Vier Jahre zuvor

Dicke Flocken legten sich auf das Zelt und schirmten das spärliche Licht ab, das durch die nebelige Wolkenschicht drang – bis wieder eine Böe an den dünnen Nylonwänden rüttelte und den Schnee davonblies. Tom öffnete den Reißverschluss am Einstieg einen Spalt und blickte hinaus in das tobende Weiß.

Trotz der Warnung des Wetterdienstes hatten sie sich entschlossen, den Gipfelangriff zu wagen. Aber dann hatte sie der Schneesturm gezwungen, auf knapp 4000 Meter zu biwakieren. Sie hatten auf eine Besserung gehofft, um den Gipfel zu erreichen und über einen Grat abzusteigen. Als der Wind nachließ, hing jedoch zu viel Neuschnee in den Wänden. Sie mussten auf ihrem Absatz bleiben, den ein Überhang notdürftig vor Lawinen schützte.

Immer wieder stürzten die Schneemassen zu ihren Seiten herab. Nur in ihrer unmittelbaren Umgebung war noch nichts abgegangen. Das machte Tom misstrauisch. Irgendwann würde etwas Großes kommen. Doch sie konnten nichts tun, als in den winzigen Zelten, die sie mit Eisschrauben und Klemmkeilen gesichert hatten, zu warten und zu hoffen.

Seine drei Gefährten kauerten im anderen Biwak und hielten sich mit Geschichten ihrer Bergabenteuer bei Mut. Tom war lieber allein. Die meisten seiner Touren ging er solo. Wenn er bei besonders schwierigen Expeditionen die Nähe anderer erdulden musste, kamen ihm finstere Gedanken. Wie er das Seil durchtrennte, an dem ihm der Kletterpartner folgte. Wie er ihn herabstieß, wenn er sich aus dem Zelt beugte, um zu pinkeln. Solche Sachen, und das verstörte ihn.

Er zog gerade den Reißverschluss zu, als es donnerte. Es klang wie ein Tiefflieger an der Schallgrenze, der senkrecht auf sie zuraste. Tom krümmte sich zusammen, schlang die Arme um den Kopf und pumpte sich mit Luft voll. Die Lawine schoss brüllend über den Absatz, es wurde dunkel, Schnee drückte das Zelt platt.

Einst hatten die Berge sein Leben gerettet, dachte Tom. Wäre er nicht als Jugendlicher der Großstadt entflohen, hätten ihn die dunklen Triebe, die ihn schon als Kind gequält hatten, in den Wahnsinn getrieben. Glück existierte für ihn nur in der Einsamkeit, im Ringen mit den Naturgewalten. Nun würden die Berge sein Leben nehmen.

Alles war still um ihn. Er war wundervoll allein. Gab es ein schöneres Grab als hier in der Höhe? Schon bald würde sich der Schneesturm legen und die Sonne auf den Hängen glitzern. Während er sich den strahlenden Tag ausmalte, spürte er seinen Kampfeswillen erwachen. Es gelang ihm, mit den Armen einen Raum vor seinem Gesicht freizudrücken. Anscheinend bedeckte ihn nur leicht komprimierter Neuschnee. Nach einigen Minuten hatte er das Allzweckmesser aus seiner Tasche gezogen, das Zelt zerschnitten und sich herausgewunden, so dass er mit dem Oberkörper aus dem Haufen ragte, den die Lawine auf den Absatz geschüttet hatte.

Mit bloßen Händen machte er sich daran, Schnee in den Abgrund zu schaufeln, um das zweite Biwak freizulegen. Wenn die Lawine es nicht mitgerissen hatte, standen die Chancen gut, dass er seine Gefährten vor dem Ersticken retten konnte. Doch bald stieß er auf Eis. Es war ein mächtiger Block, der beim Aufschlag in drei Teile zerbrochen war. Seine lästigen Gefährten mussten zerschlagen darunter liegen.

Auf einmal erfüllte ihn eine Euphorie, wie er sie selbst nach den härtesten Erstbegehungen nicht verspürt hatte. Er gehörte nicht zu den Menschen, er gehörte zu den Bergen. Er würde überleben! Er würde auf diesem Absatz ausharren, bis Wetter und Lawinenlage ihm erlaubten, im Alleingang zum Gipfel aufzusteigen!

Wie besessen wühlte er weiter, um zu sehen, welche Teile der Ausrüstung er bergen könnte. Da drangen gedämpfte Schreie durch den Schnee, und er hielt inne. Der Wind blies ihm die Flocken ins Gesicht, seine Hände brannten. Er betrachtete das Loch, das er neben dem Eisblock gegraben hatte, und fragte sich, was er tun sollte.