4. Tag

Jan driftete zwischen erotischen Träumen und physischem Unwohlsein, bis er die Augen aufschlug und sich eingestand, dass er wach war. Seine Kehle brannte, der Kopf pochte. Jenny lag im Bett gegenüber, das sonst leer blieb. Richtig: der Striptease und dann der Kampf – Gregor schlief drüben bei Laura.

Er versuchte vergeblich, in seine Träume zurückzufinden. Jenny bewegte sich. War sie auch schon wach? Schämte sie sich, dass sie sich gestern entkleidet hatte? Nachträglich überraschte es ihn, dass sie nachgegeben hatte. Nun, er kannte sie kaum, auch wenn sie sich in den letzten Tagen nett unterhalten hatten.

War ihr zuzutrauen, dass sie Annas Schrift gefälscht hatte? Der Gedanke war ihm sogleich unangenehm, er wollte niemanden verdächtigen. Aber jemand log, daran führte nichts vorbei. Der festliche Abend, der Strip und der Kampf hatten das Problem überlagert, aber nicht aus der Welt geschafft.

Kam Jenny dafür infrage? Ihr Verhältnis zu Anna war kühl, was angesichts der unterschiedlichen Persönlichkeiten nicht verwunderte. Aber erst die Notizen hatten sie gegen Anna aufgebracht. Und ohnehin war Jenny nicht der Typ für eine solch riskante Aktion.

Laura hatte eher den Mumm dazu. Aber sie war mit den Notizen derart aufgeregt ins Jungenzimmer gestürmt – das hatte sie nicht vorgetäuscht. Auch Annas Überraschung, als er ihr im Wald den gemeinen letzten Satz vorgeworfen hatte, war ehrlich gewesen. Er sah noch ihre aufgerissenen Augen.

Da Michaels Integrität über jeden Zweifel erhaben war, blieb nur Gregor. Der hatte die Notizen so gelassen zur Kenntnis genommen, dass er darauf vorbereitet gewesen sein mochte. Allerdings eignete sich Gregors Sauklaue schlecht zum Schriftfälschen.

Schließlich hatte Jan das Spekulieren satt. Er stand auf und zog sich an. Erst jetzt sah er, dass Michael nicht in seinem Bett lag. Auch Anna war schon auf, die Tür zu ihrem leerem Zimmer stand offen. Doch die beiden waren weder im Salon noch auf der Veranda.

Jan trank reichlich Wasser in der Küche und machte sich daran, die Flaschen und Gläser aufzuräumen. Die Zeugnisse der letzten Nacht störten ihn. Laura kam im Schlafanzug die Treppe herunter, die Haare zerstrubbelt, nickte ihm zu, bediente sich in der Küche und verschwand wieder nach oben. Jan beschloss, seine Ruhe am See zu suchen. Er wollte lieber allein sein, als die anderen misstrauisch zu beobachten und in ihrem Verhalten nach verräterischen Zeichen zu suchen.

Die Luft war noch kühl. Umso wärmer fielen die Morgenstrahlen auf sein Gesicht, als er aus dem Wald herauskam und über die Wiese zum Ufer hinabging. Dort lungerte bereits jemand. Es war Michael, der sich auf die Ellenbogen gestützt sonnte.

„Hallo“, sagte Jan, als er sich bis auf wenige Meter genähert hatte.

Michael blinzelte. Seine geschwollene Wange hatte sich verfärbt, sonst war er blass. „Auch hier.“

„Ja. Wie geht’s?“

„So beschissen habe ich mich selten gefühlt. Verkatert und verprügelt.“

Jan hockte sich zu ihm auf den Kies. „Das war wirklich dumm von dir, dich mit Gregor zu schlagen!“

„Ich sollte nicht so schnell frustriert sein ... Mir bleibt ja noch viel Zeit mit Anna.“

Anscheinend schöpfte er wider alle Vernunft neue Hoffnung. Jan verzichtete darauf, sie ihm auszureden. „Deine Chancen bei ihr vergrößerst du jedenfalls nicht, wenn du dich schlägst, um mit Laura zu pennen.“

„Spar dir den Scheiß!“

Ihre Unterhaltung brach ab. Jan lauschte dem sanften Schwappen der Wellen. Die nassen Steine glänzten dunkelfarbig, wenn sich das Wasser zurückzog. Sie bildeten einen handbreiten Streifen zwischen den matten, staubigen Tönen der trockenen Steine ein wenig höher und dem schaukelnden, reflektierenden Wasser, das erneut anstieg, um sich den Streifen einzuverleiben.

Nach einer Weile sagte Michael: „Mein Vater nennt mich seinen besonnenen Sohn ...“

Jan hatte oft bei Michael zu Abend gegessen und kannte den Ausspruch. Er ging der ironischen Klage voraus, Michael sei so reif, dass er dem Vater nichts zum Erziehen übriglasse. Tatsächlich behandelte der Vater Michael mehr wie einen jüngeren Bruder und beschränkte sich darauf, ihn zu beraten.

„Aber als Gregor und ich uns gegenüberstanden, im Mondlicht, die Fäuste umwickelt ... Das war schon was.“

„Ein großer Schwachsinn war das.“

„Ja, aber eben nicht nur.“

„Sondern?“

„Etwas Faszinierendes.“

„Was?“

„Sorry, ich hätte nicht damit anfangen sollen. Das kapierst du nicht.“

„Im Moment bist du mir wirklich ein Rätsel.“ Es bestürzte Jan, wie er Michael so wenig verstehen konnte. Sie hatten in den acht Jahren Gymnasium Tausende Stunden zusammen verbracht. Er kannte die großen Stärken und die kleinen Marotten seines Freundes und stand ihm näher als irgendeinem anderen Menschen. Dass Michael sich prügelte und das danach auch noch als faszinierend bezeichnete, war ihm unerklärlich. Und es verunsicherte ihn. „Du bildest dir da irgendwas ein.“

„Nein! Ich entdecke etwas.“ Michael nahm eine Handvoll Kiesel auf und begann, sie einzeln ins Wasser zu werfen. „Wer bin ich? Der Sohn eines Landtagsabgeordneten und einer Rechtsanwältin, der Jura studieren wird und hofft, eines Tages dem Bundesverfassungsgericht oder dem Internationalen Strafgerichtshof anzugehören. Intelligent, eloquent und idealistisch-ambitioniert. Dabei kein reiner Kopfmensch, auch talentiert für Gitarre, Theater und Volley-Ball. Alles richtig?“

„Kommt hin.“ Es war befremdend, das aus Michaels Mund zu hören, der sich sonst nie lobte.

„Alles falsch, irgendwie ist all das falsch!“ Er schleuderte die restlichen Kiesel mit einem Schwung ins Wasser, es gluckste und spritzte. „Es ist alles so beliebig, ich weiß nicht, was es mit mir zu tun hat. Will ich das wirklich? Siehst du, fast alles, was ich will oder zu wollen meine, gelingt mir, und was mir nicht gelingt, darauf kann ich leicht verzichten. Es tut mir nichts weh.“

„Außer Anna.“ Jan wusste selbst nicht recht, was er da gesagt hatte. Aber als er darüber nachdachte, überzeugte es ihn. Anna war so unbedingt authentisch, so kompromisslos sie selbst – das musste auf Michael wie das Gegenmittel wirken zu seinem Gefühl, ungebunden durch den Raum des Möglichen zu schweben. Und sie war bestens geeignet, wenn man sich wehtun wollte.

Auch Michael hatte nachgedacht und nickte. „Dornen, extra-lang.“

Sie saßen schweigend. Jan versuchte, Michaels bizarre Sätze einzuordnen und mit dessen amouröser Besessenheit in Verbindung zu bringen, die nicht totzukriegen war. Und wie passte zu all dem, dass Michael sich geprügelt hatte, obwohl er früher das Amt des Klassensprechers und Streitschlichters abonniert gehabt hatte.

Sie kehrten zum Haus zurück. Jenny werkelte in der Küche. Jan half ihr und beobachtete sie. Sonst war sie stets makellos. Nach der Wanderung ins Bärental hatten Laura Strähnen an der verschwitzten Stirn geklebt, während Jennys Haare leicht und glänzend mit jeder Bewegung mitgeschwungen hatten. Doch heute Morgen hatte sie die Brauen über ihren verquollenen Augen kantig nachgezogen.

Sie frühstückten zu fünft ohne Anna. Gregor fluchte gutgelaunt. Laura stellte ein Wenn-ihr-wüsstet-Lächeln zur Schau, das Jan permanent an das erinnerte, was er partout nicht wissen wollte. Er hatte mehr als genug durch die dünne Wand gehört!

Eigentlich hatten sie für diesen Tag eine Tour am östlichen Ufer entlang geplant, doch die verschoben sie und legten sich an den See. Nach einer Weile wurde Gregor langweilig und er ging zum Haus, die Angelsachen holen.

Jan vertiefte sich in sein Buch, bis ihn eilige Schritte auf dem Kies aus seiner Geschichte hervorschreckten. Gregor meldete, noch einige Meter entfernt: „Ich habe unschöne Neuigkeiten.“

Jan hielt die Luft an. Michael blickte ebenfalls beunruhigt. Irgendetwas an der Stimme alarmierte sie.

Gregor ging neben ihnen in die Hocke. „Ich wollte die Wettervorhersage hören, falls wir doch noch eine Wanderung machen. Aber das Funkgerät ist plötzlich kaputt.“

„Hoffentlich funktioniert das Satellitentelefon“, sagte Michael.

„Erstmal müssen wir es wiederfinden.“

„Was?“

„Es ist weg.“

„Aber wir haben es doch bei der Ankunft –“

„Ich habe überall im Salon nachgeschaut.“

„Vielleicht ist es woanders im Haus.“

Gregor blickte in die Runde, die sich um ihn versammelt hatte. „Hat es jemand angefasst?“

Alle verneinten.

„Jemand hat es geklaut. Jemand, der Anna heißt.“

„Das kann nicht sein!“, rief Jan.

„Willst du sie noch immer verteidigen?“ Gregor schob den Unterkiefer martialisch nach vorne. „Diesmal ist sie zu weit gegangen. Schreiben kann sie, was sie will, aber unsere Verbindung zur Außenwelt unterbrechen, das ist komplett asozial.“

„Die Spinnerin ist gemeingefährlich!“, keifte Laura.

„Warum beschuldigst du Anna?“, fragte Jan Gregor.

„Sie will sich nach dem Streit rächen.“

„Ihr habt euch längst wieder vertragen. Den ganzen Abend –“

„Bis Jenny gestrippt hat. Da ist sie abgehauen und war wieder angefressen.“

„Das ist kein Grund, uns alle in Gefahr zu bringen.“

„So verrückt, wie sie ist, schon. Wahrscheinlich will sie uns Angst einjagen. Sie könnte uns sogar erpressen.“

„Wie das denn?“

„Sie versteckt das Satellitentelefon irgendwo im Wald, und dann stellt sie Forderungen.“

„Das ergibt keinen Sinn!“

„Jan hat recht“, mischte sich Michael ein. „Solange kein Notfall eintritt, brauchen wir das Telefon nicht. Wenn es aber wirklich kritisch wird, muss sie es einsetzen – sie wird niemanden verbluten lassen, nur weil sie sich mit euch gezankt hat. Wer das Telefon klaut, bringt sich nur selbst in Gefahr.“

Gregor biss sich auf die Lippe und grübelte. Die Wendung missfiel ihm sichtlich, er wollte Anna als Schuldige.

„Ich gehe sie suchen.“ Jan erhob sich und stand unsicher auf seinen eingeschlafenen Beinen.

Michael schnürte seine Schuhe. „Okay, und wir checken das Haus.“

Jan schlug einen Bogen nach Westen. Zu Beginn rief er alle hundert Schritte nach Anna, doch dann – in einer Senke, in der die Farne bis zu den Hüften reichten – wurde es ihm unheimlich und er ging möglichst geräuschlos weiter. Sie waren von der Außenwelt abgeschnitten und sie hatten einen Verräter in ihrer Gruppe. Vom gefälschten Tagebuch zur heutigen Sabotage war es ein weiter Schritt. Was mochte noch auf sie zukommen? Obwohl die Gefahr von innen ausging, schüchterte die Natur ihn nun ein. Er hastete durch ein verwunschenes Waldstück. Moos hatte einen Baum bis zur letzten Astspitze umschlungen und hing bärtig herunter, wie ein Schrat aus einem Fantasy-Film.

An den Geröllfeldern drehte er nach Osten ab, überquerte das Rinnsal, das weiter unten nahe dem Haus vorbeifloss, und lief wieder Richtung See. Wie sollte er sich überhaupt verhalten, falls er auf Anna stieß? War es denkbar, dass sie das Telefon bei sich trug? Musste er ihre Taschen durchsuchen und verhindern, dass sie es in den Wald warf? Natürlich hatte sie es nicht – nur rein hypothetisch. Er war verwirrt.

Als er eine birkenumstandene Lichtung durchquerte, blieb er wie angewurzelt stehen. Anna lag im Schatten und las. Ein Bild des Friedens – konnte sie sich derart verstellen? Er zögerte. Sie kratzte sich mit einer Hand zwischen den Schulterblättern, ohne vom Buch aufzublicken. Schließlich nahm er sich ein Herz und ging auf sie zu: Er würde den Vorteil der Überraschung nutzen und sie direkt nach dem Funkgerät fragen.

Sie setzte sich auf und musterte ihn abweisend. „Was willst du noch von mir? Ihr widert mich an.“

„Hast du -“

„Schämt ihr euch nicht?“

„Niemand hat Jenny gezwungen.“

„Sag mir ja nicht wieder, dass ich brav mitmachen soll!“

Das war Jan peinlich: Nachträglich sah es so aus, als hätte er sie zum Strippen überreden wollen. „Du hättest nicht mitmachen brauchen. Aber so, wie du abgezogen bist, hat die anderen geärgert, und ich musste dich wieder verteidigen.“

„Aha? Man muss sich verteidigen lassen, wenn man bei euch aussteigt? Zugegeben, Jenny wollte sich ausziehen – euer Geklatsche und Gejohle war nur ein Vorwand. Trotzdem fand ich das Ganze zum Wegrennen. Die Schlägerei danach, das war nur die Fortsetzung, der gleiche Gruppenwahn. Wie ist es dazu gekommen?“

„Laura hat die beiden angestachelt, indem sie sich selbst als Preis ausgesetzt hat.“

„Klar. Nach Jennys Strip war sie bestimmt eifersüchtig und wollte, dass sich die Jungs nach ihr die Finger lecken. Und ihr habt einfach mitgemacht! Sogar du – als Zuschauer.“

Der Vorwurf war ungerecht. Er hatte versucht, den Kampf zu verhindern. Außerdem hatte er zuvor kräftig gebechert. Oder hatte der Sog der Gruppe auch ihn mitgezogen? Nun kam es ihm vor, als hätte er entschiedener intervenieren müssen. Aber er war nicht gekommen, um über die vergangene Nacht zu debattieren. „Das Satellitentelefon ist weg.“

Keine Reaktion.

„Und das Funkgerät ist außer Betrieb.“

Ihre Augen zuckten. „Was sagst du da?“

„Wir haben keine Verbindung mehr.“

Sie dachte nach. Eine Hummel surrte über das Gras. „Irgendjemand spielt verrückt – und ich bin wieder die Verdächtige.“

Jan nickte.

„Wer hat es deiner Meinung nach getan?“

„Ich habe keinen Schimmer.“

„Bestimmt waren es Gregor und Laura. Sie sind stinkig, dass ich gestern mit den Notizen ungestraft davongekommen bin und mich dann auch noch am Abend abgesetzt habe. Jetzt würgen sie mir das rein.“

„Sie sind auf dich schlecht zu sprechen, aber ob sie so weit gehen?“

„Sie halten das für einen witzigen Streich und sagen sich, dass sie ja nicht echt mit dem Feuer spielen, weil sie zu zweit sind und selbst wenn einem etwas passiert, kann immer noch der andere das Funkgerät wundersam reparieren oder aufs Telefon stoßen.“

Ein Luftzug ließ die Birkenblätter über ihnen erzittern. Jan schaute dem Flirren zu. Würden Gregor und Laura die Gruppe derart manipulieren? „Mir fällt schwer, das zu glauben.“

„Wer sonst?“

„Du hast schon recht, am ehesten die beiden.“

„Nachweisen werden wir ihnen nichts können.“

„Vielleicht ist das gut so. Morgen liegt das Telefon auf einmal wieder in der Kommode und siehe da, das Funkgerät läuft auch wieder.“

„Und du kommst außer Atem angerannt ...“ Anna lachte und griff demonstrativ nach ihrem Buch.

Die Angelegenheit wirkte plötzlich viel harmloser. Er hatte sich in seine Sorgen hineingesteigert. Allerdings war das Telefon noch nicht aufgetaucht und die Gruppe nicht besänftigt. „Wir sollten zum Haus gehen und klarmachen, dass man andere genauso gut verdächtigen kann wie dich.“

„Ich habe keine Lust.“

„Bitte Anna. Ich halte zu dir – dafür musst du mir auch entgegenkommen.“

Erst reagierte sie nicht, dann klappte sie verdrießlich ihr Buch zu. „Wenn es sein muss.“

Jan ließ sie wieder am Waldrand zurück, um die Lage im Haus zu sondieren. Im Jungenzimmer fand er die anderen. Sie starrten auf das Funkgerät, das auf einem Bord an der Wand stand, und bemerkten ihn nicht. Gregor legte einen Schalter mehrfach um, bis Laura rief: „Hör auf, du siehst doch selbst, dass das nichts bringt!“

„Cool Baby! Ich schraub das Ding auf, vielleicht finde ich was.“

„Kennst du dich damit aus?“ Jenny schaute auf das Gerät, als wäre es ein Miniaturraumschiff.

Gregor schnaubte verärgert. „Ich hab schon mal bei einem Fahrrad die Bremse nachgestellt.“

„Wenn du dich nicht auskennst, wie willst du dann ein Funkgerät reparieren?“

„Männer haben eine Sonderausstattung, die nennt sich Technikverstand. Die funktioniert aber nur, wenn ihnen die Frauen mal nicht dazwischenquasseln.“

„Ich bin schon still“, flüsterte Jenny, setzte sich auf eines der Betten und entdeckte Jan. „Hei, hallo – du hast Anna nicht gefunden?“

„Sie kommt gleich.“

„Er will uns erst für sie ausspionieren“, sagte Gregor. „Also, wir haben bis eben das Haus durchsucht und nichts gefunden. Was sagt Anna?“

„Das wird sie euch selbst sagen.“ Er holte sie und warnte sie vor, dass die Stimmung angespannt sei und sie sich auf keinen Streit einlassen solle.

Kaum waren sie gemeinsam ins Jungenzimmer getreten, wo Gregor immer noch vor dem Funkgeräte kniete, fuhr Laura Anna an: „Du bist ja so was von verpeilt! So was gibt’s gar nicht! Wo ist das Telefon?“

„Ich hab es nicht.“

„Klar hast du es! Du bist heute Morgen damit abgezogen.“

„Spinnst du?“

„Warum bist du dann so früh aus dem Haus?“

„Ich bin eben früher ins Bett als ihr. Und ich muss für Paris trainieren.“

„Natürlich“, höhnte Laura, „der aufsteigende Stern am Balletthimmel.“

Anna lächelte kalt. „Es gibt nun mal Sterne und Planeten.“

„Was soll das denn heißen?“

„Sterne leuchten aus eigener Kraft, Planeten sind nicht so hell.“

„Willst du damit sagen, dass ich nicht so hell bin?“

Anna ließ die Frage im Raum stehen.

„Wärst du so liebenswürdig, mir meinen Slip zu signieren?“, keifte Laura. „Bevorzugt hinten.“

Jetzt verlor auch Anna die Fassung. „Ich kann dir auf deinen fetten Arsch löten, was für ein dummes Biest du bist!“

„Du Pennerin!“ Lauras Adern traten hervor. „Hau ab! Verzieh dich!“

Anna stürmte davon.

„Wir brauchen dich nicht!“, schrie Laura ihr nach. „Deine Gemeinheiten und deine miese Stimmung –“ Sie machte eine abfällige Handbewegung zur Tür, die hinter Anna zugefallen war. „Von mir aus kann sie bei den Wölfen hausen, da passt sie hin.“

Gregor grinste, Jenny schaute beklommen. Jan fühlte sich von den Ereignissen überrannt. Er wünschte sich eine Auszeit, um den Kopf freizubekommen und alles sacken zu lassen, doch er musste auf der Stelle eine Entscheidung treffen. Es schien ihm klüger, zu bleiben und mäßigend auf die Gruppe einzuwirken, als schon wieder Anna hinterherzulaufen.

„Du wolltest sie mitnehmen.“ Laura baute sich vor Michael auf, der auf seinem Bett saß. „War doch klar, dass sie durchgeknallt ist. Wie sie uns in der Schule gemieden und verachtet hat. Jetzt kannst du dir das vier Wochen rund um die Uhr geben. Und nebenbei killt sie unsere Verbindung zur realen Welt außerhalb dieses Scheißtals. Ohne Facebook halte ich’s aus, aber so altmodische Einrichtungen wie ein Krankenhaus, da steh ich voll drauf, dass ich die im Notfall anrufen kann.“

„Ich hatte gehofft, sie würde auftauen.“

„So eisig, wie die ist, wird es hier nicht mal im Winter.“

Michael nickte und schien durch Laura hindurchzusehen.

„Nur weil sie eine Ballett-Schlampe ist“, Gregor lachte schon im Voraus über seinen Witz, „darf sie uns nicht auf der Nase rumtanzen.“

„Am liebsten würde ich sie auf Wasser und Brot setzen“, giftete Laura. „Tänzerinnen müssen doch schlank sein.“

„Laura ...“ Jan suchte nach den richtigen Worten. Anna hätte sie nicht als Fettarsch bezeichnen dürfen.

„Wir müssen ihr zeigen, dass es so nicht geht.“ Auch Gregor redete sich in Rage. „Sonst fackelt sie uns die Bude ab und behauptet, sie sei es nicht gewesen, sondern ein pyromanischer Elch.“

Michael blickte gedankenverloren aus dem Fenster. Laura schüttelte ihn am Arm. „Bist du überhaupt hier, oder trauerst du dieser Psychopathin hinterher?“

„Was?“

„Hör zu! Mir ist es scheißegal, was du von dieser Spinnerin willst. Von mir aus kannst du die ganze Nacht davon träumen, wie du sie bumst. Aber du darfst ihr deswegen nicht alles durchgehen lassen.“

„Okay“, sagte Michael gereizt. Laura täuschte sich, dessen war sich Jan sicher. Michael hing weder sentimentalen noch erotischen Gedanken nach. Er schien intensiv nachzudenken, hin und her gerissen zu sein, etwas auszufechten.

„Huhu!“ Laura winkte vor seinem Gesicht. „Wir müssen jetzt entscheiden, was wir mit ihr tun. Sie hasst die Gruppe. Von Anfang an hat sie versucht, uns zu spalten. Jan ist sozusagen ihr Leibeigener, und dir hat sie auch den Kopf verdreht. Mir ist nicht entgangen, wie du sie anglotzt und dich ins Zeug legst, wenn sie in der Nähe ist. Sie will die Gruppe kaputtmachen, weil sie sich selbst nicht einfügen kann. Denkt an gestern. Habt ihr euch schon einmal so von einer Stimmung davontragen lassen? Was Jenny getan hat, das war nicht nur für die Jungs, die ganze Nacht war von da an magisch. Wir alle tragen zur Gruppe bei, nur nicht Anna. Sie muss sich fügen, dann entscheiden wir, was sie tun muss, um wieder aufgenommen zu werden.“ Laura setzte sich dicht neben Michael. „Du hast uns doch beschworen, dass wir zu einer Gemeinschaft zusammenwachsen sollen.“

Michael stand auf und stellte sich ans Fenster, den Rücken zur Gruppe. Jan gefiel die Symbolik: Sein Freund suchte den Weitblick und distanzierte sich von Lauras Hetzerei.

„Du wirfst drei Dinge durcheinander“, sagte Michael mit seiner sonoren, überlegten Stimme, „deine Beziehung zu Anna, unseren Spaß als Gruppe und unsere Sicherheit. Im Moment geht es nur um unsere Sicherheit.“

Jan atmete erleichtert auf. Michael fand endlich in seine vertraute Rolle als Streitschlichter und setzte sich für Anna ein, die er zu lieben behauptete. Umso entsetzter war Jan, als Michael fortfuhr: „Einiges spricht dafür, dass Anna das Telefon gestohlen hat. Wir müssen daher Druck auf sie ausüben, damit sie es wieder hergibt. Wenn wir allerdings Druck ausüben, müssen wir damit rechnen, dass sie sich entzieht. Im Extremfall versteckt sie sich in der Wildnis, wo ihr etwas zustoßen könnte und wo wir auch nicht an sie rankommen, wenn wir für einen von uns die Rettung rufen müssen. Das müssen wir verhindern.“ Er drehte sich um und blickte konzentriert in die Runde. So kannte Jan ihn, wenn er unbedingte Zustimmung gewinnen wollte. „Wir haben keine Wahl: Wir müssen sie einsperren, wenn sie das Telefon nicht hergibt oder ihre Unschuld nicht beweist. Zu unserem Schutz wie zu ihrem.“

„Das könnt ihr nicht machen!“ Endlich fand Jan seine Stimme wieder. „Wir wissen nicht, wer es war.“

„Wir haben eine starke Vermutung.“

„Ihr könnt sie nicht leiden, das ist alles.“

„Ich kann sie leiden“, Michael lächelte dünn, „aber ich lasse davon mein Urteil nicht trüben. Es tut mir leid, Jan, ich tue das auch nicht gerne. Denk noch einmal darüber nach. Sie war heute Morgen als Erste auf. Als ich zum See bin, stand ihre Tür schon offen. Sie hatte also die Möglichkeit, unbeobachtet mit dem Telefon wegzugehen. Zweitens hat sie am ehesten ein Motiv. Sie ist sauer auf die Gruppe. Drittens hat sie gestern gelogen. Die Schrift stammt eindeutig von ihr. Wir können ihr also nicht vertrauen. Und viertens kennen wir sie von allen am wenigsten. Vier von uns sind von Anfang an aufs gleiche Gymi gegangen, und mit Gregor haben Laura und ich im letzten Jahr einiges zu tun gehabt. Wir wissen, dass wir alle halbwegs vernünftig ticken. Aber sie?“

„Sie hat geschrieben, dass sie mich eine Felswand herunterstoßen möchte“, rief Laura. „Ihr ist das mit dem Funkgerät absolut zuzutrauen, und solange sie frei herumläuft, fühle ich mich nicht sicher!“

Etwas in Jan rebellierte gegen diese Logik. „Trotzdem können wir sie nicht einfach einsperren. Das ist Freiheitsberaubung, so was ist strafbar.“

„Es gibt bestimmt einen Paragraphen, der so etwas unter besonderen Umständen erlaubt. Selbst wenn wir uns irren, ist das eine verantwortbare Vorsichtsmaßnahme.“

Jan blickte zu Boden und suchte nach dem Geistesblitz, der Michaels Argumentation zerschlagen würde.

„Stell dir vor“, sagte Michael eindringlich, „du stolperst und brichst dir die Hand. Willst du dann drei Wochen damit rumsitzen?“

Natürlich wollte Jan das nicht. Dennoch widerstrebte es ihm, wie diese Urteilsfindung in Abwesenheit der Angeklagten lief: zu schnell, zu eindeutig auf den Schuldspruch hin. Aber was konnte er Lauras und Gregors Wut und Michaels Argumenten entgegenhalten?

Er machte einen Schritt in Richtung Tür. „Ich muss mit Anna reden!“

„Halt!“ Gregor verstellte ihm den Weg. „Du wirst sie nicht warnen.“

„Fass mich nicht an!“

„Bitte sei vernünftig, Jan“, sagte Michael von hinten. „Du darfst sie nicht warnen.“

Jan drehte sich zu Michael um. „Bin ich jetzt auch euer Gefangener?“

„Jan!“ Michael blickte verletzt. „Was soll der Unsinn? Das war nur eine Bitte. Gregor, lass ihn gehen!“

Jan stürmte aus dem Zimmer, berauscht von dem Mut, mit dem er sich gegen die Gruppe gestellt hatte. Er brauchte die anderen nicht! Er ließ sich nicht verbiegen! Und Anna würde es ihm danken.

Auf der Veranda blieb er stehen. Unten funkelte der See in der Mittagssonne. Dort sollten sie jetzt sein, schwimmen und scherzen und das Kanu ausprobieren. Stattdessen stritten sie sich und wollten eine aus ihren Reihen einsperren.

Er setzte sich auf das Bänkchen neben der Tür – die Liegestühle waren ihm zu bequem, unpassend angesichts der quälenden Gedanken. Vielleicht war Anna wirklich verrückt und er merkte es nicht, weil er sich in sie verguckt hatte. War es nicht leichtsinnig, sich ihretwegen auszugrenzen? Falls er sich als Annas Verbündeter outete, könnte auch er den Rest des Urlaubs in einem Zimmer verbringen müssen, in dessen Tür der Schlüssel von außen steckte. Nein, das war zu weit hergeholt. Aber woher konnte er in diesem Durcheinander wissen, was realistisch war und was nicht? Wenn er Anna warnte: War ihr nicht zuzutrauen, dass sie in den entferntesten Winkel des Tales fliehen würde? Allein in der Wildnis, ohne Ausrüstung und Erfahrung – das wäre suizidär. Das Vernünftigste war dafür zu sorgen, dass es zu einer ruhigen Aussprache kam.

Aber dabei musste Anna mitspielen. Ärger stieg in ihm auf. Wieso beherrschte sich Anna nicht einmal in dieser Ausnahmesituation und nahm Lauras Attacken hin? Wäre sie nicht wieder davongerannt, würden sie jetzt alle gemeinsam analysieren, was geschehen und was zu tun war.

Michael kam aus dem Haus, setzte sich zu Jan auf das Bänkchen und murmelte: „Wirklich unschön.“

„Falls ich vorhin den Eindruck erweckt habe, dass ich denke, dass du Anna gerne einsperrst -“

„Natürlich hast du das nicht.“

„Ich habe nur kein gutes Gefühl bei dem Ganzen. Warum verdächtigen wir sie? Ihr Ärger auf die Gruppe ist doch kein plausibles Motiv, die Außenverbindung zu unterbrechen. Laura und Gregor sind mindestens so verdächtig. Die können sich gedacht haben, dass sie damit Anna treffen.“

„Die beiden haben andere Methoden, Anna zu ärgern. Keiner hat einen vernünftigen Grund – was so viel heißt wie: Irgendjemand muss gesponnen haben.“ Er betastete seinen blauen Fleck unterm Auge. „Deswegen ist der entscheidende Anhaltspunkt die Glaubwürdigkeit eines jeden Einzelnen. Anna hat gestern wohl gelogen, als sie behauptete, den letzten Satz in ihren Notizen nicht selbst geschrieben zu haben. Also ist sie verdächtig.“

„Wir wissen das nicht genau.“

„Hundertprozentige Sicherheit kriegen wir nicht. Und du musst zustimmen, dass Anna seltsam ist. Nicht ganz normal.“

„Das hält dich nicht davon ab -“

„Das ist eine andere Sache.“

Jan überlegte, welche Einwände er noch vorbringen könnte. Er wollte mit Michael keine Diskussion über Annas Eigenarten führen, also konzentrierte er sich aufs Praktische. „Wie hätte sie denn das Funkgerät im Jungenzimmer sabotieren sollen? Einer von uns wäre aufgewacht, wenn sie sich nachts reingeschlichen hätte. Aber Gregor war allein im Haus, als wir alle am See saßen.“

„Sie hatte alle Zeit der Welt, als sie gestern vom Striptease weggegangen ist.“

Jan stützte sich mit den Ellbogen auf die Knie und dachte nach. „Okay, sie ist verdächtig, aber das reicht nicht, um sie einzusperren.“

„Wir werden erst mit ihr sprechen und danach entscheiden wir in Ruhe über alles Weitere.“

„Mmh.“

Michael legte ihm eine Hand auf die Schulter, nickte ihm zu und ging wieder ins Haus. Jan blieb sitzen und schloss die Augen. Er fürchtete sich davor, dass Anna den Diebstahl gestehen würde – und damit auch, dass sie ihn belogen hatte. Er hatte sein Mögliches getan, um Annas Konflikte mit der Gruppe zu schlichten. Das hatte Anna und ihn verbunden: Er war der Einzige, der ihren Worten glaubte und ihre Interessen vertrat. Nun könnte er damit konfrontiert werden, dass sie ihn ausgenützt hatte. Er durfte ihretwegen seine Beziehung zu den anderen nicht zu sehr gefährden.

Er stand auf und ging in den Salon. Die anderen saßen um den Esstisch und debattierten. Gregor bot an, dass alle zum See gehen könnten, er würde im Haus versteckt zurückbleiben, um Anna festzuhalten, sollte sie aufkreuzen. Das missfiel Jan. Allerdings musste er zugeben, dass Gregor dafür am besten geeignet war, und er wollte sich nicht gleich wieder querstellen. Also stimmte er zu.

Zu viert holten sie das Kanu aus dem Schuppen und trugen es den schmalen Pfad hinunter, versuchten es mit verschiedenen Tragetechniken, setzten ab, hoben erneut an, blieben an Ästen hängen – und lachten. Dazwischen wurde Jan immer wieder ernst, doch es war schwer, der kollektiven Heiterkeit zu widerstehen, mit der sie die Anspannung der letzten Stunden abschüttelten.

Am See angelangt schwammen sie, bis sie Gänsehaut bekamen. Dann reinigten sie das Dreier-Kanu und gingen auf Fahrt. Jenny saß im Fußraum zwischen Laura am Bug und Jan, Michael steuerte am Heck. Sie paddelten das westliche Ufer entlang. Jan genoss das gleichmäßige Klatschen beim Einstechen, das kräftige Ziehen mit der einen und Drücken mit der anderen Hand und dann das glitzernde Tropfen, wenn er das Paddel durch die Luft führte. Manchmal kriegte Jenny einen Spritzer ab und nahm wohldosiert Rache. Solange sie aber nach vorne schaute, konnte er sie nach Lust und Laune beobachten, und er freute sich, wenn ihr seidiges Haar über seine Knie streifte. Natürlich dachte er auch an Anna – aber das bedeutete Ärger und Angst. Es war leichter, im Hier zu sein.

Sie gelangten an die Klippen, die mehrere Hundert Meter senkrecht emporwuchsen. Nur an wenigen Stellen erweckte ein Vorsprung den Eindruck, dass man daran aus dem Wasser klettern und eine Sitzgelegenheit finden könnte. Bei einem Sturm könnte man hier in die Bredouille geraten, dachte Jan und blickte an den Wänden hinauf zum makellos blauen Himmel. Ein Seeadler kreiste in der Nähe.

Auf dem Rückweg wollte Jenny paddeln und Laura überließ ihr den Platz in einer kippeligen Aktion. Jenny legte sich ins Zeug und Jan rechnete damit, dass sie sich bald austauschen lassen würde. Erstaunlicherweise hielt sie durch, bis sie an ihrer Badestelle einliefen. Schon bei der Wanderung ins Bärental hatte ihn ihre Ausdauer überrascht.

Von der Anstrengung erhitzt, tollten sie im See. Laura ließ sich von Michael im flachen Wasser auf die Schultern heben und forderte Jan und Jenny zum Turnier heraus. Michael war größer und Laura kräftiger, doch Jenny erkämpfte zäh und flink ein Unentschieden.

Wieder an Land ließ sich Jenny von Jan Sonnencreme auf den Rücken auftragen. Seine Finger glitten über ihre Haut und unter den Träger ihres Bikinis, und er dachte an ihre entblößte Silhouette hinter dem Seidenschal. Als er sich an die Scheu erinnerte, mit der er die ‚Prinzessin aus der Verbotenen Stadt‘ früher beäugt hatte, lächelte er. Die Mauern waren gefallen.

Anschließend gab sie ihm eine Massage. Während ihre Finger tief in seine Muskeln drangen, überlegte er, wie es wäre, mit Jenny zusammen zu sein. Sie war nicht so kompliziert wie Anna und behandelte ihn nicht von oben herab. Im Gegenteil, mit ihr fühlte er sich selbstsicher und männlich. Und natürlich reizte ihn ihre Unberührtheit. Er wollte das Geheimnis der Liebe mit einer Frau entdecken, die sich ebenso atemlos dem überwältigend Unbekannten anvertrauen musste wie er. Jenny strich ihm zart über den Rücken, beendete die Massage und legte sich auf ihr Handtuch neben seinem. Jan kreiste seine Schultern, brummte zufrieden und lachte über die Gedankenspielerei, der er sich unter ihren Händen hingegeben hatte.

Nachdem sie eine Weile gedöst hatten, liefen sie zum Haus zurück. Das Kanu ließen sie in sicherer Entfernung vom Wasser liegen. Jan überkam Unruhe. Wie mochte Gregor mit Anna verfahren sein, falls sie sich ins Haus gewagt hatte? Doch Gregor war allein – und missmutig, dass er sich zur Hausbewachung gemeldet und gelangweilt hatte, wohingegen die anderen so fröhlich vom Ausflug erzählten.

Sie beratschlagten. Eigentlich konnten sie warten, bis der Hunger Anna heimtrieb – oder spätestens die Nacht. Allerdings zeigten sie sich ungeduldig, den Diebstahl zu klären. Und Jan glaubte, eine Art Sensationslust zu erkennen: Sie wollten den Ausgang der Konfrontation erleben, der in einer Verhaftung gipfeln könnte. Die Gruppe bedrängte ihn, erneut eine Runde ums Haus zu laufen und Anna hineinzulocken, falls er sie träfe. Er ließ sich zu der Runde breitschlagen, ohne recht zu wissen, wie er sich verhalten würde.

Die Entscheidung blieb ihm erspart – von Anna keine Spur. Er kehrte ins Haus zurück, hungrig und ein wenig enttäuscht, dass sie sich nicht gezeigt hatte. Sie sah in ihm keinen Partner, sondern einen Handlanger. Sie wusste, dass er sich für sie einsetzte und sich Schwierigkeiten mit der Gruppe einhandelte, und trotzdem ließ sie ihn hängen.

Der Tisch war stilvoll gedeckt. Auf den Tellern standen gefaltete Servietten, darum herum drapiert lagen je zwei Messer und Gabeln und ein kleiner Löffel. Obwohl es noch hell war, brannten Kerzen.

Die Gespräche wurden immer ausgelassener und alle lobten Michael, dessen Idee es gewesen war, dem ganzen Ärger diesen festlichen Abend entgegenzusetzen. Sie sprachen von den leckeren Braten, die sich in den kommenden Tagen von ihrer Jagdbeute zubereiten würden. Laura frotzelte, ob die Herren denn wüssten, dass Tiere keine Schnitzel auf vier Beinen seien. Gregor erklärte, er habe schon zugesehen, wie erlegtes Wild ausgenommen wurde, und Jenny erklärte sich für die Weiterverarbeitung ab der Küchenschwelle verantwortlich.

Nach dem Essen zogen sie zum Kamin um. Michael setzte sich mit dem Rücken zum Feuer auf ein Kissen und holte ein Blatt aus seiner Hosentasche. Er faltete es auf, las es für sich mit dem gleichen Ausdruck der Kennerschaft, mit der er zuvor den Whiskey goutiert hatte, und kündigte ein selbstverfasstes Gedicht an.

Jans Herz schlug schneller. Seit Monaten hatte Michael nichts mehr geschrieben. Doch die Freude verflog mit dem Titel. Das war sein Gedicht! Er hatte es noch zu Hause, voller Erwartung und Ungeduld verfasst. Es hatte Michael so gut gefallen, dass er sich eine Kopie gewünscht hatte. Und die hielt er nun in den Händen. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gegeben, sie abzuschreiben.

Jennys Worte rissen Jan aus seinen erzürnten Gedanken. „Das ist großartig! Du bist ein Poet.“

„Das ist wirklich dein Gedicht?“, fragte Laura. „Das hast du nicht irgendwo geklaut?“

„Geklaut schon“, gab Michael amüsiert zu. „Bloß nicht irgendwo.“

„Du alter Schummler!“, rief Laura. „Du hast mich fast drangekriegt.“

Michael machte eine Verneigung, so gut er das im Sitzen vermochte. „Meine Damen und Herren, darf ich den Dichter vorstellen ...“ Er wies auf Jan.

Es war unglaublich! In der Schule hätten sie ihn dafür gehänselt. Schon vor Jahren hatte er aufgehört, seine Texte in den Deutschunterricht mitzubringen. Und nun konnten seine ehemaligen Mitschüler ihrer Bewunderung gar nicht Ausdruck genug verleihen. Selbst Gregor meinte, das Gedicht sei nicht übel, mit einem schlechten Comic könne es mithalten. Laura versprach Jan eine goldene Zukunft und verabredete sich mit ihm für ein exklusives TV-Interview mit ihr als Moderatorin. Und Jenny erbat mit schmachtenden Blicken, dass er ihr sein nächstes Werk widmen möge. Jan fragte sich, womit er es verdient hatte, dass Michael ihn so in Szene setzte.

Das Gespräch wanderte weiter, sie sprachen von wilden Tieren, vom starren Blick der Schlangen und schließlich vom Hypnotiseur, den sie für ihren Abi-Scherz hatten einladen wollen, was aber aufgrund irgendwelcher rechtlicher Bedenken nicht zugelassen worden war.

„Ich würde mich gerne einmal hypnotisieren lassen“, sagte Jenny. „Wie sich das wohl anfühlt?“

„Schau mir in die Augen, Kleine“, sagte Michael mit dumpfer Stimme.

„Du kannst hypnotisieren?“

„Ich bin Dr. Lemming, niemand kann mir widerstehen.“ Michael fixierte sie. „Setz dich“, er unterbrach sich und nahm wieder die Stimme des Hypnotiseurs an. „Setz dich in diesen Sessel.“

Jenny tat wie geheißen, Michael stellte sich vor sie. Die anderen folgten ihnen und ließen sich nieder.

„Schließ die Augen und entspanne dich. Spüre deine Müdigkeit. Spüre die Müdigkeit überall in deinem Körper. Bleib bei meiner Stimme, während deine Beine schwer werden ... deine Arme schwer werden ... dein Kopf schwer wird.“ Michael ließ einen verschwörerisch-amüsierten Blick durch die Runde huschen. „Öffne langsam deine Augen und schaue auf meinen Finger. Folge meinem Finger, von links nach rechts, nach links, nach rechts.“ Nun ganz in seiner Rolle leierte er diese monotone Anweisung während einer Minute.

„Hebe den rechten Arm.“

Jenny hob den rechten Arm.

„Steh auf und stell dich auf dein linkes Bein.“

Sie tat wie geheißen.

„Du musst doch gleich lachen“, rief Laura dazwischen. Sogleich zuckten Jennys Mundwinkel.

Michael grinste verlegen. „Ich bin eben kein Hypnotiseur.“

„Doch!“, rief Jenny. „Ich habe etwas gespürt. Es war nicht irrsinnig stark, ich habe mich nicht total darin verloren, aber etwas ist immer noch da, so ein entrücktes Gefühl, als wenn ich nur halb in meinem Körper stecken würde.“ Sie ließ sich auf den Sessel zurücksinken und schloss die Augen.

„Ich kann auch ein bisschen zaubern“, prahlte Gregor. „Brustvergrößerung durch Handauflegen. Kostet dich nur einen Euro. Wenn‘s nicht klappt, kriegst du das Geld zurück.“

Laura lächelte spöttisch. „Leg lieber mehr Holz ins Feuer, du Dummschwätzer!“

„Das reicht. Es ist noch nicht mal dunkel.“

„Ich will es schön warm hier drinnen haben.“

Gregor lehnte weitere Scheite an die brennenden und heizte nach und nach den großen Raum so auf, dass sie mit T-Shirts behaglich im weiten Halbkreis um das Feuer saßen. Sie unterhielten sich bei einer Flasche Rum und würfelten mehrere Runden.

Mittlerweile dunkelte es draußen. Jan blickte zum Fenster und fragte sich, wohin es Anna verschlagen haben mochte. Vielleicht hätte er die Dämmerung nutzen sollen, um noch einmal nach ihr zu schauen. Aber wenn sie nicht ins Haus kommen wollte, konnte er sie nicht zwingen. Es stand ihr jederzeit frei, hereinzuspazieren. Wahrscheinlich wartete sie nur darauf, dass alle ins Bett gingen, um ungestört in ihr Zimmer zu gelangen.

Er würde sich nicht den Abend verderben lassen. Sein Leben lang hatte er nie so zu einer Gruppe gehört: Jenny machte ihm schöne Augen und Laura und Gregor behandelten ihn mit Respekt. Das war zu gut, um es leichtsinnig zu verschenken – und zu wichtig. Immerhin würde er die nächsten dreieinhalb Wochen rund um die Uhr mit ihnen verbringen. Für diese Zeit waren sie einander mehr als eine Familie, und heute Abend konnte er seinen Platz unter ihnen neu bestimmen.

Laura erhob sich und reichte Michael die Gitarre. „Wie wäre es mit einem Solo?“

Sie lauschte der Improvisation, wiegte sich zur Musik und begann schließlich vor dem Kamin einen langsamen Tanz. Ihr lasziver Blick verweilte bei jedem der Jungs, dann machte sie einen Schritt auf Jenny zu, nahm sie bei der Hand und zog sie zu sich ans Feuer.

Sie tanzten. Laura im hellblauen Shirt, das sich eng um ihre Brust spannte, Jenny mit rosa Bluse, die Haare hochgesteckt. Ihre Arme zogen lange Schatten durch den Salon.

Die Wellen des Gitarrenspiels schlugen höher, die Schatten flogen schneller. Jan fühlte sich wie in Trance. Die Musik verlangsamte, jede Note sprang für sich geheimnisvoll, verführerisch in die Nacht. Lauras Arme sanken nieder und legten sich von hinten um Jennys Taille.

Jenny schloss die Augen. Als Laura begann, die Bluse aufzuknöpfen, zuckte sie zusammen und hielt Lauras Finger fest. Doch Laura entwand ihre Hände und begann von neuem. Diesmal ließ Jenny es geschehen. Laura gelangte beim letzten Knopf an und zog die Bluse langsam auseinander, über die Schultern, über die Arme nach hinten, so dass Jenny, die Augen immer noch geschlossen, wie gefesselt vor ihnen stand. Ihr Brustkorb hob und senkte sich. Rüschen zierten die Ränder ihres weißen BHs.

Laura ließ die Bluse zu Boden fallen und stellte sich vor Jenny, nahm deren zierliche Hände, legte sie auf ihren Bauch und strich sich damit über den Körper nach oben. Erst beim zweiten Mal begriff Jenny und hielt das Shirt fest, hob es über Lauras Brüste, streckte sich, um es ihr über Kopf und Arme zu ziehen.

Sie ließen sich vom synkopischen Rhythmus und seinen Tempiwechseln beherrschen. Dann warf das Gitarrenspiel alle Zurückhaltung ab und stürzte sich in einen rasenden Lauf. Laura drehte auf der Stelle, wirbelte um die eigene Achse, wirbelte immer schneller, und plötzlich erkannte Jan, dass ihre Brüste nackt dahinflogen.

Er hielt den Atem an, während Laura verlangsamte und sich den Jungs darbot. Ihre großen, roten Nippel streckten sich ihnen entgegen.

„Vernachlässigt eure Girls nicht! Einen Drink!“ Sie verschränkte die Arme.

Keiner rührte sich.

„Ihr bekommt erst wieder etwas zu sehen, wenn ihr uns Cocktails serviert habt.“

„Geh du“, sagte Gregor. Jan eilte in die Küche, schüttete Gin, Rum, Wodka und Zitronensaft in zwei hohe Gläser, probierte und verzog das Gesicht. Mit zwei hastig gepressten Orangen und einigen Löffeln Zucker war es genießbar.

Laura lehnte an der Seite des Kamins, den Rücken gegen den Stein. Sie öffnete die Arme, als Jan ihr entgegentrat und griff nach dem Glas. Die kalte Flüssigkeit schwappte ihm auf die Hand und er löste betreten seinen Blick von ihren Brüsten. „Entschuldigung“, stammelte er.

Sie sog am Strohhalm. „Junge, Junge, der ist stark.“

Jenny sah ihm von der anderen Kaminseite begierig in die Augen. Sie wollte sich an seiner Lust berauschen, dachte Jan und wusste nicht, ob er sich auf sie stürzen oder davonrennen wollte. Auch sie nahm ihren Cocktail in Empfang.

„Du hättest die Dinger nicht so groß machen sollen“, schimpfte Gregor. „So eine lange Pause halte ich nicht durch.“

„Im Gegenteil“, widersprach ihm Michael. „Was meinst du, was die beiden danach abziehen.“

Sie schauten zu, wie der orangefarbene Spiegel in den Gläsern sank. „Nicht zu gierig, Mädels!“, rief Gregor. „Ihr müsst noch stehen können.“

Laura und Jenny hatten sich einander zugewandt und schlürften im gleichen Moment die letzten Tropfen. Sie stießen an und zwinkerten sich zu. Laura warf ihr Glas zur Couch, wo Gregor es auffing. Jennys Glas zersplitterte vor Michaels Füßen.

Laura lachte. „Los Jungs, zieht die Schuhe aus. So sind wir vor Grabschern geschützt.“ Sie beförderte die Schuhe mit Tritten außer Reichweite. Ihre Brüste hüpften und Jan musste nervös lachen.

Laura schritt würdevoll zum Kamin, machte einen Knicks und kündigte an: „Der zweite Akt.“

Michael griff in die Saiten und die Mädchen tanzten erneut, ungenauer, ungehemmter. Bald zog sich Laura neben den Kamin zurück. Jenny hielt inne, schaute zu ihr, zu den Jungs. Die Gitarre spielte die immergleiche Tonfolge, als wäre die Zeit stehen geblieben.

Schließlich atmete Jenny tief ein, sie schien zu wachsen, ihr Blick wurde kühler. Mit einem Ruck drehte sie sich zum Feuer. Die Musik löste sich aus ihrer Erstarrung. Jenny floss mit, oder folgte die Gitarre den Bewegungen ihres Beckens, ihrer Schulterblätter, ihres zerbrechlichen Nackens?

Ihre Hände glitten ihren Rücken hinauf, schoben die silbernen Häkchen des BHs zusammen, streiften ihn ab und ließen ihn auf die Scherben fallen. Sie tanzte. Jan setzte einen Fuß auf den Boden und drückte seinen großen Zeh gegen eine scharfe Kante. Der Schmerz half. Für einen Moment konnte er wieder atmen und denken. Sie waren in Alaska –

Jenny wandte sich zu ihnen. Ihre Hände verbargen ihre Brüste. Wie Schalen um Früchte, wie Blätter um Blüten. Die Musik hatte ausgesetzt, nur das Knacken des Feuers war vernehmbar. Millimeter um Millimeter sanken die Schalen herab und legten die Frucht offen. Die Finger glitten über ihre dunklen, hoch aufgerichteten Nippel und verschwanden aus Jans Blick.

Glas knirschte. Laura trat neben Jenny. „Ich glaube, ihr seid scharf genug.“

„Macht weiter!“, forderte Gregor.

„Bitte hört nicht auf“, stöhnte Michael.

Laura schaute zu Jenny. Die nickte kaum wahrnehmbar. Schon fasste Laura sie an den Hüften und bewegte sich im Einklang mit ihr. Die Jeans berührten sich, die Oberkörper hielten sie zurückgebogen.

Der Abstand verringerte sich. Laura beugte sich vor und streifte Jenny. Hinter ihnen sprangen Funken auf. Jan hatte das Gefühl zu explodieren. Laura sank tiefer und ließ ihre Nippel um Jennys spielen. Jan merkte, wie Jenny sich versteifte. Laura zog sie lachend mit sich, weg vom Feuer, in eine dunkle Ecke. In Steppdecken gehüllt kamen sie wieder. Jennys Gesicht glühte und sie hielt sich an Laura fest. Der Cocktail war tatsächlich zu stark gewesen.

„Gregor?“ Laura biss sich auf die Unterlippe. „Oder Michael?“ Sie legte den Kopf schief. „Oder ...“, sie kicherte „Jan?“ Ein theatralisches Kopfschütteln. „Das kann ich euch nicht antun. Ich gehe jetzt hoch in mein Zimmer. Jeder, der Lust hat, kann dazustoßen. In drei Minuten schließe ich ab.“

Sie stieg die Treppe hinauf. Gregor beugte sich über die Rücklehne der Couch und angelte nach den Schuhen. Er erwischte einen, der ihm nicht passte, und warf ihn zurück. Den zweiten zog er an und hüpfte auf einem Bein über die Scherben.

Michael blickte zum Fenster, seine Lippen bewegten sich. Er schien lautlos zu sich selbst zu sprechen. Dann packte er ein Kissen und wedelte damit über den Boden, während er Gregor zur Treppe folgte.

Jan war allein mit Jenny, die sich auf einen Sessel neben ihm hatte fallen lassen. „Mir ist schwindlig. Bringst du mich hoch?“ Sie lächelte verwegen. „Ach so, die Schuhe.“

Sie stand auf und brachte ihm Michaels Sneaker. Jan passte bequem hinein. Er reichte Jenny den Arm und begleitete sie in das leere Zimmer der Jungs. Die Decke glitt von ihren Schultern, sie umarmte ihn und ließ sich auf das Bett sinken, in dem sie bereits die vorangegangene Nacht geschlafen hatte.

Sie lagen auf der Seite, aneinander geschmiegt und streichelten sich. Jan brannte vor Verlangen und Stolz. Was kümmerte es ihn, ob sie sich liebten, den anderen war das auch egal. Er fühlte sich unbesiegbar. Sollten Gregor und Michael mit ihrer vulgären Laura tun, was sie wollten, Jenny war unendlich viel schöner und reiner, eine Knospe, die sich nur für ihn geöffnet hatte.

Jennys Bewegungen wurden langsamer, ihr fester Körper weicher. Sie sank halb auf den Rücken und murmelte etwas, die Augen waren ihr zugefallen. Jan fuhr mit seinen Fingern über ihren Hals, ihr Schlüsselbein, die kleinen Senken darüber und darunter, durch das Tal zwischen ihren Brüsten, die Welle ihres Busens hinauf – und zog seine Hände zurück. Sie schlief.

Ohne seinen Blick von ihr zu wenden, zog er ihre Jeans aus, legte auch seine Kleidung bis auf die Boxershorts ab, kuschelte sich an sie und hüllte sie beide in die Bettdecke ein. Lange lag er in der Wärme ihres Körpers, zunächst erregt, dann ruhelos, schließlich zärtlich, ehe er einschlummerte. Draußen heulten die Wölfe.