2. Tag

Wie die Wilden stürmten sie den Hügel hinunter, überholten und schubsten sich. Gregor riss Blätter von den Ästen und warf sie in die Luft, die Nachfolgenden schlugen danach wie nach Seifenblasen. Aus dem Wald rannten sie über die Wiese, Matsch spritzte unter ihren Schuhen hervor. Atemlos erreichten sie das kieselige Ufer.

„Ich war noch nie so dreckig!“ Jenny wischte sich einen Schlammfleck aus dem strahlenden Gesicht.

„Wir können gleich mit den Klamotten in den See!“, rief Laura.

„Hey, ich hab dich eingesaut, damit du dich ausziehst“, beschwerte sich Gregor, „nicht, damit du arabisch baden gehst!“

„Ist der Anblick unserer nackten Haare für den Pascha nicht erregend genug?“

„Ich sehe dich lieber nackt ohne Haare.“

Jenny errötete, obwohl der Satz nicht ihr gegolten hatte, doch Laura lachte nur. „Es ist bald Mittag und du träumst immer noch. Du brauchst wirklich eine Abkühlung.“

„Die wird er haben!“ Michael erprobte mit hochgekrempelten Hosen die Wassertemperatur. „Saukalt!“

„Ach was, ich habe schon in einem Gletschersee gebadet“, rief Gregor unter dem T-Shirt hervor und zog es sich über den Kopf. „Wie halten wir‘s? Wie im Freibad zu Hause oder wie in der Wildnis?“

Laura grinste. „Wenn du damit meinst, ob du die Badehose anlassen sollst, würde ich dir dazu raten. Du wirst sonst kein vorteilhaftes Bild abgeben, wenn du rauskommst.“

Gregor stürmte ins Wasser, ließ sich der Länge nach hineinfallen, richtete sich wieder auf, hüfttief eingetaucht, die Arme zur Seite gestreckt, und präsentierte seinen muskulösen Oberkörper. Die anderen folgten, nur Jenny blieb im Flachen stehen und trat von einem Bein aufs andere. Plötzlich brüllte Gregor und preschte auf sie zu wie ein Wasserbüffel, warf sie sich über die Schulter und trug seine zappelnde Beute ins tiefere Wasser, wo er sie fallen ließ.

„Kalt, oh, das ist kalt!“, jammerte Jenny, legte die Arme um sich, spritzte einmal nach Gregor und floh zurück ans Ufer.

Gregor näherte sich Anna, die am weitesten ins Wasser gegangen war. Sie kraulte davon, er nahm die Verfolgung auf. Sie wahrte den Abstand und Jan glaubte schon, dass sie entkommen könnte, doch dann holte Gregor auf. Die beiden waren ein gutes Stück hinausgeschwommen und Jan konnte nicht genau sehen, was passierte. Es spritzte, jemand schrie.

Gregor kam zurück und schimpfte auf die gemeingefährliche Spinnerin. Seine Nase blutete. Laura erwiderte, er hätte sich auf der Stelle revanchieren sollen.

Sie gingen an Land, trockneten sich ab und legten sich auf die Handtücher. Erst jetzt watete Anna aus dem Wasser, packte ihre Sachen und erklärte kurzangebunden, sie werde einen Spaziergang machen – allein.

Das war dumm gelaufen. Bei Anna glaubte niemand, dass Gregor zufällig ihren Fuß ins Gesicht bekommen hatte. Jan war versucht, sie zurückzuhalten. Nachdem sie ihm gestern ihre Geschichte anvertraut und zugleich ihre Grenzen klar gezogen hatte, hatte er beschlossen, zumindest während dieser vier Wochen ein Freund an ihrer Seite zu sein. Dazu gehörte, sie zu warnen, wenn sie ihre Position in der Gruppe untergrub. Er war kein großer Taktierer, aber immerhin nicht so kompromisslos wie sie. Allerdings wollte er weder ihren noch Gregors Zorn auf sich ziehen. Er würde bei Gelegenheit mit ihr sprechen.

Auf die Seite gedreht ließ er seinen Blick durch die halbgeöffnete Hand über Jenny streichen, die ihm zugewandt lag, die Augen geschlossen. Er folgte ihren Beinen hinauf zum Becken, sank die Taille hinab, suchte die von ihrem Arm verdeckten Brüste. Ihr Handgelenk könnte er mit Daumen und kleinem Finger umschließen.

Müdigkeit beschlich ihn, der Tagesanbruch hatte ihn zu früh geweckt. Er ließ sich einschlummern.

Als er wieder aufwachte, hörte er unverständliches Flüstern. Dann eine leise Stimme. „Du lässt dir das von deinen Eltern verbieten?“

Diesmal konnte er die Antwort gerade so verstehen. „Sie sind streng. Und sie haben so viel für uns getan. Als meine ältere Schwester geboren wurde, sind sie aus Vietnam ausgewandert, damit wir ein besseres Leben haben. Sie kamen erst in eine Asylunterkunft, wo ich geboren wurde, aber ich erinnere mich nur an die winzige Wohnung, in die wir danach gezogen sind.“

„Ich bin auch nicht in einer Villa aufgewachsen.“ Das war Lauras Stimme, wenngleich ungewöhnlich einfühlsam.

„Sie sind hier nie angekommen. Ihre Freunde sind Vietnamesen, und abends hören sie vietnamesische Musik und spielen Co Tuong. Aber wir Kinder sollen uns integrieren, um erfolgreich zu sein. Wir durften nur deutsches Fernsehen schauen, wir sollten uns mit unseren deutschen Klassenkameraden treffen und so. Ich kann nicht mal auf Vietnamesisch lesen und schreiben. Sie hatten Erfolg, in gewisser Weise sind mir meine eigenen Eltern ...“

Jan blinzelte und sah, wie Laura Jenny über die Schulter strich.

„Meine Eltern wollen aus uns erfolgreiche Deutsche machen“, Jennys Stimme belebte sich wütend „das ist das Wichtigste in ihrem Leben, alles muss sich dem unterordnen, nur an einer Tradition halten sie fest: Ihre beiden Töchter sollen Vietnamesen heiraten und unberührt in die Ehe gehen.“

„Du Ärmste“, stöhnte Laura.

Sie schwiegen. Jan hielt es für besser, sich nicht zu rühren. Genau genommen hatte er sich nicht einmal schlafend gestellt. Er hatte sie nur nicht unterbrechen wollen.

Michael und Gregor näherten sich lautstark. Sie scherzten mit den Mädchen. Jan tat so, als wache er davon auf. Michael reichte ihm eine Hand und zog ihn hoch.

Die drei ließen Laura und Jenny zurück und folgten dem Ufer. Sie sprangen über Bäche und umgingen schilfige Tümpel. Von einem Wiesenstück aus konnten sie ihr Haus gelb am Hügel thronen sehen. Wo der Wald bis an den See heranreichte, kletterten sie über Baumstümpfe und hangelten sich unter Ästen durch. Sie gelangten an eine mächtige Kiefer, die umgestürzt, doch wieder angewachsen weit übers Wasser reichte, setzten sich auf den Stamm und ließen die Beine baumeln.

Gregor spuckte ins Wasser. „Man könnte von hier sogar reinpinkeln.“

„Lass mal“, sagte Michael, der in der Mitte saß.

„Wieso, der See ist groß genug.“

„Keine Ahnung. Irgendwie verdient der See Respekt.“

„Was machen wir mit den Mädels?“

„Immer gleich zur Sache.“ Michael lachte. Jan nahm ihm die Lockerheit nicht ab. Zugleich war er zufrieden, dass Michael mit Gregor noch keinen Angriffsplan abgesprochen hatte. Er wollte nicht der Dritte im Bunde werden, dem die anderen beiden ihre Entscheidungen nachträglich mitteilen.

„Gestern Abend waren wir k.o., aber heute sollte was gehen.“ Gregor schlug mit der Faust in die offene Hand.

„Nur nichts überstürzen. Die Stimmung muss sich aufbauen. Was meinst du, Jan? Du hast doch ein feines Gespür für Stimmungen.“

„Ich? Ich ...“, stammelte Jan. „Ich weiß nicht.“

„Come on“, rief Gregor. „Du hast gestern Abend Anna ausgeführt und bist nach dem Baden den Mädchen auf den Pelz gerückt.“

„Ich habe geschlafen.“

„Mit deiner Anna?“ Gregor schnalzte mit der Zunge. „Wusste ich doch, dass ihr nicht nur spazieren wart.“

„Sie ist nicht meine Anna!“

„Da hat er recht“, mischte sich Michael ein und lenkte das Gespräch auf die anstehenden Erkundungswanderungen und das Kanu, das neben dem Holz im Schuppen an der Hausrückseite lagerte.

Sie gingen zur Badestelle, sammelten die beiden Mädchen auf und kehrten zu fünft zum Haus zurück. Gemeinsam kochten sie ein spätes, schnelles Mittagessen. Jenny bot an, einen Kuchen als Nachtisch zu backen, stellte jedoch fest, dass der Zucker, den sie auf die Einkaufsliste gesetzt hatte, fehlte und sie mit der einen Packung auskommen mussten, die sie im Haus vorgefunden hatten.

Jan wunderte sich, wo Anna blieb. Sie waren bereits beim Abräumen und Abspülen, da kam sie herein und bediente sich grußlos in der Küche, als ob nichts gewesen wäre. Gregor ignorierte sie, nur Laura machte einen abfälligen Kommentar.

Den Nachmittag verbrachten sie wieder gemeinsam am See, spielten Badminton und Frisbee, bis ein leichter Wind aufkam, bauten Türme aus flachen Steinen und sammelten Schwemmholz, das sie zu einem ‚Abi‘ in riesigen Buchstaben aneinanderlegten.

Dann gingen alle ihren eigenen Beschäftigungen nach. Gregor absolvierte sein Fitnessprogramm mit Steinen als Gewichten, Michael zog mit, das Gesicht vor Anstrengung verzerrt. Als er Gregor nacheiferte und Liegestützen auf einem Arm machte, kippte er um.

Jan betrachtete Anna, die etwas abseits meditierte. Sie hatte lange gebraucht, um nach dem Geplänkel zur Gruppe zurückzufinden. Wie sie es selbst ausgedrückt hatte: Ihr fehlte der Rückwärtsgang. Leider behandelte sie Jan ebenso distanziert wie die anderen. Vielleicht hatte es sie nachträglich erschreckt, wie viel sie gestern Abend von sich offenbart hatte.

Gregor stieg mit einem dicken, angespitzten Stock auf einen Stein ins Wasser. Etliche Male schleuderte er seinen Speer auf arglose Fische, ohne zu treffen. Schließlich nahm er die Angel. Schon bald zuckte der Schwimmer. Gregor holte seine glitzernde Beute an Land, löste sie vom Haken, schlug sie auf einen Stein und warf sie in den Eimer. Mit vier Fischen kehrten sie zurück. Anna und Jan, der noch immer das Klatschen der Fischkörper auf dem Stein hörte, hielten Abstand. Die anderen begeisterten sich, wie einfach es war, sich selbst zu versorgen, und besprachen das Entgräten.

Am Haus nahm Michael Jan zur Seite. Sie ließen sich im Schatten der Ostwand nieder, da sie viel Sonne abbekommen hatten und die Haut auf ihren Gesichtern spannte. Jan fühlte sich ausgelaugt vom Quatschen und Blödeln in der Gruppe und war froh, einen ruhigen Moment zu zweit zu haben, um runterzukommen.

Erst plauderten sie über dies und jenes, dann gestand Michael seinen Frust, dass Anna nicht auf seine Avancen eingehe. Eben am See habe sie ihn wieder abgeblockt. Jan wand ein, dass sie, obwohl noch verstimmt, über einige von Michaels Späßen gelacht habe. Doch das reichte Michael nicht. Er wollte sie in den Armen halten und küssen und steigerte sich hinein, dass er sie so sehr begehre, dass er wahnsinnig werden könnte. Dann lachte er über sich selbst und bat Jan, ihm heute Abend bei einem Programm zu helfen, das Annas Herz erweichen könnte.

Jan war gespalten. Einerseits wollte er seinen Freund selbstverständlich unterstützen. Auch wollte er vermeiden, dass der in Gregor einen willigeren Partner für sein Vorhaben fände. Andererseits kam es ihm vor, als würde er Anna hintergehen, indem er Michael zuarbeitete. Er wischte die Bedenken zur Seite: Es ging ja nur darum, einen schönen Abend für sie zu gestalten.

Während er sich an der Ideensuche beteiligte, überlegte er nebenbei, ob Michael nicht doch eine Chance haben könnte. Gestern Abend hatte ihn Annas Begründung, weswegen sie auf die Reise mitgekommen war, überzeugt. Ihr Wunsch, sich besser in Gruppen zu integrieren, passte gut zu seiner Hoffnung auf den großen Wandel, auch wenn er das lieber vage und poetisch formulierte und ein Wort wie Training vermied. Heute waren ihm jedoch Zweifel gekommen. Sich auf Gedeih und Verderb in eine solche Gruppe zu begeben, war heftig. Wieso begleitete eine attraktive Frau, die sich mehr auf andere einlassen, aber keinen Sex haben wollte, einen Macker wie Gregor und einen Verführer wie Michael, dessen Liebesbekundungen gerade mal ein Jahr zurücklagen? Wollte sie sich insgeheim auf das Spiel einlassen?

Michael beschwerte sich, wo Jan mit den Gedanken sei, und wiederholte die Frage, ob sie die Couch ans Lagerfeuer tragen sollten. Mr. Thompson scheine nicht pingelig zu sein. Das brachte sie auf die außergewöhnliche Großzügigkeit ihres unbekannten Gastgebers. Jan staunte, dass der ihnen einfach so sein Haus mit allen Vorräten überließ und obendrein noch für den Cessna-Flug aufkam. Wahrscheinlich hatte er etliche Ferienhäuser, weswegen er so lange nicht hier gewesen war. Seltsam allerdings, dass im Salon alle Möbel aufeinander getürmt gewesen waren, und Mr. Thompson befürchtet hatte, dass der Tank leer sein könnte, obwohl der in Wirklichkeit reichlich gefüllt war.

Michael meinte, Multimillionäre hätten eben ein anderes Verhältnis zu ihrem Besitz, und erzählte, dass Gregor seinem Vater einen Zuschuss für Jennys Linienflug abgeschwatzt habe. Jennys Eltern wollten nichts beisteuern, ihnen war die Reise suspekt, und Michael hatte vorsprechen und sie von der Durchdachtheit der Planung und der Anständigkeit der Teilnehmer überzeugen müssen, ehe sie ihre Tochter ziehen ließen.

Sie erhoben sich und machten sich an die Vorbereitung. Dafür schlossen sie alle Fensterläden zu der Seite, an der sie das Lagerfeuer aufschichteten, und verboten den Mädchen, von Balkon oder Veranda aus zu spicken. Gregor ließ sich nicht davon abhalten, mit anzupacken – er wollte sich nicht mit den Mädchen zusammen überraschen lassen.

Am Abend saßen sie auf den Sesseln und der Couch ums Lagerfeuer und brieten Stockbrot und Fisch. Ein wundervolles Gefühl: das Funkengestöber in der Dunkelheit, Tierstimmen aus dem Wald, der enge Kreis um das wärmende, schützende Feuer, und fröhliche Gesichter, über die geheimnisvolle Schatten huschten.

Auch ihre Gespräche passten zur Wildnis. Die alten Themen, die sie aus Schulzeiten gewohnt waren, griffen nicht recht. Niemand hatte Lust, sich über durchgeknallte Lehrer oder abwesende Mitschüler zu unterhalten, nicht einmal DSDS oder das Dschungel Camp zogen. Es gab nur das Hier und Jetzt: ihre vier Wochen in Alaska.

Jan war zufrieden. Er verstand sich mit Anna und konnte mit ihr vielsagende Blicke austauschen, wenn Gregor und Laura nervten. Michael hatte ihn zu seinem Verbündeten gemacht, um Anna näherzukommen. Und auch mit Jenny hatte sich Jan heute unterhalten. Daraus war kein Selbstläufer geworden, aber sie war ihm gegenüber aufgeschlossener als erwartet. Nur Gregor und Laura blieben desinteressiert, stellten ihm keine Fragen und gingen auf seine Äußerungen wenig ein. Zumindest piesackten sie ihn nicht, und das war das Wichtigste.

Anna erhob sich von dem Couch-Platz an Michaels Seite, nahm den Sessel von Jenny, die etwas in der Küche holen gegangen war, und rückte neben Jan. Sie schauten eine Weile ins Feuer. Das Erste, was Anna sagte, war, wie gut ihr der späte Ausflug zu den Schotterfeldern gestern gefallen habe. Sein Herz machte einen Sprung. Bald war es, als säßen sie wieder einsam auf ihrem Felsen, so vergaß er in ihrem Gespräch die Runde um sie herum. Anna erzählte von Yoga, Meditation und ihrem Wunsch, einmal nach Tibet zu reisen, vom Medizinstudium, das sie nach dem Ende ihrer Tanzkarriere aufnehmen würde, und voller Begeisterung von den großen Ballett-Ensembles der Welt. Das Royal Ballet in London hatte sie bereits gesehen, in Paris war sie sogar zweimal gewesen, und vor einem Jahr hatte ihre Mutter ihr Karten für das American Ballet Theatre geschenkt, als es bei einer Welttournee in Berlin aufgetreten war. In die Mailänder Scala wollte sie so bald als möglich und den nächsten Besuch der Bolshoi-Tanztruppe dürfe sie nicht verpassen. Wobei man das deutsche Ballett nicht unterschätzen dürfe, Hamburg, Stuttgart und Berlin zum Beispiel hätten erstklassige Ensembles.

Es war schön, sie so begeistert zu erleben, und dass sie ihren Enthusiasmus mit ihm teilte, berührte Jan. Allzu oft hatte er für seine eigene Leidenschaft keinen Gegenüber gefunden, niemand, der mit ihm dreimal die gleiche Stelle eines Musikstücks hören oder sich die Genialität einer Textpassage erklären lassen wollte.

Irgendwann traf er auf Michaels bösen Blick. Wie unaufmerksam von ihm, schoss es Jan durch den Kopf: Er wusste genau, was Michael sich von dem Abend versprach – und dann nahm er Anna in Beschlag. Allerdings spürte er auch einen Funken Ärger, dass er nicht das Recht haben sollte, sich mit ihr zu unterhalten, wenn sie zu ihm kam. Dennoch bat er sie, wieder auf die Couch zu wechseln. Sie sah ihn ausdruckslos an und ließ sich nur durch inständiges Bitten dazu bewegen. Er fühlte sich schlecht, als sie aufstand und hinüberging, und fürchtete, sie gekränkt zu haben.

Michael lächelte verdrießlich und schlug der Gruppe eine Aufwärm-Übung aus der Theater-AG vor. Es wurde sehr lustig, und da sich auch Anna mitreißen ließ, legte er weitere Spielchen nach.

Irgendwann reichte es Gregor, der beim Improvisieren nicht gerade geglänzt hatte, und er forderte die anderen auf, mal wieder locker zu sein und einfach zu quatschen, ohne dämliche Regeln.

Jan wollte die morgige Wanderung planen und ging ins Haus, die Karte holen. Sie hatten sie zusammen mit dem Feldstecher in eine Schublade im Salon gelegt, in der auch anderes Kartenmaterial lagerte. Jan zog die Schublade auf und nahm es hervor. Zu seiner Überraschung handelte es sich um sechs identische Karten ihres Tals. Umso besser, dachte Jan, und nahm ihre eigene und zwei weitere mit.

Er verteilte die Karten so, dass sie paarweise in eine gucken konnten, und setzte sich neben Jenny. Ihr Exemplar war mit Linien und Notizen übersät.

„Ist eure auch so verkrickelt?“, fragte Laura.

„Ja“, sagte Jenny, „die können wir gleich wieder zurücklegen.“

Jan lies die Karte schräg nach unten sinken, so dass das Feuer sie besser beleuchtete. Die Linien mochten Jagdreviere bezeichnen. Er beugte sich nach vorne und entzifferte ‚searched, group 4, 07/19‘. In jedem Feld stand ein solcher Eintrag. „Ist die Gegend hier mal durchsucht worden?“ Er hob den Kopf und sah Gregors Blick zu Michael huschen, der keine Miene verzog.

„Bei uns steht auch überall ‚searched‘ drauf“, sagte Laura.

„Im Haus sind noch drei weitere Karten.“ Jan setzte sich wieder in eine aufrechte Position. „Mr. Thompson wird nicht alleine das ganze Tal durchkämmt und die Ergebnisse auf fünf verschiedene Karten geschrieben haben.“

„Mach nicht einen auf Sherlock Holmes“, blaffte Gregor. „Du taugst höchstens als Mr. Bean.“

„Ich denke, Jan würde in South Park gut reinpassen“, sagte Anna. „So von seinem Humor her, wenn wir über dich reden.“

Jan beeilte sich, einem Streit zwischen den beiden zuvorzukommen. „Wenn ich daran denke, wie die bequemen Möbel in eine Ecke gestapelt waren – ich würde spekulieren, jemand wollte Platz schaffen, um das Haus als Base Camp für eine großangelegte Suche zu nutzen.“

„Bevor Kommissar Bean die Dielen im Salon aufstemmt, um noch mehr Indizien an den Tag zu fördern ...“, Gregor rollte die Augen, dann blickte er nochmals zu Michael. „Keine große Geschichte, und die Details kenne ich sowieso nicht, mein Vater hat mir damals nur kurz davon erzählt. Thompson war vor zwei Jahren mit einer Frau hier, irgendein junges Ding zum Bumsen. Nach einem Streit hat sie beschlossen, einen Tag allein zu verbringen. Auch die Nacht ist sie weggeblieben. Als sie am nächsten Abend immer noch nicht zurück war, hat Thompson die Polizei verständigt. Die Suche hat nichts gebracht. So groß, wie das Tal ist, da kann leicht mal jemand in eine Spalte fallen oder ertrinken und man findet die Leiche nie mehr.“

Jenny verzog das Gesicht, als krabbele eine Tarantel auf sie zu. „Wie gruselig!“

„Ach was, das ist typisch für hier. Sozusagen eine regionale Besonderheit, wie die Flugzeuge, die im Bermuda-Dreieck verschwinden.“ Gregor hatte zunächst gelangweilt erzählt, um zu unterstreichen, wie unbedeutend die Geschichte war, die er verschwiegen hatte. Doch nun hatte er seinen Spaß daran entdeckt, Jenny zu erschrecken, und das Bermuda-Dreieck hatte er düster verhaucht, als erzähle er von Vampiren und Untoten.

„Lass gut sein“, sagte Jan.

„Wieso? Du hast mich doch gedrängt, dass ich mit der Geschichte rausrücke. Jetzt lass uns keine halben Sachen machen. Also: In dem Mega-Naturschutzgebiet, in dessen Mitte unser Tal in etwa liegt, verschwinden seit ein paar Jahren alle naslang Menschen. Dabei kommen nur ein paar Tausend jährlich mit Permits rein.“

„Nur weil wir am Lagerfeuer sitzen, brauchst du das nicht zur Horror-Story aufzubauschen“, sagte Michael. „Die Gegend ist eben besonders wild und verlassen, und die, die sich darauf einlassen, sind Kletterer und White-Water-Rafter und Survivalists. Typen, die das Risiko suchen.“

„Und davor waren nur Golfer und Angler hier, die brav am Leben geblieben sind“, höhnte Gregor, „aber plötzlich schießt die Zahl der Vermissten in die Höhe, weil die Risiko-Freaks das Gebiet entdeckt haben. Klasse Logik! Nein, hier geht ein Man-Eater-Bär um. So was wie die Tiger in Indien, die sich an Menschenfleisch gewöhnt haben.“ Gregor musterte Jenny genießerisch. Jan wusste nicht, ob er sich an ihrer Angst erfreute oder an der Vorstellung, sie wie ein Tiger anzufallen.

„Ich gehe gleich rein“, sagte Jenny gequält.

„Soll ich dich begleiten? Ich pass gut auf dich auf.“