1. Tag

Aus dem Flugzeugfenster sah Jan die ersten schneebedeckten Gipfel. Bei ihrem Start vor einer halben Stunde hatten sie die Zivilisation hinter sich gelassen: eine Handvoll improvisierte Häuser am Ende einer Schotterpiste. Seitdem hatte er keine Siedlung und keine Straße mehr ausmachen können, nur Wälder und Wiesen, durchzogen von Flüssen mit weit ausgeschwemmten Kiesbetten.

Vor ihnen erhoben sich die Berge wie eine Festung, an der die Vegetation abprallte. Gras, Büsche und vereinzelte Nadelbäume hielten sich noch auf den unteren Hängen, dann blieben nur Schotter und nackter Fels. Die unregelmäßig gezackte Gipfelkette erstreckte sich, so weit das Auge reichte. Die Landschaft verschlug Jan den Atem – die Landschaft und der Traum, für den sie stand.

Er hatte die Hoffnung schon aufgegeben, dass er eine richtige Abi-Reise mit Freunden unternehmen würde. Nach Skandinavien oder in die Alpen wollte niemand. Und auf Ibiza oder einer anderen Party-Insel hätte er keine Chance, bei einer Gruppe dazuzugehören. Durch die Clubs ziehen, sich besoffen anschreien, anmachen, am nächsten Tag verkatert am Strand abhängen und dabei immer cool sein: Das wollte er nicht. Und selbst wenn er es wollen würde, könnte er es nicht – er hatte das oft genug probiert.

Während sich die anderen zu Reisegruppen zusammentaten, hatte er sich damit abgefunden, dass er in den Sommerferien seine Eltern ins Allgäu begleiten und sich dort auf das Germanistikstudium vorbereiten würde. Nun, abgefunden war eine Beschönigung – er hatte sich nur unablässig wiederholt, dass das nicht schlimm sei, dass er gerne Zeit für sich und seine Bücher habe und dass mit dem Studium endlich alles anders werde.

Stattdessen flog er mit fünf anderen aus seiner Abi-Stufe in den hintersten Winkel Alaskas! Mehr Glück konnte man nicht haben. Ungefähr wie ein Sechser im Lotto, wenn man nicht mal ein Los gekauft hat.

Alles hatte mit dem üblichen Reinfall angefangen. Er hatte bei der Abi-Party im Stadtschloss am Rand der Tanzfläche an einem der verlassenen Tische gestanden, auf denen sich die leeren und halbvollen Gläser sammelten. Ein Skulpteur der späten Stunde hatte einen Bierkrug mit Jägermeisterfläschchen aufgefüllt und einen Aschenbecher darübergekippt. Der besinnungslose Taumel widerte Jan an. Wieso sang er nicht wie sein Freund Michael auf der Bühne? Ein Versager war er, der unsichtbar sein wollte, damit ihn niemand anspräche, der gleich Reißaus nehmen würde und doch schon wusste, dass ihn die ausgelassenen Geister der anderen weiter quälen würden. Wieso konnte er sich nicht hineinwerfen in das Gewoge und darin verschmelzen? Er ging.

Aber er kam nicht weit. Michael fing ihn am Ausgang ab und legte ihm einen Arm um die Schulter. „Die Nacht ist noch jung! Du willst doch nicht etwa jetzt schon abhauen?“

Ehe Jan antworten konnte, trat Laura aus der Gruppe der Raucher und wickelte sich lasziv eine ihrer blondierten Strähnen um den Finger. „I wanna sex you up! Singst du das noch mal für mich?“

Michael lachte. „Laura, mein Starlet, ich bewundere lieber die Sterne.“

„Das Angebot steht. Komm zu mir, wenn du mit der Psycho-Beratung fertig bist.“

„Noch ein paar Wochen feiern und die braucht eine Alkoholberatung“, murmelte Michael, während sie die Prunktreppe hinunterstiegen.

Vom Vorplatz des Stadtschlosses schlenderten sie über einen geschwungenen Kiesweg in den Park. Michael setzte sich auf die Lehne einer Bank und machte eine geheimnisvolle Miene. Seine Gedichte mochten grottig sein, aber er sah aus wie ein romantischer Dichter mit seinen halblangen, dunklen Haaren und dem sinnlichen Mund, der sich nun zu einem gewinnenden Lächeln öffnete. Michael kündigte Jan eine Überraschung der Extraklasse an: Der Vater ihres Klassenkameraden Gregor hatte einen Freund, der hieß Mr. Thomson und besaß ein Haus in Alaska, und das nicht irgendwo, sondern in einem riesigen Nationalpark, in dem es keine Straßen gab und Fluggeräte sämtlicher Art verboten waren. Wildnis pur – mit der Ausnahme dieses einen Hauses in einem unzugänglichen Tal, das ein altes Zugangsrecht für Wasserflugzeuge besaß, weswegen es ein Vermögen wert war. Michael und Gregor wollten Laura, Jenny und Anna, die drei attraktivsten Mädchen der Stufe, überreden, sie dorthin zu begleiten. Ob Jan mitwolle?

Mit einem Freudenschrei sagte er zu. Mit Michael und schönen Frauen in die Natur! Für eine Schrecksekunde fragte er sich, ob Michael nicht zu viel getrunken hatte und ihn auf den Arm nahm, aber auf Michael war Verlass.

Ganz sicher war sich Jan allerdings erst, als Michael ihn bat, auch Anna für die Reise zu begeistern. Und dann, im Tal – Michael stockte – vielleicht könne Jan sein Verbündeter sein, er wolle es noch einmal bei Anna versuchen.

Jan war sprachlos. Vor zwei Jahren war Anna mit ihrer Mutter aus Spanien nach Deutschland zurückgekehrt, wo sie bereits als Kind gelebt hatte. Michael hatte sie sofort mit all seinem Charme umworben, doch sie hatte ihn abblitzen lassen. Auch die Liebesbriefe, die er mit Jans Hilfe verfasste, konnten daran nichts ändern. Darüber schien Michael längst hinweg zu sein, schließlich war er im letzten Schuljahr fest liiert gewesen und sie hatten nicht mehr über Anna gesprochen. Doch während sie zum Stadtschloss zurückkehrten, von dem ihnen der Party-Lärm fetzenweise entgegentrieb, gestand Michael, dass er sich mit seiner Freundin nur eingelassen hatte, um sich von Anna abzulenken, und die Beziehung abgebrochen hatte, um Anna in letzter Minute doch noch für sich zu gewinnen. Anna wollte in Paris Tanz studieren – die Abi-Reise war seine letzte Chance.

Das befremdete Jan. Nicht, dass er Michaels Ex besonders interessant gefunden hätte. Aber wie konnte man mit einer Frau zusammen sein, ohne sie zu lieben? Am wenigsten passte das zu Michael, dessen Ehrlichkeit von allen geschätzt wurde und ihm noch mehr Vertrauen einbrachte als seine charmante Eloquenz.

Zudem hätte Jan seinem Freund eine solche Besessenheit nicht zugetraut. Anna hatte sich auf keinen der Bewerber eingelassen, soweit man wusste, und das war eines der heißesten Tuschelthemen des Jahrgangs. Nur mit einigen Außenseitern wie Jan hatte sie sich gelegentlich unterhalten, ohne viel von sich preiszugeben. Insofern wirkte die Sache aussichtslos – und Michael pflegte, Aussichtsloses aufzugeben.

Andererseits hatte Jan im letzten Jahr eine dunkle Seite an seinem Freund entdeckt, oder eher etwas Dunkles, das sich durch die Ritzen des Fröhlichen und Verbindlichen erahnen ließ. Ein unvermittelt gereizter Ton, ein Blick ins Nichts, wenn er sich unbeobachtet glaubte, eine hässliche Krakelei auf dem Block – das waren keine Alarmzeichen, nur das, woran Jan sein diffuses Gefühl am ehesten festmachen konnte: Irgendetwas quälte Michael. Nun kannte Jan endlich das Geheimnis.

Obwohl es ihn ein wenig kränkte, dass Michael ihm etwas so Wesentliches verschwiegen hatte, wollte er seinem Freund gerne helfen. Auch war ihm die Aussicht, vier Wochen in Annas Nähe zu verbringen, durchaus nicht unangenehm. Wann immer sich eine unauffällige Gelegenheit bot, bewunderte er ihre grünen Augen, die aus einer gefühllosen Ferne zu blicken schienen, ihre bronzene Haut, die hell wirkte gegen die schwarz aufgepeitschte Flut ihrer Haare, und mehr als alles andere ihre geschmeidigen Bewegungen. Sie war eine Wildkatze, und in manchem Tagtraum hatte er sich ausgemalt, ihre Beute zu sein.

Auf der Prunktreppe wiederholte Michael die Argumente für die Alaska-Reise, dann schob er ihn zu Anna auf die Tanzfläche. Nervös führte Jan sie in eine ruhigere Ecke und weihte sie in den Plan ein. Ihr sagte die Zusammensetzung der Gruppe nicht zu, und vier Wochen waren ihr zu lang, sie wollte für ihr Tanzstudium in Form bleiben. Jan zählte ihr alle Vorzüge auf: die einmalig einsame Lage in der großartigen Wildnis, die geringen Kosten, da ihnen Mr. Thomson das Haus überließ, und die angenehm warmen, langen Tage im hochsommerlichen Alaska. Er argumentierte auch, dass sie problemlos ein abgeschiedenes Plätzchen zum Üben finden würde und daneben viel Sport betreiben könne. Sie versprach, es sich zu überlegen. Als sie nach zwei Tagen zusagte, hatte Jan das Gefühl, dass ein Grund den Ausschlag gegeben hatte, von dem er nichts wusste.

„Wow!“, schrie Laura in der vorderen Reihe und riss Jan aus seinen Gedanken. „Der Gipfel, da ganz oben! Komm rüber, Gregor, von deinem Fenster aus kannst du ihn nicht sehen. Der ist krass!“

Gregor beugte sich über den schmalen Gang in der ersten Reihe und stützte sich irgendwo an ihr ab.

„Wenn du‘s nicht wärst“, kicherte sie, „würde ich dir jetzt eine scheuern.“

„Wenn du‘s nicht wärst, würde ich das nicht machen“, raunte er.

„Öffne halt deinen Gurt.“

„Du hast keine Erfahrung mit Propellermaschinen. Die können plötzlich wegsacken und du schießt wie bei einem Schleudersitz nach oben, bloß dass die Decke davor nicht aufklappt.“

„Ohne Fallschirm würde dir das auch nicht helfen.“

Gregor richtete sich auf. „Kein Mist, als ich mit meinem Vater in Kenia war –“

„Das war vor zwei Jahren, oder? Mit diesem abgefahrenen Fünf-Sterne-Hotel mitten in der Savanne.“

Jan holte Handy und Kopfhörer aus seiner Hosentasche und entwirrte eilig das Kabel.

„Bingo“, sagte Gregor. „Wir hatten erst ein paar Tage am Meer relaxed und wollten in ein Game Reserve, das ist wie ein Nationalpark, bloß privat.“

Jan setzte die Kopfhörer auf.

„In den öffentlichen Parks sieht man mehr Touristen als Löwen und –“ Beethoven verdrängte Gregor.

Jan wäre jede Wette eingegangen, dass er nicht mit den beiden auf Abi-Reise gehen würde. Nie und nimmer! Gregor konnte er nicht ab, seit der vor einem Jahr an ihre Schule gekommen war. Ein ungewöhnlicher Wechsel, so kurz vor dem Abi. Zumal seine Eltern nicht umgezogen waren und Gregor jeden Tag eine Dreiviertelstunde pendeln musste, wohingegen sein altes Gymnasium vor der Haustür gelegen hatte. Jan hatte sich dezent umgehört, den Anlass jedoch nicht erfahren.

Gregors Manie, sich ständig als Alpha-Männchen zu etablieren, nervte ihn. Gregor konnte die friedlichsten Gesprächsrunden zerstören, platzte einfach dazwischen und setzte sein Thema durch, bei dem es im Zweifelsfall um ihn selbst ging. Das Eigenartige war, dass Gregor etwas an sich hatte, das die anderen dazu brachte mitzumachen. Statt ihn zurechtzuweisen, bemühten sie sich plötzlich ihrerseits, möglichst viele Gesprächsanteile zu erobern, ihre Stärken herauszustreichen und andere unterzubuttern.

Jan hatte lange über die Quellen dieser Dominanz nachgedacht und etliche Erklärungen gefunden. Erstens war Gregor aggressiv und selbstbewusst. Er vermittelte mit jedem Wort und jeder Geste: Ich bin okay, und du bist es nicht. Da wollten die anderen beweisen, dass auch sie okay waren. Zweitens waren seine Eltern steinreich. Der Vater arbeitete als Topmanager für eine Hotelkette und die Stiefmutter war so sexy, dass die männlichen Abiturienten bei der Zeugnisvergabe den Blick nicht von ihrem Dekolleté lassen konnten. Drittens sah Gregor aus wie ein Werbebild für die GI-Rekrutierung: kurze blonde Haare, blaue Augen und ein markantes Kinn. Und viertens war er ein machistischer Frauenaufreißer. Das verlieh Status.

Jans Liste mit Vorbehalten gegen Laura war kürzer, obwohl er sie viel länger kannte. In der fünften Klasse war sie ein verschüchtertes Mädchen mit Zöpfen gewesen, das sich schämte, weil ihre alleinerziehende Mutter die Kleidung im Secondhand-Laden kaufte. Mittlerweile jobbte sie, um sich angesagte Stiefel und Markenklamotten in den Farben der Saison zu kaufen. Jan hätte ihr die Oberflächlichkeit nachgesehen und auch die grelle Art, mit der sie sich ins Zentrum der Aufmerksamkeit schob – alles war supergeil oder total scheiße –, wenn sie ihre frühere Existenz am Rand der Klasse nicht so völlig ausgeblendet hätte. Sie dachte nicht daran, Außenseiter einzubinden, sondern zog über sie her, als wäre das ein bezahlter Nebenjob.

Jan unterbrach den Gedankenstrom. Er wollte sich nicht mit den kleinen Schattenseiten der Reise befassen, sondern den Flug genießen. Das Gebirge, das er eben noch vor ihnen hatte liegen sehen, erhob sich nun zu allen Seiten. Sie folgten einem gewaltigen Gletscher, der nicht hinabzufließen schien, sondern emporzusteigen, um ihnen den Weg zum Gipfel zu weisen, dessen zerklüftete, überfrorene Zinnen langsam ins Blickfeld wanderten. Schnee, Eis und Fels, weiß, grau und schwarz, höchstens ein Türkisschimmer an den Gletscherabbrüchen, sonst nichts, keine Pflanzen, keine Tiere, keine Menschen, kein Werden und Vergehen, eine Welt ohne Gier und Neid, Lüge oder Gewalt, eine leblose Welt, unsterblich schön.

Der vierte Satz von Beethovens siebter Symphonie begann. Jan fühlte, wie das Flugzeug zu eng war, um die Musik zu halten, wie sie hinaus wollte, das ganze Tal zu erfüllen. Sein Körper vibrierte, seine Hände hätten am liebsten das unsichtbare Orchester dirigiert.

Was sorgte er sich wegen Gregor und Laura? Deren Spott würde er wegstecken, die konnten ihn nicht erreichen. Vielleicht war es sogar gut, dass die beiden mitkamen. Vielleicht gehörte die Abhärtung zum großen Wandel. Was wäre er nicht alles bereit zu tun und zu erdulden, um endlich so souverän und populär wie Michael zu werden! Oder wenigstens erfolgreicher bei den Mädchen.

Aber konnte er sich das von dieser Reise erhoffen? Über Anna brauchte er sich nicht den Kopf zu zerbrechen, sie war für ihn unerreichbar. Bedauerlicherweise galt das auch für Jenny, die knapp vor Anna zur schönsten Abiturientin des Jahrgangs gewählt worden war. Er blickte zu ihr hinüber und musste einmal mehr an ummauerte Höfe denken, an winzige, verschachtelte Gärten, an buntbestickte Seidenkleider. Genau genommen kamen ihre Eltern aus Vietnam und nicht aus China, dennoch war sie für ihn die Prinzessin aus der Verbotenen Stadt. Vielleicht würde er über die Klischees hinwegkommen, wenn er sie besser kennenlernte. Sie waren in verschiedenen Klassen gewesen und hatten später unterschiedliche Kurse besucht, und auch sonst hatten sie nie mehr als einige Belanglosigkeiten ausgetauscht. Sie hielt sich an die Meinungsführer und umging Typen wie ihn höflich.

Und Laura war nicht sein Typ. Sexy ohne Frage, aber zu laut, zu prall und zu ordinär. Ganz abgesehen davon hatte sie nichts für ihn übrig und würde im Lebtag nicht mit ihm schlafen. Es bedurfte also eines Wunders, damit auf dieser Reise das Wundersame geschehen konnte. Und dennoch hoffte er. Irgendetwas würde sich ereignen!

Das Flugzeug ruckelte. Sie flogen an einer Schneewand vorbei. Jan blickte zur anderen Seite: das gleiche Bild. Anscheinend nutzten sie einen Pass, um nicht so hoch steigen zu müssen. Er kannte nur die Routen der großen Passagierflugzeuge, leicht gebogene Linien auf den Displays an den Vordersitzen, im Wechsel mit den Angaben über Flughöhe und Geschwindigkeit. Das hier war anders!

Die Cessna zog steiler hinauf – und ruckelte heftiger. Jan beugte sich ans Fenster. Vor ihnen wuchs eine Wand immer höher in den Himmel, die weiße Ebene blieb zurück. Ein flaues Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. Der Pilot wusste sicher, was er tat, er wollte seinen Gästen ein aufregendes Erlebnis bieten, das war alles.

Sie stiegen nun an der schroffen Wand entlang, die Thermik schüttelte das Flugzeug durch. Bei einer seitlichen Drehung tauchte die Kammlinie am oberen Rand des Fensters auf und verschwand wieder, als das Flugzeug gleich darauf absackte. Jan riss sich die Kopfhörer von den Ohren. Hinter ihm würgte Michael.

Plötzlich leuchtete der blaue Himmel auf, füllte das Fenster immer mehr aus, ein Felsgrat verschwand unter ihnen und der Blick öffnete sich auf ein strahlendes Gipfelmeer. Weiße Wellen, riesig, friedlich, grenzenlos.

„Jippie!“, schrie Laura. „Wir sind die Größten!“

„We are the champions“, stimmte Gregor an.

Jan war versucht, die Kopfhörer wieder aufzusetzen. Stattdessen fragte er: „Alles in Ordnung bei dir, Michael?“

„Kein Problem“, kam nach einigen Sekunden die matte Antwort.

„Stewardess, einmal Champagner für den Herrn!“ Gregors Arm wedelte gebieterisch in der Luft. Das Geschaukel schien ihm nichts ausgemacht zu haben. „Zu blöd, dass dies ein Nicht-Alkoholiker-Flug ist.“

„Das nächste Mal nehme ich einen Nicht-Dummschwätzer-Flug“, fauchte Anna, die neben Michael hinten saß.

Jan wählte das Violinkonzert von Tschaikowsky, das er sich für besondere Anlässe reservierte. Die Geige spielte das Solo und jetzt kam die Stelle, an der er immer das Gefühl hatte abzuheben. Sein Geist drehte Pirouetten, wiegte sich in der retarierenden Phrase, holte Anlauf und – er sah Anna vor sich tanzen.

Natürlich! Er nahm einen Ohrstöpsel heraus, drehte sich auf dem Sitz um – und wieder zurück. War das zu dreist? Nein, es war einfach eine nette Geste: Er wollte etwas Schönes mit ihr teilen.

Also schob er den Ohrstöpsel auf der Fensterseite an der Kopflehne vorbei nach hinten. Er wartete. Ihre Finger berührten seine. Sie zog leicht am Kabel, er gab nach und rutschte mit dem Kopf bis ans Fenster. Aus den Augenwinkeln sah er ihre schwarzen Locken neben sich. Nun war er wirklich im Himmel.

Der zweite Satz hatte gerade begonnen, da zerschnitt eine dunkle, glatte Schlucht die Gebirgskette: ein schmaler See, der sich bis an die Felswände erstreckte. Der Pilot hatte seinen Sinn für Dramatik nicht verloren und stieß hinab wie ein Raubvogel auf einen Fisch, fing den Sturzflug ab und schoss mit ihnen über der Wasseroberfläche dahin.

Die Schlucht vollzog eine scharfe Biegung und öffnete sich unvermittelt auf ein weites Tal. Welch Anblick! Die Sonne funkelte im See, der auf ihrer Seite aus mehreren schattigen Zuflüssen gespeist wurde. Auf der anderen Seite stiegen die Wälder in sanften Schwüngen hinauf, bis Fels und Eis wieder die Herrschaft übernahmen.

Das Flugzeug überquerte den See und drehte eine Schleife über dem von Tümpeln und Bächen durchsetzten Uferbereich. In seiner Hochstimmung stellte sich Jan vor, dass er mit Anna auf ausgebreiteten Armen dahinsegele. Er hätte fast die Augen geschlossen, um sich der Fantasie noch mehr hinzugeben, doch die wenigen Sekunden, die ihnen noch in der Luft blieben, waren zu kostbar. Das Flugzeug schwenkte hinaus aufs Wasser, die glitzernde Oberfläche schien ihnen entgegenzusteigen und schon landeten sie mit einigen leichten Schlägen. Die erwartete Gischtwolke blieb aus.

Mit Bedauern nahm Jan den Kopfhörer aus Annas Fingern neben dem Sitz. Er hatte sich mit ihr in einem Moment besonderer Schönheit verbunden gefühlt – für sie war es wohl einfach Musik gewesen.

„Das wär‘s“. Der Pilot, der während des gesamten Fluges geschwiegen hatte, steuerte sie zu einem primitiven Steg und vertäute das Flugzeug. Dann stellte er sich auf eine der Kufen, öffnete das Gepäckfach am Heck und reichte Rucksäcke, Taschen, Plastiktüten und eine Tonne heraus, die Michael und Jan gerade so zu zweit in Empfang zu nehmen vermochten. „Verdammt viel Zeug für einen Monat“, grummelte der Pilot und schwang sich ins Cockpit. Schon surrten die Motoren und das Flugzeug glitt auf seinen Kufen davon, immer schneller, bis es in der Luft hing und in einer geraden Linie auf die Berge zuhielt.

Jan fühlte sich verlassen und seltsam verwundbar. Seit ihrem Aufbruch vor zwei Tagen waren sie ständig unter Menschen gewesen: im vollbesetzten Airbus, im Gedränge der Flughäfen von Seattle und Anchorage, im Bus – und bis eben hatte sie immerhin noch ihr wortkarger, bulliger Pilot begleitet. Überall hatte sie die Zivilisation bedrängt, mit Technologie und Medien, vom Aufwachen durch die Lautsprecheransagen bis zum Eindösen vor dem Video-Bildschirm. Und jetzt?

„Endlich allein! In der Natur!“, rief Michael. Aus dem Schilf flatterten Enten auf. „Hier sind wir!“, setzte er mit der ganzen Kraft seiner tiefen Stimme nach, als ob er das Tal vorwarnen wollte, damit es einen würdigen Empfang bereite. Alle begannen zu reden und zu lachen und fielen sich in die Arme.

„Okidoki, gehen wir zum Angriff über!“ Gregor schulterte seinen Rucksack und packte die Tonne.

Jan übernahm den anderen Griff. „Was da nur drin ist?“

„Diesel.“

„Haben wir etwa einen Jeep?“

„Quatsch, hier kommst du nicht einmal mit einem Buggy weit. Der ist für den Generator.“

„Damit können wir vier Wochen lang Strom erzeugen?“

„Natürlich nicht. Dafür haben wir eine Solaranlage. Nur für alle Fälle, falls die Batterie zum Beispiel futsch ist, gibt es auch einen Generator. Wahrscheinlich ist noch Diesel im Tank, aber Thomson war sich nicht sicher.“

Sie stapften über feuchten Untergrund. Komisch, dass der Besitzer keine Ahnung hatte, ob der Tank voll war.

„Shit!“ Gregor wich zurück und streifte auf dem Gras den Schlamm von seinen Schuhen. „Hier kommen wir nicht durch.“ Sie brauchten einige weitere Anläufe, bis sie jenseits eines weißen Bandes aus Wollgras trockenes Gelände erreichten, wo sie ihr Gepäck ablegen konnten.

Sie folgten ihren Spuren zum Ufer, beluden sich erneut und liefen in einer Kolonne wieder zum höhergelegenen Haufen. Beim fünften Gang krallte sich Jan die letzte Tüte mit einem freien Finger, um alles mitzunehmen. Nach einigen Metern schnitten die Laschen ein. Gregor hätte für ordentliche Säcke sorgen sollen, wenn sie das ganze Zeug schon so weit tragen mussten. Wo lag die Hütte überhaupt? Die Vorbereitung hätte besser klappen können. Zu Hause hatten sie eine Liste erstellt, aber der Einkauf im Super-Mega-Store in Anchorage war ziemlich chaotisch verlaufen und hatte unsäglich lange gedauert. An der Kasse stellten sie fest, dass die leeren Packsäcke, die sie aus Deutschland mitgebracht hatten, nicht reichten. Sie mussten einen Teil des Essens behelfsmäßig in Tüten und Kartons verstauen und hatten danach keine Zeit mehr, ordentliche Behältnisse zu besorgen, weil sie sämtliches Gepäck schnellstmöglich zur Haltestelle ihres Überlandbusses transportieren mussten. Über die kurze Strecke und mit Hilfe entwendeter Einkaufswagen war das eine Gaudi gewesen – hier wurde es zur Quälerei.

Laura warf ihre Last zu Boden und ließ sich drauffallen. Auch die anderen setzten ab. „Ihr habt sie ja nicht mehr alle!“ Sie schaute streitlustig. „Sucht euch die drei hübschesten Mädels aus und lasst sie schleppen, als wären sie Elefanten.“

„Das muss an deinen Beinen liegen, wenn ich dich für einen Elefanten halte.“ Dafür handelte sich Gregor einen strafenden Blick von Michael ein, der sich sogleich mit einem Lächeln zu Laura wandte: „Zum Abenteuer gehört auch Anstrengung. Was meinst du, wie gemütlich wir nachher beisammensitzen, wenn wir alles in der Hütte verstaut haben.“

„Ich weiß, und die besten Freundschaften entstehen im Zelt, wenn man sich in Patagonien einregnen lässt“, ätzte Laura. „Irgendwas habe ich mit meinen Kluburlauben falsch gemacht.“

Gregor ließ sich von Michael nicht das Wort verbieten. „Mehr als fünf Sätze hattest du von den Last-Minute-Urlauben nie zu erzählen. Wenn du aus Alaska zurückkommst, kannst du fünf Abende durchquatschen.“

„Und du meinst immer, alle müssen dir zuhören, wenn du den letzten Mist erzählst. Erst hast du dich hingesetzt, und dann hast du‘s ordentlich krachen lassen, und dann hast du dir das Klopapier genommen – alles irrsinnig spannend, weil es um deinen Arsch geht.”

Gregor ging vor Laura in die Knie. „Hast du eine Ahnung, wie viel du für den Flug eben normalerweise hättest blechen müssen?”

„Nur weil dein Papa reiche Connections hat, musst du nicht gleich den Dicken raushängen lassen!“

„Wer weiß, was uns heute noch erwartet“, warf Jan ein. „Wir sollten unsere Zeit lieber nicht mit Streit vergeuden.“

Gregor ließ nicht von Laura ab. „Wenn du mir so kommst, kannst du schon mal Moos sammeln gehen und dir eine Kuhle unter einem Baum einrichten.“

„Leute!“ Michael zog Gregor zurück auf die Beine. „Habt ihr nicht gehört, was Jan gesagt hat?“

Jan war von der Streiterei überrascht. Gregor und Laura bekriegten sich gerne zum Spaß, aber normalerweise endete das rasch in Gelächter. Und hatten sie jetzt, am spektakulären Ziel ihrer langen Reise angelangt, nicht allen Anlass, fröhlich zu sein? Er blickte zu den Bergen, hinter denen das Flugzeug verschwunden war, und wieder beschlich ihn das Gefühl der Verletzlichkeit. Den anderen musste es ebenso ergehen. Auch wenn sie notfalls Hilfe verständigen konnten, fühlten sie sich der Natur ausgeliefert. Es würde Stunden dauern, bis man bei ihnen einträfe – sie waren in erster Linie auf sich selbst angewiesen. Da traf die Schwierigkeit, einen Weg durch das Sumpfland zu finden und das schwere Gepäck zum Haus zu befördern, einen sensiblen Punkt.

Sie machten sich wieder an die Arbeit. Am Waldrand mussten sie eine Weile suchen, um den Trampelpfad zu finden. Gräser und Sträucher hatten ihn zurückerobert.

„Wieso ist alles so zugewachsen?“, fragte Jenny.

„Weil lange keiner da war“, erwiderte Gregor.

Jenny nickte. Laura fragte grob: „Und warum war lange keiner da?“

„Heiße ich Thompson?“

Sie marschierten gemeinsam in den Wald. Nach einer Weile wurde der Bewuchs niedriger und sie kamen schneller voran. Als sie zwischen den Stämmen eine Lichtung und darauf ein Gebäude ausmachen konnten, ließen sie das Gepäck fallen und rannten los. Ein überwältigendes Panorama öffnete sich ihrem Blick. Mittendrin stand ein gelbes Holzhaus mit dunkelgrünen Fensterläden.

„Unser Märchenschloss!“, rief Jenny. Jan pflichtete ihr bei: Dieses bunte Haus mit seiner Messingglocke unter dem säulengetragenen Vordach, das zugleich dem ersten Stock als Balkon diente, hatte etwas Märchenhaftes.

Jan war erleichtert. Sie hatten ein Heim, von dem aus sie die Wildnis entdecken und zu dem sie abends müde zurückkehren konnten. Ein guter Zauber ruhte auf ihrem Märchenschloss, hier würden sie sich sicher fühlen, wenn nachts die Wölfe heulten.

Ein Strauch wuchs, ohne die Würde des Ortes zu achten, direkt vor den drei flachen Stufen, die von der Wiese zur Veranda führten. Als sie näher traten, entdeckten sie, dass zwischen den Fugen der Veranda Unkraut wucherte und die Spinnen zwischen den Balken ihre Netze gezogen hatten.

Gregor packte den Strauch, zerrte aber vergeblich. „Mutter Natur hat nur darauf gewartet zurückzuschlagen. Aber was soll man erwarten, wenn sie schon Mutter heißt?“ Er trampelte den Strauch nieder, ehe er die Stufen zur Veranda nahm, die grünlackierte Tür aufschloss und eintrat. Sogleich wich er zurück. Gestank schlug ihnen entgegen.

Sie flohen die Treppe hinunter. Verwest, danach roch es, stimmten sie überein. Sie umrundeten nervös das Haus. Trotz des frischen Anstrichs sah man den breiten Brettern das Alter an: Das Holz hatte an einigen Stellen gearbeitet, die Ritzen waren mit einer gelben Paste gestopft worden.

Als sie die Rückseite erreicht hatten, an die ein Schuppen wohl nachträglich angebaut worden war, ließ sie ein Klappern zusammenfahren. Es schien von der anderen Seite des Hauses zu kommen und wiederholte sich im Abstand von wenigen Sekunden.

„Was ist das?“, rief Jenny.

Michael wich zurück. „Kommt weg vom Haus!“

Ein Fensterladen wurde aufgestoßen und Anna, deren Abwesenheit niemand aufgefallen war, beugte sich heraus. „Stellt euch nicht so an, nur eine tote Maus und jede Menge Dreck.“

Während das Haus auslüftete, holten sie das restliche Gepäck. Es war eine Schinderei – stellenweise stieg der Pfad kräftig an und meist war er zu eng, um die schweren Stücke nebeneinander zu tragen.

Erschöpft ließen sie sich auf der Wiese nieder und durchstöberten die Essenstüten. Der Boden war etwas kühl, doch die Mittagssonne schien warm. Sie bestaunten die Schönheit der Umgebung und plauderten über ihre Anreise – selbst über die Schlepperei machten sie sich schon lustig. Wie Michael vorhergesagt hatte: Die kurze Anstrengung hatte sie verbunden.

Wie würde es erst werden, wenn sie tagein, tagaus aufeinander angewiesen Abenteuer bestünden? Jan hatte keine vergleichbaren Erfahrungen. Die Woche mit der Klasse in London oder die Freizeit an der Ostsee waren nichts gegen das, was vor ihnen lag. Und dennoch hatten die Gruppen auch damals eine eigene Dynamik gewonnen. Wie viel intensiver ihre Gemeinschaft werden würde! Er nahm sich vor, sein Bestes zu tun, um dazuzugehören. Ganz gleich wie ihn Gregor und Laura in der Vergangenheit behandelt hatten, das hier war ein Neuanfang. Er würde sich nicht von Kleinigkeiten kränken lassen.

Um keine wilden Tiere anzulocken, verpackten sie ihre Lebensmittel und brachten sie ins Haus. Der Eingangsraum, den sie Salon tauften, war bei weitem der größte. Eigenartigerweise waren die Möbel nicht wohnlich verteilt, sondern in einer Ecke übereinandergestapelt. Alles war mit Spinnweben und Staub bedeckt. Am Boden lagen winzige schwarze Bohnen, vermutlich Mäusekot.

An der Rückwand war links ein Durchgang zur Küche, rechts führte eine Treppe hinauf zum ersten Stock. Zur Speisekammer in der Mitte, in der auch die Werkzeuge lagerten, gelangte man nur über die Küche.

Die Verteilung der Schlafräume im ersten Stock ergab sich wie von allein. Laura und Jenny teilten sich das Doppelbett im vorderen der zum Balkon hin gelegenen Zimmer. Die Jungs bezogen den Raum daneben, in dem vier Einzelbetten standen. Auf der anderen Seite des Ganges, zur Rückseite des Hauses hin, lag ein schmales Eckzimmer, in dem sich Anna einquartierte.

Zwischen Eckzimmer und Treppe befand sich das Bad. Zwar gab es keine Toilette – nur ein Klohäuschen hinter dem Haus –, aber immerhin ein Waschbecken mit Hahn. Gregor drehte ihn auf. Nichts passierte. Erst als er den Haupthahn unter einer Luke im Küchenboden geöffnet hatte, schoss eine braune Brühe heraus. Man müsse nur ein bisschen durchlaufen lassen, erklärte er, Mr. Thompson habe eine höhergelegene Quelle angezapft. Tatsächlich rann das Wasser bald glasklar durch seine Hände.

Das erwies sich sogleich als nützlich, denn Entstauben und Fegen reichte nicht, sie mussten den Boden und sämtliche Oberflächen wischen. Anschließend trugen sie die auf Strandflair gestylten Liegestühle hinaus auf die Veranda und richteten den Salon ein: zur Linken den Glastisch mit den deplatzierten Designerstühlen aus Chrom, zur Rechten, in einem Halbkreis um den Kamin, die bordeauxrote Couch und die noblen, etwas abgewetzten Ledersessel.

Ebenso wie der Salon war auch der Rest des Hauses eingerichtet: eine bunte Sammlung von hochwertigen Möbelstücken, deren einzige Gemeinsamkeit darin bestand, dass sie besser in eine exzentrische Villa gepasst hätten als in ein Holzhaus mitten in der Wildnis. Mr. Thompson hatte anscheinend nicht mehr Gewünschtes hierher ausgelagert, um sich für Häuser, in denen er häufiger wohnte, Neues anschaffen zu können.

Nachdem sie das Haus bezogen und auch die Solarstromanlage in Betrieb genommen hatten, fanden sie sich auf der Veranda ein, um die Umgebung zu erkunden. Nur Michael ließ auf sich warten. Sie schlugen die Messingglocke.

„16:21“, stellte Laura fest. „Null Handy-Empfang.“ Auch die anderen konnten sich nicht verbinden.

„Her damit!“ Michael war herausgetreten und schnappte sich Lauras Handy.

„He!“

„Wir sind in der Wildnis. Da kommt es nicht so drauf an, ob es 16:21 oder 16:22 ist. Und auch was deine Freunde auf Facebook gepostet haben, tangiert mich ausnahmsweise nur peripher.“

„Und mir geht dein Gelaber am Arsch vorbei! Ich hab eh keinen Empfang, also gib‘s mir wieder. Da ist auch meine Musik drauf.“

„Wir lassen die Zivilisation hinter uns. Musik machen wir selbst.“

„Willst du mich etwa in den Schlaf singen?“

„Mit ‚I wanna sex you up‘? Das schulde ich dir noch.“ Michael grinste. „Oder lieber mit ‚You are too sexy for this phone.‘“

Sie griff danach, doch er hielt es über seinem Kopf außerhalb ihrer Reichweite.

„Mein Handy ist zu sexy für dich. Rück es raus!“

„Ruhig, nicht meutern. Wir suchen das Besondere, das radikale Erlebnis. Dafür müssen wir ganz hier ankommen, ohne Handys und solch modernen Schnickschnack.“

„Das hast du schön gesagt, du fescher Naturbursche!“ Laura stützte die Hände in die Hüften. „Und was ist mit deinem elektrischen Rasierer, ist das etwa kein Schnickschnack?“

„Wo ist das Problem?“

„Gib du mir deinen Rasierer, dann darfst du mein Handy behalten.“

„Hast du etwa keinen Rasierer?“

„Willst du wirklich, dass ich mich nicht mehr rasiere?“ Laura und Jenny kicherten.

Im Haus sammelte Laura die Rasierutensilien der Jungs ein, Michael sämtliche Handys und Uhren. Jan fand das Geschäker läppisch. Andererseits war er empfänglich für die Symbolik der Handlung: Sie ließen sich verwildern. Sie hatten sich nicht nur räumlich von der Außenwelt abgeschnitten, auch innerlich würden sie einen Wandel durchlaufen, hin zu einer unreflektierten Natürlichkeit, bei der er sich nicht länger von seinen Hemmungen einengen lassen würde.

Sie gingen den sanften Hügelrücken, auf dem ihr Haus lag, hinauf, eine kleine Mulde hinunter und an einer ausgetrockneten Rinne entlang bis zu einer winzigen Quelle zwischen moosigen Felsen, die sogleich wieder versickerte. Sie behielten ihre nördliche Richtung bei, nun in steilerem Wald, der schließlich an einem Geröllfeld endete, das ihnen freie Sicht auf ihr Tal bot.

Von Westen nach Osten erstreckte sich der See über mindestens zwanzig Kilometer. Am westlichen Seeende, etwa fünf Kilometer entfernt, reichten die Steilwände bis ans Wasser. Der höchste Gipfel, der spitz und leicht gekrümmt zusammenlief, ähnelte dem Fangzahn eines Raubtieres. Im Süden wellte sich zunächst ein Vorgebirge, dahinter stiegen gewaltige, kahle Hänge hinauf zu den Schneefeldern. Nach Osten öffnete sich das Plateau. Etliche Flüsse schillerten zwischen den Wäldern, irgendwo zwischen den fernen Bergkränzen mussten sie sich einen Abfluss gegraben haben.

Jan versuchte, sich den Anblick einzuprägen. Noch herrschte Hochsommer und die Wetteraussichten waren gut. Doch die längsten und wärmsten Tage waren vorbei und zum Ende ihres Aufenthaltes hin müssten sie mit dem ersten Einfall des Herbstes rechnen, der hier viel früher eintraf als in Deutschland. Er war gespannt, wie sich der Übergang der Jahreszeiten bemerkbar machen würde.

Als sie sich sattgesehen hatten, liefen sie zurück und richteten sich auf Couch und Sesseln ein. Jan betrachtete den Kamin: Zwei roh behauene Steinplatten stiegen treppenförmig zum verrußten Innenraum an, darüber lastete eine weitere massive Platte. Auf dem Sims dieser archaischen Feuerstelle reihten sich asiatisch anmutende Keramikschalen. Am Rand wiederum hingen Schieber und Zangen, um das Feuer zu schüren, und ein Schäufelchen für die Asche, alles aus Edelstahl – der perfekte Stilbruch, wie überall im Haus.

Michael hob zu einer förmlichen Begrüßung an: „Willkommen im Märchenschloss! Welch treffenden Namen Jenny für dieses Schmuckstück in der Wildnis gefunden hat! Das wahre Wunder ist jedoch, dass wir eine solch lange Reise unternommen und alle Hindernisse überwunden haben, um gemeinsam unseren Sommer der Freiheit in Alaska zu verbringen.“ Er wanderte mit seinem Blick bedächtig durch die Runde.

Jan hatte eine Gänsehaut und empfand Widerwillen, dass er sich so leicht beeindrucken ließ. Würde Michael eines Tages seinem Vater in die Politik folgen? Reden zu schwingen und Menschen zu beeinflussen, das hatte Michael bereits verinnerlicht, und auch sein weltmännisches Genießertum, das ihn oft so erwachsen wirken ließ, hatte er vom Vater übernommen.

„Zwölf Jahre lang haben wir uns der Schule unterworfen. Jetzt ist endlich der Moment angebrochen, unsere eigenen Wünsche auszuleben. Wir lassen all das Begrenzte, Spießige unserer Eltern und Lehrer hinter uns. All die kleinbürgerlichen Grenzen. In der Weite Alaskas ist dafür kein Platz.“

Jenny presste ihre Fingernägel in den Daumenrücken. Die Nägel verfärbten sich weißlich, doch sie schien es nicht zu merken. Wie schaffte es Michael nur, alle so in seinen Bann zu ziehen?

„Niemand besucht dieses Tal, es gehört uns ganz allein. Wir sind auf uns gestellt, alle Herausforderungen müssen wir selbst bewältigen. So wird aus unserer Gruppe eine Gemeinschaft werden, und das ist das schönste an all den Abenteuern, die uns bevorstehen.“

Anna stand auf und ging in die Küche. Michael schaute ihr verärgert hinterher und wartete. Wasser lief, dann kam sie mit einem Glas zurück und setzte sich, als wäre diese Unterbrechung die natürlichste der Welt gewesen.

Michael fixierte sie. „So frei wir sind, müssen wir dennoch einige Regeln respektieren. Die Einsamkeit macht das Tal sicher – wir brauchen keine Angst zu haben, bestohlen oder belästigt zu werden. Sie birgt aber auch Gefahr. Wenn sich einer von uns während einer Wanderung ein Bein bricht, müssen wir zurück zum Haus, um die Rettung zu verständigen. Die Rettung muss ein Flugzeug oder einen Hubschrauber schicken. Das kann dauern, wenn sie anderswo im Einsatz sind. Rechnet Flug- und Bergungszeiten dazu, und ihr seht, dass etliche Stunden vergehen können, bevor ein Verletzter im Krankenhaus eintrifft. Vorausgesetzt, die Nacht kommt nicht dazwischen.“

„Geübte Piloten können auch nachts fliegen“, warf Gregor ein.

„Das werden sie nicht, solange kein Leben auf dem Spiel steht. Also seid vorsichtig. Das Funkgerät ist fest installiert. Es steht bei uns im Zimmer auf einem Bord. Das Satellitentelefon haben wir dort drüben in die Kommode gelegt. Da findet ihr auch den Erste-Hilfe-Koffer. Wir haben alles dabei: Verbandszeug, Medikamente, sogar Spritzen. Was ist denn? Frag doch einfach!“

Anna hatte den Arm gehoben wie eine Grundschülerin. „Würdest du Adrenalin subcutan, intramuskulär oder intravenös spritzen?“

„Wie bitte?“ Michael blickte entnervt. „Was weiß ich! Das steht auf den Spritzen drauf. Außerdem haben wir ein Medizinbuch dabei.“

„Keine weiteren Fragen, Herr Chefarzt.“

„Wenn euer Herz zu schnell klopft, wendet euch an unsere aufreizende Krankenschwester Anna.“ Sogleich milderte er seinen bissigen Ton mit einem Lächeln ab, wirkte jedoch weiterhin verstimmt. Ihn zweimal zu unterbrechen, musste ein bewusster Affront sein. Wahrscheinlich wollte Anna demonstrieren, dass sie sich nicht in einen vorab geplanten Ablauf einfügen, sondern ihren eigenen Weg gehen würde. Michael würde es schwerhaben, bei ihr zu landen.

Er setzte seinen Vortrag fort: „Die letzte Vorsichtsmaßnahme. Im Haus befindet sich ein Gewehr. Wir haben zwar weder einen Waffen-, noch einen Jagdschein, aber hier wird niemand nachschauen kommen. Gregor kann mit dem Gewehr umgehen. Sonst fasst es niemand an. Verstanden?“

„Wozu brauchen wir ein Gewehr?“, erkundigte sich Jenny.

„Zum einen werden wir jagen. Zum anderen weiß man nie. Es gibt hier Schwarzbären und Grizzlys, die –“

„Jetzt bin ich dran!“ Gregor wuchtete sich aus dem tiefen Sessel.

Michael setzte sich widerwillig. Sie mussten die Aufteilung abgesprochen haben, sonst würde er ihm die Show nicht überlassen. Es widerstrebte Jan, dass die beiden die Leitung übernommen hatten – und er außen vor blieb, obwohl er doch Michaels Verbündeter und Freund war. Was hatten sie noch alles ausgehandelt, ohne ihn einzuweihen?

„Bären sind Killer.“ Gregor schaute bedrohlich zu den Mädchen. „Sie rennen schneller als ein Mensch und können mit einem Prankenschlag töten. Zum Glück sind Bären auch Schisser. Wir müssen bloß aufpassen, dass wir sie nicht überraschen. Also macht Lärm, wenn ihr rumlauft. Schreit ab und an ‚Gregor ist der Beste‘ oder so was. Dann passiert euch nichts.“

Laura lachte. „Dann wissen die Bären nämlich, dass wir Scherzkekse sind, und darauf haben sie keinen Appetit.“

Gregor fiel in ihr Lachen ein. „Von wegen Kekse ... Macht immer die Tür zum Haus zu und lasst draußen kein Essen rumliegen. Wenn ihr ein totes Tier findet, haltet Abstand. Vielleicht ist ein Bär in der Nähe, der seinen Fang verteidigt. Wenn euch trotzdem ein Bär nahekommt, lauft nicht weg. Bleibt stehen, macht Lärm, rudert mit den Armen. Quietscht nicht, Mädels, sonst hält euch das arme Biest für Futter. Greift euch der Bär an, müsst ihr euch tot stellen und auf Gregor und seine Wumme hoffen. Noch Fragen?“

„Ich finde, wir sollten uns irgendwie absprechen“, sagte Jan. „Wo wir hingehen und wann wir zurück sind.“

„Wer will Jans Ersatzmama spielen?“

„So meine ich das nicht. Nur bei längeren Ausflügen. Wir können ausmachen, dass um acht Uhr abends alle wieder am Haus sind. So bleibt uns noch Zeit, nach Fehlenden zu suchen.“

Laura lachte los. „Dann muss Michael die Handys wieder rausrücken.“

„Es dürfte jetzt zwischen sieben und acht sein.“ Michael schaute zum Fenster. „Die Sonne geht bald unter. Mit dem Schatten kommen die letzten Unternehmungslustigen zurück ins Nest.“

Sie gingen hinaus. Das Licht fiel golden auf die breite Veranda. Aus den Fugen der naturfarbenen Dielen sprossen Gräser, in einer Ecke hatte sich Moos angesiedelt, die Spinnweben glänzten. Hier würden sie noch Ordnung schaffen müssen – doch in diesem Augenblick genoss Jan die romantisch veredelte Verwahrlosung.

Die kühle Luft drang bald durch ihre Kleider und Jenny holte Decken aus dem Haus. Die Sonne glitt flach über die schwarzgezackten Berge, verbarg sich kurz, leuchtete noch einmal auf und verschwand endgültig hinter dem Gipfel, der wie ein Zahn emporragte.

Als sie wieder auf den Sesseln Platz genommen hatten, rief Jenny: „Brr! Mir ist kalt!“

„Du hast die Wahl“, erwiderte Gregor. „Entweder ich mache ein Feuer an oder du kommst zu mir auf den Schoß und ich heize dir richtig ein ... Ich glaube, auf den Schoß traust du dich erst morgen.“ Er nahm etliche der Scheite, die sie im Schuppen gefunden und beim Kamin aufgeschichtet hatten, und brachte das Feuer in Gang. Währenddessen versorgte Michael die Runde mit Whiskey. Mr. Thompson hatte ihnen seine Bar zur Verfügung gestellt, und die war großzügig ausgestattet.

Bald versandete das Gespräch. Einer nach dem anderen gähnte, und sie stellten fest, wie müde sie waren. Trotz der Helligkeit draußen war das nicht verwunderlich, so nahe dem Polarkreis würde die Nacht erst spät anbrechen. Die Zeitverschiebung eingerechnet, hatten sie lange durchgehalten und durften sich geschlagen geben.

Jan räumte die Gläser in die Küche, damit niemand am Morgen darüber stolpern würde. Er hörte die anderen die Treppe hinaufsteigen. Im Salon wartete Anna und teilte ihm mit, sie werde sich noch die Beine vertreten. Obwohl er im Sessel bereits einmal eingenickt war, bot er an, sie zu begleiten. Er wollte den anderen hinterher und sich abmelden, unterließ es jedoch, um nicht wieder als Musterknabe verspottet zu werden.

Die Bewegung an der kalten Luft weckte ihn rasch. Sie gingen still die Hügel hinauf. Die Nadelbäume standen dicht um die moosigen Felsen. Jan betastete das Moos. Kein saftiger Teppich, sondern ein hartes, bleiches Netz, das den Steinen ein verwittertes, knochiges Aussehen gab.

Mit Anna durch diese verwunschene Wildnis zu streifen, berauschte ihn. Sie hatten sich nie außerhalb der Schule unterhalten, und seit sie zur Reise aufgebrochen waren, war immer die Gruppe um sie gewesen. Die längste Zeit, die sie gewissermaßen allein miteinander verbracht hatten, waren die paar Minuten, während derer sie beim Großeinkauf im Supermarkt Michael mit seinem Wagen abgehängt hatten. Es war Jan so vorgekommen, als wäre Anna absichtlich ausgebüxt. Er hatte dennoch mitgezogen, schließlich hatte Michael sie während des gesamten Fluges neben sich gehabt. Und nun lief sie federnd vor ihm durch den urigen Wald, während die anderen schliefen. Welch Glück!

Das Licht wurde dünner, drang weniger tief unter die Bäume, ließ die Ritzen zwischen den Steinen aus, löste sich vom Boden und glitt zurück in den Himmel. Zugleich wurde der Hügel steiler und sie mussten die Hände zur Hilfe nehmen, um sich an Ästen und Stämmen voran zu ziehen.

Schließlich blieben ihnen nur Grasbüschel, um sich festzuhalten. Die Unternehmung wurde Jan unheimlich. „Lass uns umkehren“, rief er zu Anna, die etliche Meter vor ihm stieg.

„Nur noch bis zu dem Absatz“, kam die Antwort von oben.

Jans Standbein rutschte auf dem Schotter. „Es wird bald dunkel.“

„Im schlimmsten Fall müssen wir das Haus ein bisschen suchen. Oder hast du Angst?“

„Nein. Ich habe nur keinen Ehrgeiz, mit einem verknacksten Bein hier draußen bis morgen früh rumzuliegen.“

Anna stieg weiter und Jan ihr nach. Er wollte das kleine Abenteuer nicht beenden, sonst würde sie ihn kein zweites Mal einladen, ihn zu begleiten. Und war es nicht besser, ein bisschen unvernünftig zu sein und eine Stimmung auszukosten, als heimzukehren und sich schlafen zu legen?

Als sie auf dem Absatz niederkauerten, waren die Schatten von den schwarzen, konturlosen Bergen weit ins Tal gekrochen. Selbst die höchsten Gipfel standen kalt zwischen den ersten Sternen. Dafür traten die Schneefelder hervor. Jan fühlte sich bewegt – und ungeduldig. „Gehen wir!“

„Gleich.“ Anna schaute in die Ferne, den Kopf leicht zurückgelehnt, eine Locke in der Stirn. Wie die Schwarz-Weiß Aufnahme einer Femme fatale aus den zwanziger Jahren. Sie brauchte weder Kleid noch Feder, selbst in den Outdoor-Klamotten wirkte sie, als habe sie ein Fotograf stundenlang in der Hoffnung zurechtdrapiert, einen Abglanz ihrer Anziehungskraft einzufangen. Sie schien nie einen Gedanken an ihre Wirkung zu verschwenden, und schuf doch immer wieder solch unwiderstehliche Momente, in denen Jan Angst hatte, sie berühren zu müssen.

Sie drehte sich zu ihm, in einer ihrer schnell fließenden Bewegungen, die nicht vorherzusehen waren, und ihm gelang es nicht mehr, den Blick abzuwenden. „Willst du dir nicht lieber die Abendstimmung anschauen? Mich hast du schon seit zwei Jahren vor der Nase.“ Weder Gesicht noch Stimme verrieten, ob sie sich über ihn lustig machte oder ihn zurechtwies. Es wirkte wie ein sachlicher Vorschlag.

„Nein, ich meine ... Ich habe dich nicht ange- ... Entschuldige, ich habe nicht aufgepasst.“

„Warum bist du eigentlich mitgekommen?“

Jan verstand die Frage nicht. Er hatte sie für die Reise angeworben, sie musste sich an seine Verkaufsargumente erinnern.

„Du kannst dir doch ausrechnen, wie das hier laufen wird. Gregor ist kein Vogelliebhaber. Höchstens von gebratenen Wachteln in einem Sterne-Restaurant, mit denen er danach angeben kann.“

„Und?“

„Michael ist gerade wieder Single. Da dürfte sein Naturinteresse mehr bei Party-Hasen liegen.“

Es erleichterte Jan, dass sie aussprach, was er heimlich dachte. „Du meinst, die beiden haben andere Motive.“

„Klar.“

Jan ließ seinen Blick durchs Tal gleiten. Ihre Offenheit konnte verletzen, das hatte er in der Schule reichlich miterlebt. Aber das war ihm hundertmal lieber als der verlogene Frieden, den er von seiner Familie gewohnt war.

„Die Frage ist nur“, sie fing seinen Blick ein, „warum du hier bist? Bin ich der Grund?“

„Wie kommst du darauf?“

„Du willst doch nicht den anderen zuschauen, wenn sie ihr Ding abziehen? Und mitmachen lassen werden sie dich nicht.“

„Woher weißt du, ob Jenny sich dafür hergibt? Egal, ich mag einfach die Natur und natürlich bin ich froh, mit Michael zu verreisen.“

„Ich wollte dich bloß warnen: Mit mir läuft nichts.“

Jan nickte. Es war ihm peinlich. Sagte sie das, weil er sie eben angestarrt hatte, oder hatte sie schon seit längerem bemerkt, wie er die Augen nicht von ihr lassen konnte?

„Sei nicht eingeschnappt. Ehrlichkeit unter Außenseitern.“ Sie lächelte und wandte sich ab.

„Und du? Wieso bist du hier?“

„Das ist persönlich.“ Sie schwieg. Auch das war typisch für sie: Sie beobachtete scharf, und was sie sah, brachte sie gnadenlos auf den Punkt. Aber sich selbst verbarg sie hinter einer Mauer. Auch Mimik oder Gesten verrieten nur selten ihre Gefühle.

„Ich werde es dir trotzdem erzählen“, sagte sie überraschend. „Du weißt ja, dass ich meist Distanz wahre, in der Schule und so. Das ganze Rumgetue interessiert mich nicht. Ich habe nur wenige Freunde, und die sind älter, und natürlich meine Mutter – wir stehen uns ziemlich nah. Jedenfalls habe ich mir vorgenommen, mich etwas weniger zurückzuziehen. Nicht dass ich Kompromisse mache, ich werde mir immer treu bleiben. Aber mich etwas mehr auf die anderen einlassen, das wäre gut, wenn mir das an der Ballettschule gelingen würde. Für mich ist der Aufenthalt so etwas wie ein Training.“

„Ich verstehe.“

„Und außerdem klemmt bei mir der Rückwärtsgang.“

Jan wartete.

„Ich habe mich mit meiner Mutter gestritten. Wegen Paris. Sie steht voll hinter meinen Plänen. Trotzdem kann sie nicht loslassen. Es sind ziemlich die Fetzen geflogen und ich habe mir gedacht: Wenn ich bei euch aufspringe, wird sie sich daran gewöhnen, ohne mich auszukommen. Das war eine spontane Idee, aber nachdem ich das meiner Mutter ins Gesicht gesagt hatte, wollte ich nicht mehr klein beigeben.“

„Das kann ich mir gut vorstellen.“

„Du kannst dir sicher auch vorstellen, dass ich so etwas nicht rumerzähle. Also behalte es für dich.“

Das klang wie eine Zurechtweisung – als ob Jan eine Klatschtante wäre, der man den Mund verbieten muss. Er wollte sich dagegen verwahren, da begriff er, dass sie ihn ins Vertrauen gezogen hatte und sich nun schützen wollte. Sie hatte kein gravierendes Geheimnis geteilt, aber ihm immerhin Einblick in ihre Hoffnungen und Schwierigkeiten gewährt. Wärme stieg in ihm empor und wanderte bis in seine klammen Finger. Ohne zu wissen, worauf er hinauswollte, begann er zu sprechen: „Ich habe mich fürs Studium in Berlin immatrikuliert. Ich bin heilfroh, von zu Hause wegzukommen, bloß ... meiner Mutter geht es nicht immer so gut ... sie ist depressiv, aber sie gibt das nicht zu und lässt sich nicht helfen und deswegen habe ich das Gefühl, sie zu verraten, wenn ich jetzt wegziehe.“

„Und dein Vater?“

„Der steht ihr nicht bei ... Er geht zu anderen Frauen.“

„Es ist schwer, seine Eltern zu verlassen.“ Anna seufzte. „Meine Mutter sprüht vor Unternehmungslust und Lebensfreude. Trotzdem dreht sie halb durch.“

„Ihr steht euch sehr nahe, hast du gesagt.“

„Ja. Mein Vater ist gestorben, als ... Wir sind vor zwei Jahren umgezogen, um das hinter uns zu lassen.“

„Es ist schon in Ordnung. Wir brauchen nicht –“

„Mein Vater hatte einen epileptischen Anfall. Daran hat er seit seiner Jugend gelitten. An jenem Morgen stürzte er mit dem Fahrrad und wurde von einem Auto überfahren.“

„Wann war das?“

„Ich war elf.“

„Elf? Entschuldige, ich frage nur so, weil ich durcheinander bin. Ihr seid doch erst vor zwei Jahren umgezogen.“

„Ich hatte auch epileptische Anfälle.“

„Was?“

„Eine idiopathische, generalisierte Grand-Mal-Epilepsie, wenn du es genau wissen willst. Den ersten Anfall hatte ich kurz vor dem Tod meines Vaters. Meine Mutter hatte ein Fest veranstaltet, mit einem Clown, der geigen konnte, und ich war ungewöhnlich lange aufgeblieben. Ab da hatte ich häufig Anfälle, immer in den ersten Stunden nach dem Aufwachen, vor allem, wenn ich angespannt war, und das war ich natürlich oft in jener Zeit. Etliche Male hat es mich in der Schule erwischt, das war am schlimmsten.“

Jan hätte gerne ihre Hand gestreichelt.

„Man kann sich danach nie daran erinnern. Man kommt zu sich und findet sich nicht zurecht. Alle anderen stehen um einen herum, man hat das totale Chaos angerichtet und es ist so widerlich, man ist so schmutzig, mit Spucke und Essensreste im Gesicht und man spürt, man spürt, dass man sich eingenässt hat.“

Es war schrecklich, das hilflos mitanzuhören. Sie hatte die harte Stimme und den kühlen Blick beibehalten, und doch spürte Jan, wie sie die Erinnerungen aufwühlten. „Konnten die Ärzte nichts machen?“

„Oh, die Ärzte haben sich meiner angenommen. Sie haben EEGs erstellt, im Wach- und im Schlafzustand. Sie haben verschiedene Medikamente ausprobiert, unterschiedliche Dosierungen und Kombinationen, und ständig haben sie die Ergebnisse mit den Nebenwirkungen verglichen: Müdigkeit, Übelkeit, Kopfweh, Konzentrationsstörungen ...“ Sie reckte das Kinn. „Aber ich habe gesiegt. Mit dreizehn hatte ich meinen letzten Anfall. Mit fünfzehneinhalb haben wir die Medikamente abgesetzt. Die Ärzte waren dagegen, das war mir egal. Sie hatten mich nur gequält, ich habe die Krankheit selbst überwunden. Der gefürchtete Rückfall blieb aus. Als ich sechzehn wurde, sind wir umgezogen und haben ein neues Leben begonnen.“

Weit unten schien ein Licht auf. Das musste ihr Haus sein. Ein Zittern durchfuhr Jan.

„Mir wird auch kalt“, sagte sie. „Lass uns zurückgehen.“