9. Tag

Gregors Stöhnen weckte Jan. Irgendwie hatte er sich im Schlaf auf der Isomatte ausgestreckt und die Decke über sich gezogen. Das Gewehr lag neben seinen Füßen. Gregor hätte es sich in der Nacht nehmen können, dachte Jan seltsam unbeteiligt. Am liebsten hätte er die Augen geschlossen und weitergeschlafen, bis alles wieder gut sein würde.

Er setzte sich auf, stieg in die klammen Wanderschuhe und schaute nach Gregor. Der lag auf dem Rücken, die Beine leicht angewinkelt, die Decke bis zur Nase hinaufgezogen. Ein Schweißfilm glänzte auf seiner gefurchten Stirn.

Jan ging in die Knie. „Wie fühlst du dich?“

Gregor starrte ihn mit blutunterlaufenen Augen an. „Lass mich!“

„Ich tue dir nichts. Und ich wusste nicht, was Anna tun würde.“

„Hau ab!“

„Willst du etwas trinken?“

„Ich bin am Arsch. Sie hat mich kaputtgemacht! Ich kann mich nur noch umbringen.“

„Im Haus haben wir Desinfektionsmittel und antibiotische Salbe. Und danach – die Ärzte kriegen das wieder hin.“

Tränen füllten Gregors Augen. „Mir wird mein Schwanz abfaulen. Wenn mich das nicht schon im Tal umbringt, schneiden sie ihn ab. Mein Leben ist nur noch ein Stück Scheiße.“

Jan redete gegen diese Hoffnungslosigkeit an. Nachdem er die Verletzungen in Augenschein genommen hatte, fehlte ihm dazu der Mut. Es sah scheußlich aus. Die Einstiche hatten sich geschlossen, doch darum herum hatten sich rote Höfe gebildet. An den verbrannten Stellen des Glieds lag das rohe Fleisch teilweise offen, teilweise war es von einer dünnflüssigen Eiterschicht bedeckt.

Jan zwang sich zu frühstücken. Auch Anna brachte nur mit Mühe etwas herunter. Gregor, der nichts essen wollte, verfolgte Anna mit finsteren Blicken. Keiner der beiden richtete ein Wort an den anderen.

Gregor zog sich die Hose aus und knotete sich eine Decke um die Hüften, um mit weniger Reibung am Unterleib gehen zu können. Mit Jans Hilfe erhob er sich und schaffte einige Schritte, ehe ihm schwarz vor Augen wurde. Dennoch versicherte er, dass er die lange Strecke zum Kanu bewältigen werde. Jan schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass Gregors grimmige Entschlossenheit anhalten möge.

Gregors Rucksack mussten sie dalassen. Jan und Anna liefen zur Brandschneise und zogen ihn mit dem Seil über den Ast eines markanten Baumes in die Höhe. So könnten sie den vor Tieren geschützten Proviant wiederfinden, falls die Lebensmittel im Haus knapp werden sollten. Jan blickte hinauf zum pendelnden Rucksack und den grauen Wolken, die immer noch dicht an dicht trieben. Anhaltender Regen würde die Hülle durchweichen und einen Teil der Lebensmittel verderben, doch ihnen fiel auf die Schnelle keine bessere Lösung ein.

Sie packten das Lager zusammen und machten sich auf den Weg. Alle paar Hundert Meter blieb Gregor stehen. Jan erwog, ihren Plan zu ändern. Notfalls würde Anna die anderen mit dem Medizinkoffer und den Werkzeugen holen, damit sie hier eine provisorische Krankenstation errichten konnten. Doch Gregor lief sich nach und nach in einen Dämmerzustand. Selbst wenn Anna und Jan einmal stehenbleiben wollten, schritt er wortlos voran.

Jan überlegte während des Marsches, wie sich Gregors Verletzungen entwickeln und wie sie diese behandeln könnten und ob sie den halsbrecherischen Versuch unternehmen mussten, zu Fuß Hilfe jenseits der Berge zu verständigen. Er fragte sich auch, wie gefährlich Gregor noch war und wie sie ihn zugleich versorgen und in Schach halten konnten, wenn er sich erholte.

Dazwischen dachte er an den Niedergang ihrer kleinen Zivilisation inmitten der Wildnis. ‚Der Mensch ist dem Mensch ein Wolf‘, hatten sie in Gemeinschaftskunde gelesen und dass nur ein absoluter Herrscher den Krieg aller gegen alle verhindern könne. Das hatte Jan überzeugt – als Urteil über die Geschichte. Der heutige Mensch dagegen, der Toleranz und Demokratie von Kindesbeinen an erlebte, der von körperlicher Gewalt verschont auf den Wettstreit der Ideen und Fähigkeiten gedrillt wurde, war so anders geprägt, dass nur Einzelne je zu Wolfsmenschen degenerieren konnten. Doch nun hatte Gregor unter ihnen gewütet und Anna hatte bestialisch zurückgeschlagen. Warum hatte sie ihn ausgerechnet am Glied gefoltert? Das mochte eine Schutzmaßnahme gewesen sein, eine Art vorbeugende, vorübergehende Kastration – oder schlicht Rache. Und wie weit wäre sie gegangen, wenn Jan ihr nicht Einhalt geboten hätte? Gregor hatte längst gestanden, dass er Jenny während der Flucht vergewaltigt hatte, und dennoch hatte Anna nicht von ihm abgelassen.

Gregor und Anna. Zwei aus einer Gruppe von sechs. Und die anderen? Am Morgen nach dem Faustkampf – es mochte schon eine Woche her sein –, da hatte Michael am Ufer seltsame Worte über die Faszination des Gewaltsamen gesprochen. Jan erinnerte sich auch an sein Unwohlsein, als Michael von Gregors Schießkünsten geschwärmt hatte. Der Mensch sei zum Jagen gemacht und nicht dazu, auf der Schulbank zu sitzen. Gehörte das zur Absicht, Gregors Vertrauen zu erschleichen, wie Michael nach dessen Verhaftung erklärt hatte? Noch unangenehmer war ein anderer Eindruck, den Jan sich nun zum ersten Mal eingestand: dass die Vorstellung, Anna einzusperren, Michael hinter dem Schleier seiner klugen Argumente irgendwie ... erregt hatte? Jan schüttelte den Kopf. Statt sich Gespenster einzubilden, sollte er besser darauf achten, wo er seine Füße hinsetzte.

Am frühen Nachmittag erreichten sie das Kanu. Das Wetter hatte aufgeklart, sonnige Streifen und Wolkenschatten wechselten auf dem gekräuselten See. Sie zogen das Kanu mit einem Strick, der am Bug befestigt war, den Fluss hinauf, während sie es mit dem Paddel auf Kurs hielten. Zurück am See halfen sie Gregor ins Kanu. Kaum saß er, sackte er in sich zusammen. Jan dachte, er habe das Bewusstsein verloren, doch sein Kopf schaukelte schneller als der Rhythmus der Wellen. Was immer in Gregor vorging, er wollte ihn nicht stören.

Sie paddelten gegen den Wind. Als sie an dem sumpfigen Uferabschnitt vorbeikamen, hinter dem die Steilwände emporstiegen, glitt ein Seeadler über sie hinweg und landete am Fuß der Felsen.

Schließlich wurde die Gegend vertrauter, sie passierten den Biberbau und wateten am Steg an Land. Der Untergrund war hier zwar sumpfiger als an ihrer Badestelle, dafür war der Fußweg kürzer. Jan stützte Gregor, der bei jedem Schritt aufstöhnte. Im Wald kamen ihnen Michael und Laura entgegen und fragten nach Jennys Verbleib und Gregors Zustand. Jan erläuterte die Lage, während sie Gregor gemeinsam zum Haus brachten.

Dort lösten sie die Steppdecke, die sich Gregor umgewickelt hatte, und legten ihn auf ein frisches Bettlaken auf die Veranda. Anna gab ihm zwei Schmerztabletten aus dem Medizinkoffer, verweigerte jedoch die Schnapsflasche, mit der er sich betrinken wollte. Jan und Michael wies sie an, möglichst viel Wasser in sauberen Gefäßen zu holen. Sie selbst und Laura, die ihr assistieren sollte, studierten Packungsbeilagen und suchten alle Medikamente und Materialien heraus, die sie verwenden wollten. Dann wuschen sie sich die Hände mit einer braunen Desinfektionsseife und begannen, das Glied zu reinigen. Die beiden Jungs hielten den schreienden Gregor an Armen und Beinen fest. Die Tortur schien endlos zu dauern, doch Anna bestand darauf, sämtliches Wasser über das Glied laufen zu lassen, ehe sie es abtupfte, mit einer Verbrennungssalbe bestrich und in eine dünne Mullschicht hüllte.

Michael, der die ganze Zeit die Augen geschlossen gehalten hatte, schlug kreidebleich vor, dass sie eine Pause einlegen sollten. Davon wollte Anna nichts wissen. Sie schickte ihn und Jan neues Wasser holen und sterilisierte eine Nadel über einer Kerzenflamme. Damit öffnete sie die Einstiche in Gregors Unterleib, spülte sie aus und besprühte sie mit Desinfektionsspray.

Anschließend bugsierten sie den halb Ohnmächtigen die Treppe hinauf und legten ihn in Annas Einzelzimmer. Anna bestrich die Einstiche mit einer antibakteriellen Salbe und schloss sie mit Strip-Pflastern. Laura blieb bei Gregor, um darauf zu achten, dass er seinen Rumpf nicht bewegte.

Die drei anderen setzten sich mit Gläsern und einer Whiskeyflasche auf die Veranda. Sie tranken und blickten auf die letzten Wolken, die wie Nachzügler ihrer Truppe hinterhereilten. Jan war erschüttert von der Quälerei, der sie Gregor hatten unterziehen müssen. Doch er merkte, dass er damit zurechtkommen würde – unerträglich würde in seiner Erinnerung die Nacht zuvor bleiben, als er sich aus dem Schlaf aufgeschreckt mitten im Wald allein um Gregor kümmern musste, während Anna hilflos vor sich hinweinte.

Erst jetzt begann Jan zu verarbeiten, dass Jenny nicht zurückgekehrt war. Er wusste nicht, wie er eine weitere Katastrophe aushalten sollte, und blickte sehnlich zum Waldrand, als könne er ihre Rückkehr herbeibeschwören.

„Seid ihr soweit?“, fragte Anna.

„Wohl oder übel“, murmelte Michael, in dessen Gesicht langsam die Farbe zurückkehrte. „Also gut, wir haben noch einige Stunden Tageslicht, heute wird es nicht so schnell duster wie gestern. Laura und ich werden gleich aufbrechen und Jenny suchen.“

„Wo könnte sie sein?“, fragte Jan.

„Verlaufen kann sie sich nicht haben. Zum See findet man immer und von dort automatisch zum Haus. Ich sehe also zwei Möglichkeiten. Entweder sie ist verletzt und liegt irgendwo herum. Oder sie erträgt es nicht, dass Gregor sie nochmals vergewaltigt hat, und schämt sich wegen der Sache mit der Trainee-Stelle, mit der alles angefangen hat, und versteckt sich.“

„Oder sie hat sich deswegen umgebracht“, ergänzte Anna. „Oder Gregor hat sie ermordet.“

„Warum sollte er das getan haben? Und hätte er dir das nicht auch gestanden? Übrigens, hat er zugegeben, dass er den Außenkontakt sabotiert hat?“

„Ja. Das war am schwierigsten aus ihm rauszukriegen.“

Jan stockte der Atem. „Wo hat er das Satellitentelefon hingetan?“ Wieso hatte er Anna nicht längst danach gefragt – und sie nichts gesagt? Das konnte die Rettung bedeuten!

„Er hat alles im Wald vergraben. Wo, wusste er nicht mehr.“

„Vielleicht erinnert er sich jetzt.“

Anna stieß Luft durch die Nase. „Dann würde er daraus sicher kein Geheimnis machen.“

„Warum hat er das getan?“

„Er wollte uns von ihm abhängig machen und verhindern, dass wir frühzeitig abreisen, wenn er anfängt, uns Mädchen zu belästigen.“ Sie stand auf. „Ich hole uns Wasser.“

„Nimm den großen Krug. Wir haben zu wenig getrunken.“

Sie machte einen Schritt und traf mit dem Fuß das leere Whiskey-Glas, das Michael ungeschickt abgestellt hatte. Es zerbrach. Sie bückte sich und nahm die Scherben vorsichtig auf. „So ein Mist. Ich hol mal besser Feger und Schaufel, sonst tritt jemand auf die feinen Splitter.“

Kaum war sie verschwunden, flüsterte Michael: „Warst du einverstanden, dass sie Gregor gefoltert –“

„Nein!“

„Was, wenn sie damit Jenny das Leben gerettet hätte?“

Jan wusste keine Antwort.

„Aber dass sie danach behauptet, sich nicht richtig zu erinnern -“

Anna kam heraus, fegte zwischen den Stühlen und murmelte: „Ich habe in meinem Leben noch kein Glas zerbrochen.“

„Ich habe es auch genau in deinem Weg platziert“, besänftigte sie Michael. „Und Scherben bringen Glück.“

Sie ging zurück ins Haus.

„Sie verdrängt die Folter“, flüsterte Jan, „das kann ich verstehen.“

„Mir ist es unheimlich. Vielleicht erinnert sie sich später und klappt zusammen. Oder sie nimmt ihre Amnesie als Blankoscheck, um weiß ich was zu machen. Falls sie die nicht erfunden hat.“

„Ich vertraue ihr.“

„Zumindest als Ärztin würde ich ihr auch vertrauen. Sie sollte Chirurgin werden. Mit dem Rumschnippeln hat sie keine Probleme – auch wenn mal keine Zeit für eine Betäubung ist.“

Anna brachte den Krug und schenkte ihnen ein. „Was habt ihr besprochen?“

„Nichts“, antwortete Michael. „Wir haben auf dich gewartet, um uns zu überlegen, wie wir Jenny finden.“

„Ich bin pessimistisch.“ Sie lehnte sich ihnen gegenüber ans Geländer. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich aus Scham versteckt. Für ein paar Stunden, von mir aus. Aber spätestens die Nacht im Freien hätte ihr das ausgetrieben. Glaubt mir, ganz auf sich allein gestellt fühlt man sich ziemlich verlassen da draußen.“

„Bleibt also verletzt oder tot.“

„Ihr solltet nach Greifvögeln Ausschau halten.“

Michael stemmte sich aus dem Liegestuhl.

Auch Jan stand auf. „Ich komme mit.“

„Du erholst dich besser erst eine Nacht“, sagte Michael.

„Nein, das geht schon.“

„Denk an Gregor.“

„Um den kann sich Anna kümmern, sie versteht von Medizin sowieso mehr als ich.“

Michael sandte ihm einen mahnenden Blick. „Du willst Anna sicher nicht allein mit ihm zurücklassen.“

Jan wäre lieber bis zum Umfallen durch den Wald gelaufen, als untätig zu warten. Doch er musste die beiden voreinander schützen. „Du hast recht.“

„Falls es Gregors Verfassung morgen zulässt, könnt ihr Jenny für ein paar Stunden suchen gehen. Wir halten uns zum See hin, übernehmt ihr das Gebiet weiter nördlich.“

Michael und Laura packten ihre Rucksäcke und verabschiedeten sich. Das Gewehr nahmen sie mit.

Jan sperrte die Tür von Annas ehemaligem Zimmer, in dem nun Gregor lag, mit dem Schlüssel ab. Dabei glaubte er nicht, dass noch eine Gefahr bestand. Gregor war ein Draufgänger mit einem gestörten Verhältnis zu Frauen, kein völlig unberechenbarer Gewalttäter. Und er war sich seiner Situation bewusst: Er brauchte die Pflege – seine Gesundheit und vielleicht sogar sein Leben hingen davon ab. Und angesichts seiner Verletzungen war es ohnehin undenkbar, dass er aus dem Bett springen und über jemanden herfallen würde.

Jan schlug ein Buch auf, legte es jedoch bald wieder beiseite und nahm die Küche in Angriff. Michael und Laura hatten bislang nicht durch Abwascheifer geglänzt. Seit Jennys Entführung hatten sie das schmutzige Geschirr nur noch gestapelt. Zwischen den Tellern, Tassen und Pfannen standen leere Flaschen von Mr. Thomsons Bar. Jan erhitzte Wasser, schüttete es ins Spülbecken und begann zu scheuern. Die Arbeit lenkte ihn ab. Statt das saubere Geschirr einfach zu stapeln, trocknete er es mit einem Tuch und räumte es ein.

Als Nächstes nahm er sich den Boden des Salons vor, der rund um den Tisch klebrig, am Kamin aschig und besonders im Eingangsbereich sandig war. Er kippte einen halben Eimer heißes Seifenwasser aus und schrubbte, was das Zeug hielt.

Der Abend mit Anna verlief bedrückt, es wollte kein Gespräch aufkommen. Im Stockwerk über ihnen litt Gregor, irgendwo da draußen befand sich Jenny in weiß Gott welcher Verfassung und zwischen ihnen stand die Folter, über die sie nicht reden konnten, weil Jan der Mut fehlte und Anna die Erinnerung.

Sie schauten bei Gregor vorbei. Der ließ sich von Anna untersuchen, richtete seine Worte jedoch weiterhin an Jan. Er wollte Schlaftabletten oder noch lieber Morphium. Anna sagte ihm, dass er bereits wisse, dass sie das nicht hätten. Immerhin habe die Rötung um die Einstiche nachgelassen und er habe kein Fieber. Den Verband am Glied werde sie erst am nächsten Morgen öffnen. Jan bot Gregor an, ihm vorzulesen, doch der wollte kein Spaßprogramm für verschnupfte Kinder und schickte sie hinaus.

Anna brachte ihre Sachen ins Jungenzimmer und übernahm das Bett, das Jenny vor einer Woche bezogen hatte, nachdem Gregor Michael beim Boxen besiegt und die Nacht mit Laura gewonnen hatte. Auch Jan legte sich hin und gähnte, er fühlte sich zerschlagen von den Strapazen ihrer Expedition und vom Schlafmangel nach zwei dramatisch unterbrochenen Nächten. Er fragte sich, was noch auf sie zukommen mochte auf dieser Abi-Reise in die Hölle. Würden sie auf ihrer Lichtung ein Grab schaufeln? Oder zwei?