5. Tag
Jan wollte sich umdrehen, doch die Decke gab nicht nach. Er zog kräftiger – jemand jammerte auf einem hellen Ton. Erst jetzt spürte er Jennys Beine neben sich. Den Oberkörper hatte sie abgewinkelt. Er rutschte ein wenig, um ihr mehr Decke zu geben, und überlegte, wie er sich verhalten sollte. Gestern hatte sie sich betrunken zu einem erotischen Tanz hinreißen lassen und war dann mit dem einzigen verbleibenden Jungen ins Bett gegangen. Zudem hatte Michael ihn mit dem Gedicht in Szene gesetzt. Unter normalen Umständen würde sie nichts von ihm wollen. Es würde ihr sogar peinlich sein, sich an seiner Seite wiederzufinden. Konnte er sich einfach davonschleichen? Vielleicht würde sie sich schlafend stellen, selbst wenn sie wach war.
Behutsam kroch er aus dem Bett, sammelte seine Kleidung ein und zog sich im Bad an. Annas Tür stand einen Spalt offen, er steckte den Kopf hinein. Ihr Bett sah nicht danach aus, als habe sie darin geschlafen. Hinter ihm knarrte eine Diele. Es war Michael, der wie Jan einige Minuten zuvor ins Bad lief: nur mit einer Shorts bekleidet und einen Haufen Kleidung vor sich an den Bauch gepresst.
Jan ging in den Salon, räumte das Mobiliar zur Seite und fegte die Scherben des Cocktail-Glases auf. Dazwischen blickte er immer wieder zur Tür, ob Anna nicht endlich zurückkäme, und zur Treppe, um nicht unvorbereitet Jenny gegenüberzustehen. Von oben hörte er Schritte und Stimmen. Michael, Gregor und Laura trampelten die Treppe herunter, stellten ein spartanisches Frühstück auf den Tisch und besprachen die Jagd auf Anna, zu der die Gruppe bald aufbrechen sollte. Dass Anna die Nacht im Freien geschlafen hatte, wurde ihr als Schuldgeständnis ausgelegt.
Jan eilte in die Küche, steckte Brot, Käse und Nüsse in eine Plastiktüte und ließ sie aus dem Fenster fallen. Dann entschuldigte er sich bei den anderen, dass er dringend aufs Klo müsse und das länger dauern könne.
Auf der Veranda kniff er geblendet die Augen zusammen, obwohl das Vordach Schatten spendete. Die Sonne näherte sich dem Zenit, die blaue Quecksilbersäule des altmodischen Thermometers, das am Türbalken hing, reichte hoch auf der Fahrenheit-Skala. Jan sammelte die Plastiktüte ein und machte sich auf den Weg durch den Wald. Er hoffte, dass sich Anna endlich zeigen würde. Er wollte sie zur Aufgabe überreden oder ihr wenigstens das Essen zustecken. Sie ins Haus zu locken, würde er nicht über sich bringen.
Die Zeit war knapp, der Spaziergang ohnehin verdächtig. Er rief verhalten ihren Namen. Er musste sie sprechen! Denn sonst mochte sie den Suchtrupps ausweichen und sich in irgendeinem Seitental verkriechen, wo niemand sie mehr finden oder ihr helfen könnte, wenn sie sich verletzte oder etwas Giftiges aß. Jan dachte an den Film, in dem ein junger Poet in Alaska verhungerte. Er sah den bärtigen, ausgemergelten Schauspieler vor sich, dessen Kräfte unwiederbringlich dahinschwanden.
Während er umhereilte, wanderten seine Gedanken unbemerkt zur Nacht zurück. Die Peinlichkeit des Erwachens verblasste vor der Erinnerung an Jennys nackte, zarte, duftende Haut ... Seine Brust glühte von ihrer Berührung, als wäre Jenny immer noch um ihn ... Ihn! Ihn hatte sie gewählt! Nicht Gregor, nicht Michael – ihn! Er rannte los, weil er endlich zu Anna wollte und ... Was eigentlich? Er brach den kurzen Lauf ab und wischte sich über die Stirn. Wollte er ihr vorführen, dass er nicht nur der einfühlsame, hilfsbereite Gesprächspartner sein konnte, sondern ein Mann? Er sehnte sich plötzlich nach ihr. Was wollte er überhaupt von Jenny? Nichts! Und von Anna?
Er schalt sich, dass er sich solchen Gedanken hingab, obwohl Anna in Gefahr schwebte, und kehrte um, da er bereits zu lange ausgeblieben war.
Die anderen standen auf der Veranda und redeten durcheinander. Michael berichtete Jan, dass er eben den Beutel mit den Uhren und Handys unter seinem Bett im Jungenzimmer hatte hervorholen wollen, doch auch der war verschwunden. Gregor sagte, er habe bei der Suche nach dem Satellitentelefon am Vortag unter dem Bett nachgesehen und da habe nichts gelegen.
Sie prüften, ob sonst noch etwas im Haus fehlte, und stellten fest, dass die Landkarten und der Feldstecher nicht mehr an ihrem Platz im Kommodenfach im Salon lagen. Gregor deutete all das als Beweis, wie vorausschauend Anna gehandelt hatte: Sie wollte ihnen die koordinierte Suche erschweren.
Er schulterte das Gewehr. Jan protestierte vergeblich. Obwohl Laura als Wache zurückblieb, wollte Gregor sich nicht von der Waffe trennen, da sie Anna nicht in die Hände fallen dürfe. Jan beschwor ihn, unter keinen Umständen zu schießen. Gregor lachte, schöne Frauen seien dafür viel zu schade, und zog mit Jenny ab.
Auch Jan und Michael brachen auf. Sie gingen mit so viel Abstand voneinander, dass sie sich gerade noch sehen konnten. Anna hatte ihre grüne Jacke und die braune Hose dabei, das hatten sie anhand der zurückgelassenen Kleidungsstücke verifiziert. Falls sie sich in einen Busch kauerte, war es denkbar, dass Jan und Michael auf beiden Seiten an ihr vorbeiliefen. Aber zumindest würden sie Hilferufe hören.
Sie überquerten das Rinnsal in der Nähe des Hauses und marschierten zügig nach Osten. Nach etwa einer Stunde drehten sie um und machten sich einige Hundert Meter unterhalb auf den nächsten Streifzug. Es wirkte aussichtslos.
Am späten Nachmittag schleppten sie sich verschwitzt auf die Veranda. Laura freute sich, sie zu sehen – sie hatte sich aus Angst vor Anna im Haus eingeschlossen, und die Stunden waren nur langsam verstrichen. Jan trank mehrere Gläser kaltes Wasser mit Zitronensaft und blickte nach Westen. Gregor bewaffnet und nur Jenny, um ihm Einhalt zu gebieten – das war ihm nicht geheuer.
Wieder grübelte er, wieso sich Anna überhaupt versteckt hielt. Sie konnte nicht wissen, dass sie gefangengenommen werden sollte. Oder war es eine natürliche Reaktion zu fliehen, wenn man derart verdächtigt und angefeindet wurde? Er wäre an ihrer Stelle längst zum Haus zurückgekehrt – aber sie war stolzer und misstrauischer. Wahrscheinlich hing das mit ihrer Epilepsie zusammen, mit dem Gefühl, ausgeliefert zu sein, das sie nie wieder erleben wollte.
Nun warf er sich vor, dass er gestern nicht ausgiebiger nach ihr gesucht hatte. Er hätte sich den Strip-Tanz nicht ansehen dürfen. Möglicherweise hatte Anna alles beobachtet und das Vertrauen in ihn verloren. Wäre er stattdessen hinausgegangen, hätte sie sich ihm gezeigt. Immer wieder malte er sich aus, wie sie sich umarmt und unvermittelt geküsst hätten.
So sehr er darauf gewartet hatte, zuckte er doch zusammen, als Gregor und Jenny auf die Lichtung traten. Sie kamen allein!
Jenny war fix und fertig und zog sich mit Laura ins Mädchenzimmer zurück. Die Jungs richteten es sich in den Liegestühlen auf der Veranda ein und sprachen über die vergebliche Jagd. Schließlich fragte Jan: „Wie gehen wir vor, wenn wir Anna tatsächlich festsetzen?“
„Vorausgesetzt, dass sie das Telefon nicht bei sich hat“, antwortete Michael, „bearbeiten wir sie damit, wie unverantwortlich sie sich verhält, und lassen ihr keine Ruhe, bis sie verrät, wo sie es versteckt hat.“
Gregor senkte die Stimme, so dass er von oben nicht gehört werden konnte, sollten die Mädchen das Fenster geöffnet haben. „Ich finde, sie muss uns für unsere Anstrengung entschädigen.“
Michael schluckte hörbar. „Was meinst du damit?“
„Ich habe da mal von einem Experiment gelesen. Mit Affen, denen haben die Forscher Geld gegeben. Also kein richtiges Geld, so Plastikchips, die sie gegen Bananen eintauschen konnten. Und was ist passiert?“ Gregor öffnete den Mund, als müsse er gleich loslachen. „Na stellt euch nicht so dumm an! Ihr kennt doch die Frauen. Sie haben sich natürlich prostituiert: Chips gegen Sex! Auch Affen sind Nutten!“
„Was hat das mit Anna zu tun?“, fragte Michael kühl.
Gregor rollte die Augen. „Seid mal ein bisschen locker! Ist doch eine gute Story. Schade, dass wir für Anna keine Chips haben. Außer wir sind sehr sparsame Gefängniswärter.“
Wenn das sein Plan war, hatte er sich getäuscht: Anna würde eher verhungern, als sich so zu erniedrigen. Jan war empört. „Du wirst sie nicht anfassen, ist das klar? Sonst kriegst du Ärger, erst mit uns und danach mit der Polizei.“
„Entspann dich, Jan. Jetzt ist erst mal Jenny dran.“
„Wovon sprichst du?“
„Das wirst du schon noch sehen.“ Gregor strich sich zufrieden über den Bartflaum. „Denk immer an die Bananen und die Chips.“
Michael bläute ihm nochmals ein, dass er keines der Mädchen belästigen dürfe, dann überlegten sie, wie sie Anna eine Falle stellen könnten.
Jenny kam herunter und fragte, ob sie jemand zum See begleiten wolle. Michael und Jan holten ihre Badesachen und schlossen sich ihr an. Jan verstand nicht, wie er gestern mit Jenny hatte flirten und Anna so hatte ausblenden können. Hatte er die Lage falsch eingeschätzt oder war er eingeschnappt gewesen, weil Anna ihn sitzengelassen hatte? Heute war er wieder er selbst. Er würde sich rasch im See abkühlen und dann die letzten Tagesstunden nutzen, um nochmals nach ihr zu suchen.
Am See fehlte das Kanu, eine Schleifspur führte zum Wasser. Sie schwammen ein gutes Stück hinaus, ohne es entdecken zu können. Jan war erleichtert: Anna lebte und war nicht ernstlich verletzt, sonst hätte sie das Kanu kaum ins Wasser bekommen. Wahrscheinlich hatte sie an den westlichen Felswänden einen für die Gruppe unerreichbaren Unterschlupf gefunden.
Sie liefen zurück. Der Schatten der Bäume kletterte die Hauswand empor, das Dach leuchtete noch warm in den Abendstrahlen. Laura und Gregor grüßten sie vom Balkon. Nasse Bettwäsche hing an einer Strippe, die zwischen zwei Säulen auf der Veranda gespannt war. Sie tauchten darunter hindurch und traten ein.
Nach und nach fanden sich alle im Salon zusammen. Michael klimperte auf der Gitarre. Niemand schien zu bedauern, dass er sie nach einigen Liedern weglegte. Die Stimmung war mies. Sie hatten einen anstrengenden, misslungenen Tag hinter sich. Und auch die erotische Nacht, spekulierte Jan, mochte auf ihnen lasten. Es war die Unzufriedenheit nach dem Übermaß an Genuss und dem Mangel an Schlaf.
„Das nächste Mal mache ich wieder Kluburlaub“, haderte Laura. „Das habe ich mir hier anders vorgestellt.“
„Mich hat unser Reiseleiter Michael auch reingelegt“, schimpfte Gregor. „Von wegen B&B.“
„Hä? Bed and Breakfast?“
„Bumsen und Blasen. Danach kannst du mir das Frühstück gerne ans Bett bringen.“
„Soso, das hat dir unser Reiseleiter also versprochen.“
„Ich habe gar nichts versprochen“, widersprach Michael. „Außer herrlicher Natur, und davon habt ihr jede Menge, das könnt ihr nicht abstreiten, egal wie übel ihr gelaunt seid.“
Jenny ging zum Klohäuschen. Als sie zurückkam, fing Gregor sie auf der Wiese ab. Jan beobachtete die beiden durchs Fenster. Gregor redete auf Jenny ein, die ab und an mit kleinen Schritten zurückwich. Nach einer Weile drehte sich Gregor um, eilte Richtung Veranda, blieb stehen und rief Jenny etwas zu, halb über die Schulter. Jenny kam zu ihm. Sie wirkte nun wachsam, wie eine Katze vor dem Mauseloch, wenn ein Hund in der Nähe ist.
Jan ging zum Klo, konnte jedoch nichts von ihrer Unterhaltung aufschnappen. Auf dem Rückweg fragte er sie, ob sie Lust auf ein Kartenspiel hätten. Sie verneinten, und er bezog wieder seinen Beobachterposten. Gregor fasste Jenny am Unterarm, nur kurz, es war Teil ihrer Konversation gewesen, und dennoch störte Jan, dass sie das hinnahm. Hätte sie für gewöhnlich nicht ihr Missbehagen durchscheinen lassen? Er sagte sich, dass ihn nichts anging, was die beiden trieben, und dachte wieder an Anna.
Beim Abendessen kriegte Jan trotz seines Hungers kaum einen Bissen herunter. Anna musste sich von Beeren und Pilzen ernähren. Oder aß sie bereits Insekten? Er unterdrückte einen Brechreiz.
Es wurde wenig gesprochen. Jenny bekam nicht einmal alle Fragen mit, die an sie gerichtet wurden. Gregor lobte ihre Ausdauer während der Jagd und prahlte mit dem Reichtum seiner Familie und der Position seines Vaters. An Michaels Stirnfalten ließ sich ablesen, wie auch er sich darüber ärgerte. Selbst Laura ging nicht darauf ein.
Während sie abdeckten, versuchte Jan vergeblich, Jenny auf die Veranda zu lotsen. Er wollte sie vor Gregor warnen, auch wenn das eigentlich nicht seine Angelegenheit war. Als er mit dem Putzlappen aus der Küche in den Salon kam, waren die anderen schon hochgegangen. Unzufrieden wischte er den Tisch ab und folgte ihnen. In ihrem Zimmer war nur Michael. Gleich darauf erschien Laura.
„Wo ist Gregor?“, fragte Jan.
„Im Mädchenzimmer.“ Laura lächelte ihm nachsichtig zu. „Relax, Jan, so ist das Leben.“
Er ging zu Bett und wälzte sich hin und her, die beiden anderen lasen. Das Licht der Dämmerung reichte dazu – so früh hatten sie sich seit dem ersten Tag nicht mehr hingelegt.
Ein spitzer, leiser Schrei. Jan fuhr auf. „Lass sie“, zischte Laura. „Das ist ihre Entscheidung.“
Er versteckte sein Gesicht unter dem Kopfkissen.
Wieder drangen gedämpfte Schreie zu ihm – es schien ziemlich wild zuzugehen. Er hielt sich die Ohren zu. Wieso hatte Jenny Gregor gewählt? Warum hatte sie ihn eben nicht angehört? Er dachte daran, wie er letzte Nacht ihre Formen liebkost hatte, während sie in seinen Armen eingeschlafen war. Er war nachträglich froh, dass sie ihr erstes Mal nicht miteinander verbracht hatten, aber dass sie sich gleich in der nächsten Nacht Gregor schenkte ... Wütend warf er sich hin und her und setzte sich zuletzt auf.
„Lass sie in Ruhe“, fauchte Laura, als er sich anzog.
„Ich gehe nach draußen, auf die Veranda.“
Er hielt sich die Ohren zu, während er über den Flur zur Treppe lief, dennoch hörte er ein Schluchzen aus dem Mädchenzimmer. Plötzlich Schritte. Er wollte die Treppe hinunterfliehen, konnte sich jedoch nicht losreißen. Gregor öffnete die Tür und starrte ihn entgeistert an.
„Viel Spaß“, sagte er grinsend, schob Jan beiseite und ging ins Bad.
Jan stürzte ins dunkle Zimmer. Jenny hatte sich die Decke über den Kopf gezogen und wimmerte.
„Laura!“, schrie er. Sie kam herbei und setzte sich an die Bettkante. Jan flüchtete sich in den Flur. Wo sollte er hin? Ins Jungenzimmer, in das sich Gregor nun schlafen legen würde? Undenkbar! Also richtete er sich mit Kissen und Fleece-Decken auf der Couch im Salon ein.
Wie hatte es dazu kommen können? Er lachte zynisch über sich selbst. Wozu war es denn gekommen? Jenny hatte sich auf Gregor eingelassen und keine Freude daran gehabt. Das war das Normalste der Welt. Er wollte Gregor an die Gurgel, weil er auf eine sinnlose Art eifersüchtig war. Aber was hatte er ihm vorzuwerfen?
Jan wurde müde, seine Wut legte sich – und Angst stieg auf. Er malte sich aus, wie Anna ihre zweite Nacht in der Wildnis verbrachte. Lag sie in einem Gebüsch, wo sie ein wenig vor der Kälte geschützt war, oder hatte sie sich einen Schlafplatz in einem Baum eingerichtet, damit die Wölfe nicht an sie herankamen? Er lauschte in die anbrechende Nacht.