vater arbeitet. Ein Programm, mit dem man ins Ausland kommt und Karriere machen kann. Was ich dafür tun musste ... das war nicht ...“ Sie presste ihre Hände zusammen. „Ich habe mich gewehrt. Da hat er mir das Kissen aufs Gesicht gepresst und es trotzdem getan. Ich habe mich so geschämt, dass ich euch danach nichts sagen konnte.“
Wie hatte Gregor das wagen können? Sie alle hatten direkt nebenan gelegen. Oder hatte ihm das den besonderen Kick gegeben? Jan schaute entsetzt zu Gregor – und merkte, dass der im Sessel nach vorne gerückt war und ihn sprungbereit aus den Augenwinkeln beobachtete. Jans Puls beschleunigte, er entsicherte das Gewehr.
Laura hob den Kopf, begriff, was das Klicken zu bedeuten hatte, und wandte sich zu Gregor: „Bau keinen Scheiß! Sonst hast du ein Loch im Bauch.“
„Sie hat es doch gewollt!“, schrie Gregor. „Danach heult sie rum, aber als ich sie -“
Jenny sprang auf, holte aus und schlug mit der flachen Hand nach seinem Gesicht. Er blockte sie ab, verdrehte ihr den Arm und stieß sie weg. Sie rannte die Treppe hoch.
Anna erhob sich von der Couch und humpelte ihr nach.
„Dafür wirst du zahlen“, sagte Michael erschüttert.
„Fuck!“, schrie Laura. „Du Arsch! Du widerwärtiges Arschloch! Du bist ja völlig pervers! Das ist nicht cool, das ist einfach nur krank!“ Ihre Brust hob und senkte sich. „Dass du so etwas tun kannst! Ich kann Waschlappen nicht ab und Heulsusen erst recht nicht, und wir haben gut gelacht, aber dass du ein Vergewaltiger bist ...“
Gregor blickte apathisch vor sich hin.
„Jetzt kriegst du das Maul nicht auf, du Großkotz! Wie konnte ich mit dir nur je befreundet sein? Fuck!“
„Du hast recht, Laura, aber das bringt nichts“, sagte Michael. „Wir sollten herausbekommen, wo er das Satellitentelefon versteckt hat.“
Laura blickte auf die Couch, auf der Anna bis eben gelegen hatte, und dann zu Gregor. „Das warst auch du? Natürlich, du wolltest verhindern, dass wir Hilfe rufen können, wenn du dich über Jenny und Anna hermachst. Wo hast du es hingetan?“
„Fotze“, murmelte Gregor.
„Du sagst es uns oder ich trete dir die Eier weg!“
„Fotze.“
Michael hob besänftigend die Arme. „Gregor, gib uns das Telefon und diese verfluchte Reise ist vorbei. Wenn du vor einem ordentlichen Richter nichts zu befürchten hast, umso besser für dich. Wenn es Ärger gibt, musst du so oder so da durch. Du hast nichts davon, hier noch drei Wochen gefangengehalten zu werden.“
„Anna hat es.“
„Nein, du hast es.“
„Davor wart ihr alle der Meinung, sie hat es.“
„Davor wussten wir nicht, dass du Jenny und Anna vergewaltigen wolltest.“
„Ich wollte keine der beiden vergewaltigen und ich habe keine der beiden vergewaltigt.“
„Okay“, mischte sich Laura wieder ein, „du kannst behaupten, dass du Jenny und Anna nie berührt hast, aber rück wenigstens das Telefon raus. Dass du das versteckt hast, ist nicht strafbar. Und selbst wenn, wir werden dich nicht anzeigen.“
„Bist du taub? Ich habe es nicht!“
„Sackgasse.“ Michael verzog den Mund. „Er kann den Ort des Telefons nicht verraten, ohne damit ein Indiz zu liefern, dass er eine Vergewaltigung geplant hatte.“
„Hä? Ach so! Scheiße!“
„Ich war es wirklich nicht“, sagte Gregor gewichtig. „Ehrenwort.“
„Steck dir dein Ehrenwort in den Arsch“, sagte Laura im gleichen Tonfall.
„Mann, Laura, schlaf erstmal eine Nacht drüber. Wir sind Kumpels. Die Idioten haben eine klasse Show abgezogen und du hältst mich jetzt für den abgefreaktesten Bösewicht seit Dschingis Khan, aber das ist falsch und irgendwann wirst du sie durchschauen und wir ...“
Laura sah ihm in die Augen. „Fuck you!“
Gregor wandte sich zu Michael. „Ich lasse mich von euch einsperren. Sag deinem kleinen Sheriff, er kann sein Gewehr endlich wieder sichern.“ Jan bekam einen Schreck und verriegelte sofort den Abzug. Wie leicht hätte er einen versehentlichen Schuss abgeben können! „Sperrt mich eine Nacht ein und morgen sprechen wir weiter. Ihr werdet schon noch dahinterkommen, was für eine Kriminelle Anna ist. Passt gut auf, wenn ihr sie bumst. Wer von euch darf zuerst?“
„Das reicht.“ Michael stand auf und ließ sich von Jan das Gewehr geben. „Du kannst gleich so viel vor dich hinreden, wie du willst.“
Jan stützte sich an der Couch ab. Was in der letzten Stunde geschehen war, überwältigte ihn. Die Adrenalinstöße, als er den Geräuschen nachgeforscht und die Tür zur Vorratskammer geöffnet hatte. Das Entsetzen, dass Anna fast vergewaltigt worden wäre – und die Erleichterung, dass sie diesem Schicksal entronnen war. Die Wut auf Gregor, der Jenny mitten unter ihnen missbraucht hatte, die Angst, schießen zu müssen, und zuletzt der erlösende, einhellige Entschluss, den Dreckskerl einzusperren.
Sie diskutierten, wo sie Gregors Zelle einrichten sollten. Anna kam herunter und inspizierte mit Jan ihr Zimmer und den Schuppen. Auf diesen fiel schließlich die Wahl. Er hatte keine Fenster, durch die Gregor aussteigen könnte, eine leidlich solide Tür mit einem Vorhängeschloss und eine Bretterwand, die Gregor vielleicht zertrümmern könnte, jedoch nur mit so viel Mühe und Lärm, dass sie rechtzeitig alarmiert würden. Außerdem war von dort der Weg zum Klohäuschen kurz und die Luft, die durch die Ritzen zog, würde verhindern, dass es allzu sehr stank, wenn er in einen Eimer machte.
Michael übernahm Gregors Bewachung, die anderen trugen Matratze, Decken, Kleider und einen Stuhl in den Schuppen. Die Matratze wellte sich ein wenig, als sie sie zwischen Wand und Holzstapel zwängten. Mit Brennholz beladen kehrten sie in den Salon zurück.
Die beiden Jungs eskortieren Gregor hinaus. Jan lief hinter Michael, um nicht in der Schusslinie zu sein. Ein poetisches Bild: ein Gefangener und ein bewaffneter Wächter im silbrigen Licht. Kein Geräusch – das Gras dämpfte ihre Schritte und selbst der Wald schwieg. Gregor trat in den finsteren Schuppen und warf die Tür hinter sich zu. Jan drehte den Schlüssel im Vorhängeschloss um und blickte zu Michael hinüber. Er fühlte sich erleichtert und unwohl zugleich.
An der Schuppenwand wurde gerüttelt, oben und unten, vorne und hinten. Gregor untersuchte sein Gefängnis und schimpfte dabei vor sich hin. Die Worte waren nicht zu verstehen.