3. Tag

Gregors Geschichte hatte Jan zunächst gegruselt. Er hatte sich beim Einschlafen vorgestellt, dass einer von ihnen wie vom Erdboden verschluckt wäre oder dass die Leiche der jungen Frau plötzlich aus den Tiefen des Sees aufstiege, während sie badeten. Doch als sie am Morgen zu ihrer ersten Expedition aufbrachen, verlor sich diese Beklemmung. Sie wanderten bergauf in nordwestlicher Richtung. Einige Male mussten sie kehrtmachen, weil das Gelände zu steil und felsig wurde, doch schließlich gelangten sie aus dem Wald in ein Seitental, das nur aufgelockert von Buschwerk und niedrigen Bäumen bestanden war. Über die Flanken ergossen sich Wasserfälle in feinen Kaskaden. Weit hinten glitzerte ein Gletscher.

Sie liefen zum Flüsschen, das sich durch ein helles Kiesbett in der Talsenke schlängelte. Barfuß stiegen sie über die glattgeschliffenen Kiesel ins stechend kalte Gletscherwasser, bespritzen sich und versuchten, auf der Strömung flache Steine springen zu lassen. Während ihre geröteten, prickelnden Füße an der Sonne trockneten, machten sie sich über das Picknick her. Das Brot, das sie am Morgen im Ofen gebacken hatten, schmeckte ausgezeichnet. Gesättigt streckten sie sich auf dem Gras aus, nur Laura unterhielt sich noch mit Michael über Bands, Musiksender und ihre künftige Karriere als TV-Moderatorin. Als Michaels Beteiligung nachließ, versickerte auch dieses Gespräch und alle träumten zufrieden unter dem tiefblauen Himmel.

Auf einmal zischte Anna: „Ein Bär!“

Jan schoss so schnell aus dem Halbschlaf hoch, dass er sich nicht gleich zu orientieren vermochte. Dann sah er, wie rund hundert Meter stromaufwärts ein gewaltiger Grizzly durchs Wasser plantschte. Sein dunkler Kopf wirkte klein vor dem rotbraunen Körper, der hinter seinem Nacken zu einem Buckel zusammenlief. Seine stämmigen Beine standen weit auseinander, bei jedem Schritt schwankte der massige Rumpf. Zwei Junge folgten dicht.

„Shit“, flüsterte Gregor. „Ist das ein Viech!“

„Sollten wir nicht Lärm machen?“, fragte Jenny.

„Ich weiß nicht, ob die uns entdeckt haben“, flüsterte Michael. „Falls sie näher kommen, stehen wir auf und ziehen eine Show ab.“

Die Bären durchquerten das Flüsschen und ließen sich auf der anderen Seite nieder. Die beiden Kleinen rauften und kugelten umeinander.

„Sind die süß!“ Laura hatte sich auf den Knien aufgerichtet.

Anna zischte: „Wenn du noch lauter bist, finden sie dich sicher auch appetitlich.“

Das Muttertier hob den Kopf, schaute in ihre Richtung und trottete mit ihren Kleinen davon. Alle erhoben sich, um die Bärenfamilie zu beobachten, bis sie zwischen den Sträuchern verschwand. Die beiden Mädchen kabbelten sich, wer die Bären verscheucht hatte.

Auf dem Rückweg stiegen sie direkt zum See hinab. Der Uferbereich war meist steinig und gut begehbar, erst auf dem letzten Stück mussten sie nach Passagen durch dorniges Gestrüpp oder sumpfige Wiesen suchen. Als sie auf ihre Badestelle hinter dem Steg stießen, schwammen sie eine Runde in Unterwäsche. So liefen sie zum Haus zurück. Jan untersagte sich streng, Anna zu beglotzen.

Wieder trocken und bekleidet ließ er sich auf sein Bett sinken und dachte an seine Unterhaltung mit Anna während der Wanderung. Er hatte ihr davon erzählt, wie gerne er nicht nur schreiben könnte, sondern auch musizieren, tanzen, malen, und dass sein Vater seinen Kunstsinn zwar seit jeher befördert habe, in letzter Zeit jedoch mahnend auf ihn einwirke, nicht ins Schwärmerische zu verfallen und sich nicht zu viel zuzutrauen. Anna hatte ihn darin bekräftigt, dass er seinen eigenen Weg gehen solle. Vielleicht sei sein Vater eifersüchtig, weil er selbst nur Kunstliebhaber und nicht Künstler sei.

Dem Gedanken sann Jan nach, als Laura ins Jungenzimmer platzte, in der Hand einige beschriebene Seiten. „So ein Drecksstück!“

„Zickenterror“, grummelte Gregor, der sich ebenfalls hingelegt hatte.

„Dass sie ein dummes Biest ist, wusste ich ja. Aber das hier!“ Sie hielt Gregor die Blätter hin. „Das ist der Wahnsinn!“

Gregor setzte sich auf und begann zu lesen. „Von wem ist das?“

„Von Anna, das ist ihre Schrift. Und sie zieht über alle her, nur sie selbst kommt nicht vor.“

„Ein Schwanzgehirn bin ich also.“

„Du hast gut lachen. Das würde ich auch –“

„Sie nennt dich eine nuttige Hysterikerin. Das muss ich mir merken.“

„Hör auf damit! Lies lieber die letzte Zeile!“

Gregor wendete den dünnen Stapel und pfiff.

„Sie will mich umbringen!“ Laura war so aufgeregt, dass sie beim Sprechen spuckte.

Jan hielt seine Ungeduld nicht länger aus. „Gebt mir mal die Blätter.“

Gregor reichte sie ihm. Da stand in Annas säuberlicher Schrift, bei der sich die Buchstaben kaum verbanden: ‚Manchmal möchte ich sie eine Felswand hinunterstoßen.‘ Im Absatz davor hatte Anna sich selbst vorgeworfen, dass sie sich von Lauras Spitzen so treffen ließ.

Gregor fuhr Laura an, sie solle Anna mit ihrer hysterischen Reaktion nicht recht geben, und rief nach den anderen. Als Anna kam, schickte er sie wieder hinaus. Man habe ihr Tagebuch gefunden und müsse sich erst beratschlagen. Anna protestierte, doch die Feindlichkeit, die ihr entgegenschlug, vertrieb sie.

Michael las den Text vor. Es waren fünfeinhalb Seiten mit Beobachtungen über die Gruppe, die Jan in abgemilderter Form durchaus teilte. Deutlich übertrieben fand er lediglich Annas Eindruck, wie Laura sie schikaniert habe. Sicher hatte er die eine oder andere Gemeinheit mitbekommen, aber es schien ihm nicht so systematisch wie geschildert. Über ihn äußerte sich Anna mit einer Mischung aus Herablassung, weil er sich anbiedere, und Wertschätzung, weil er aufmerksam beobachte und zuhöre und sich begeistere. Jan merkte, wie viel ihm an Annas Meinung lag: Die kritische Bemerkung schmerzte, die Anerkennung ließ sein Herz schneller schlagen und die ganze Zeit wartete er nur darauf, was noch über ihn käme.

Michael las mit gespannter, doch sicherer Stimme – bis er zu der Stelle kam, an der Anna sich über seine Annäherungsversuche ausließ: Sie würde lieber allein im Wald schlafen als mit ihm in einem Bett – ob sie ihm das so sagen solle, damit er es endlich kapiere? Michaels wohlklingender Bass war rau und leise geworden, doch gleich hatte er sich wieder unter Kontrolle. Nur die Blätter, die in seinen Händen zitterten, verrieten seine Betroffenheit.

Als er den letzten Satz vorgelesen hatte, verschafften sie ihrer Empörung Luft. Selbst die friedliche Jenny, die als eitle und seichte Duckmäuserin qualifiziert worden war, schimpfte lautstark.

Die Aufregung legte sich und Laura berichtete, das Tagebuch habe auf dem Esstisch gelegen. Sofort begann das Rätseln, wie es dorthin gelangt sein könnte. Jans Erklärung, dass Anna am Esstisch geschrieben und danach vergessen habe, ihre Notizen mitzunehmen, stieß auf Ablehnung. Er glaubte selbst nicht recht daran – Anna war so präzise und bedacht, sie erlaubte sich keine derartigen Fehler.

Die Schlussfolgerung setzte sich durch, dass Anna den Konflikt provoziert hatte. Da niemand bei der Rückkehr aus dem Bärental auf den Esstisch geschaut hatte, blieb offen, ob sie die Blätter vor oder nach der Wanderung ausgelegt hatte. Als Motiv plädierte Laura auf Bösartigkeit. Michael erwog, ob Anna sich nicht anders zu helfen gewusst hatte und einen Streit vom Zaun brechen wollte, um einen ihr unerträglichen Zustand zu beenden. Jan verstand nicht, was für Anna unerträglich sein sollte. Sie war in den Notizen über die Gruppe hergezogen, aber am Lagerfeuer hatte sie viel gelacht und auch auf der Wanderung war sie vergnügt gewesen. Michael musste das von sich selbst auf Anna übertragen.

Ebenso uneinig wie bei den Motiven blieben sie bei den Konsequenzen. Laura ließ sich nicht ausreden, dass Anna es ernstlich auf sie abgesehen habe. Michael und Jan bestanden darauf, zunächst Anna anzuhören. Doch sie war nicht aufzufinden.

Gregor witzelte, dass es für wütende Frauen nicht ratsam sei, allein in die Wildnis hinauszustiefeln – den Fehler habe vor zwei Jahren schon einmal eine gemacht. Laura lachte und meinte, er solle sich keinen falschen Hoffnungen hingeben. Anna würde sich bestimmt bald wieder unter sie mischen und davon ausgehen, dass ihr so schnell verziehen würde wie nach dem Tritt gegen Gregors Nase.

Jan und Michael suchten Anna. Michael übernahm den Westen, Jan den Osten, den sie bislang noch nicht erkundet hatten. Nach ein paar Hundert Metern kam er an ein tief eingeschnittenes Bachbett, durch das ein Rinnsal lief. Wahrscheinlich wurde daraus bei der Schneeschmelze ein brodelnder Wildbach. Als er hinter sich blickte, sah er Anna, die ihm nachlief. Sie trug ihre grüne Outdoor-Jacke und ein gelbes Stirnband und lief behände zwischen Farnen, Ästen und halbverrotteten Baumresten über den lichtgesprenkelten Waldboden. Wie ein Werbe-Spot für Trekking-Reisen – nur ihr Gesichtsausdruck passte nicht dazu.

„Hallo Anna.“

„Was für ein hinterhältiges Luder!“

Jan war sprachlos. Er hatte mit Sorge und Bedauern gerechnet. Offensichtlich tickte Anna anders.

„Was fällt ihr ein, mein Zimmer zu durchsuchen?“

„Hast du das Tagebuch nicht auf dem Esszimmertisch –“

„Hat sie das behauptet?“

„Ja.“

„Das ist absurd!“

Er runzelte die Stirn. Dass Laura gelogen haben konnte, war ihm nicht in den Sinn gekommen.

„Sogar du glaubst ihr.“

„Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Wir müssen uns alle erst ein Bild machen. Du solltest mich zu den anderen begleiten, damit wir die Sache besprechen können.“

Anna schüttelte vehement den Kopf. „Das tue ich mir nicht an.“

„Ganz so schlimm –“

„Laura und Gregor konnten mich schon davor nicht ab. Jenny lässt sich von denen mitziehen. Und Michael dürfte endgültig begriffen haben, dass er sich bei mir den Kopf einrennt.“

Jan dachte an die entnervten Zeilen, die sie Michaels Werben gewidmet hatte. „Immerhin ist er dich suchen gegangen.“

„Ich hab es gesehen. Beängstigend.“

„Du hast Angst vor ihm?“

„Nein“, sie zog missbilligend die Augenbrauen zusammen, „es gibt mir nur zu denken. Er muss echt verdammt hinter mir her sein, wenn er selbst das wegsteckt.“

„Das stimmt.“ Jan überlegte, ob er ihr sagen sollte, dass Anfang und Ende von Michaels einjähriger Beziehung angeblich der Liebe zu Anna zuzuschreiben waren. Allerdings wollte er seinen Freund nicht verraten – und Anna war sich ohnehin bewusst, wie sehr der ihr verfallen war.

„Man darf die anderen nie wissen lassen, was in einem vorgeht – und dann auch noch schriftlich, wie dumm von mir. Ich habe so etwas nie gemacht. Nur hier, wegen der Gruppe, ich brauchte das als Ausgleich.“

„Du kannst auch mit mir darüber reden. Ich sehe vieles so wie du.“

Sie betrachtete ihn abweisend. „Wieso soll ich dir vertrauen?“

Er schluckte. Die Frage musste eigentlich lauten, wieso sie so misstrauisch war. Und wieso sie nicht merkte, wie verletzend sie damit sein konnte. „Darf ich dir einen Rat geben?“

Sie schwieg und zuckte schließlich kaum merklich mit den Schultern.

„Entschuldige dich bei Laura.“

„Wieso?“

„Dass du sie manchmal eine Felswand runterstoßen möchtest, hat ihr Angst gemacht.“

Anna riss die Augen auf. „Das habe ich nicht geschrieben!“

„Im letzten Satz.“

„Nein, das war ich nicht.“

„Wer sonst?“

„Wer immer meine Notizen unter der Matratze gefunden hat.“

Dass jemand die Schrift gefälscht haben sollte, klang abenteuerlich.

„Hast du dir die Schrift genau angesehen? Bestimmt lässt sich erkennen, dass es eine Fälschung ist.“

„Sie wirkte authentisch. Aber wahrscheinlich wird man Unterschiede feststellen, wenn man sie sorgfältig vergleicht. Ein Grund mehr, mit ins Haus zu kommen.“

Anna blickte an Jan vorbei in den Wald. „Das haben mir bestimmt Gregor und Laura eingebrockt. Bei Gregor kann ich’s verstehen. Dem habe ich gestern ordentlich auf die Nase getreten.“

„War das nicht eine übertriebene Reaktion?“

„Er hat versucht, mich zu begrabschen.“

„Im Wasser kann –“

„Gregor kennt die weibliche Anatomie. Im Übrigen hilft der Bikini bei der Orientierung.“

Ehe er Details hören musste, gab Jan einen missbilligenden Ton von sich, der Gregor verurteilen sollte.

„Aber warum hat Laura es auf mich abgesehen? Sie ist schon die ganze Zeit hinter mir her.“

„Ich nehme an, ihr missfällt, dass du nach Paris gehst. Sie will auch ein Star werden, aber bei ihr lässt sich das nicht so konkret an.“

„Sie sollte es mal in der Porno-Branche probieren.“

Jan wollte mit Anna schimpfen, musste dann aber lachen. Laura hatte tatsächlich etwas an sich ... Er wurde wieder ernst. „Ich denke wirklich, dass ihr deine Tanz-Karriere zu schaffen macht.“

„Die Selektion ist ziemlich streng, das stimmt, aber nur weil man angenommen worden ist“, sie schob eine Locke zurück unter ihr Stirnband, „das bedeutet noch gar nichts. Danach übt man jahrelang von früh bis spät, und irgendwann werden einige wenige bekannt.“

„Natürlich hältst du dich nicht für einen Star. Trotzdem, manchmal kommst du ein bisschen arrogant rüber.“

„Das ist nicht mein Problem.“

Jan dachte, dass er nicht der Einzige war, der Schwierigkeiten in Gruppen hatte. Es überraschte ihn, wie hilflos Anna hinter ihrer überlegenen Fassade war. „Willst du vier Wochen lang im Streit mit den anderen zubringen?“

Sie fixierte ihn mit blitzenden Augen, das Kinn erhoben. „Ich bin lieber allein, als zu kuschen.“

Das erinnerte Jan an die Textpassage, in der sie kommentiert hatte, dass er sich kleinmache, um dazuzugehören. Fast hätte er sie stehenlassen, doch etwas hielt ihn zurück. Eine Furcht. Als hätte sich eine Maschine in Gang gesetzt, ein Hebel, dessen Energie sich über winzige Zahnräder übertrug, gespannte Federn löste, größere Räder in Schwung brachte – und dann würde diese Maschine Anna mit einer Kraft zermalmen, der sie nichts entgegenzusetzen hatte.

Lächerlich! Ob Anna sich jetzt mit Laura aussöhnte oder nicht, was machte das für einen Unterschied? Selbst wenn sich die beiden den ganzen Urlaub über zofften, war das nur ein Ärgernis, mehr nicht.

Und dennoch hatte er Angst um sie. „Unsere Gruppe ist mir nicht geheuer. Ich kann es dir nicht genau sagen ...“

„So viel Kraft und so wenig Gleichgewicht?“ Anna sandte die Beklemmung mit einer anmutigen Armbewegung von sich. „Um mich brauchst du dich nicht zu sorgen. Niemand braucht sich um mich zu sorgen. Ich passe auf mich selbst auf.“ Sie machte eine Verbeugung und entfernte sich.

Er blieb ihr auf den Fersen. Ein Ast streifte ihn im Gesicht, er blies irgendein Kleinzeug weg, das auf seiner Lippe hängengeblieben war. „Wo willst du hin? Denk daran, was vor zwei Jahren mit der Frau passiert ist!“

Ohne sich auch nur umzudrehen, antwortete sie: „Wahrscheinlich hat Gregor die Story erfunden, um uns einzuschüchtern.“

„Ich glaube, sie ist wahr.“ Zu viele Indizien sprachen dafür, nicht zuletzt, wie er den widerwilligen Gregor zum Reden gebracht hatte. „Und selbst wenn, willst du die Nacht draußen verbringen?“

Sie machte noch einige Schritte und blieb stehen. „Ich habe keinen Plan.“

Er überzeugte sie, dass sie sich der Auseinandersetzung stellen musste, und nahm sie bis zum Waldrand mit. Dann ging er alleine zum Haus und rief nach Michael, der bald darauf angetrabt kam.

Sie setzten sich um den Esstisch, Jan holte Anna hinzu. Als sie eintraten, war er froh, dass die bösen Blicke nicht ihm galten. Nur Michael, dem noch immer Schweißperlen auf der Stirn standen, schien mehr um seine eigene Fassung zu kämpfen als Anna anfallen zu wollen. Mit gepresster Stimme forderte er Anna auf, sich zu erklären. Sie zog die Blätter zu sich und studierte die letzte Seite. Dann sagte sie, dass es zwecklos sei, ihre Schrift sei perfekt imitiert – dennoch: Die Blätter seien unter ihrer Matratze hervorgeholt worden und der letzte Satz stamme nicht von ihr.

Selbst Michael und Jenny schenkten ihr keinen Glauben, nachdem sie die Schrift inspiziert hatten. Niemand von ihnen besäße ein solches Fälschertalent. Gregor und Laura hatten Annas Behauptung von Anfang an mit Hohn quittiert und beschimpften sie nun im Gegenzug für das, was sie hatten hinnehmen müssen.

In düsteren Gedanken verloren, ließ Michael die Leitung schleifen, die er zunächst übernommen hatte. Jan gelang es mit Mühe, der Wut Einhalt zu gebieten und die Suche nach einer Lösung zum Thema zu machen. Das endete in Ratlosigkeit. Anna hatte nichts Verbotenes getan und es gab keine etablierte Sanktion, wie Strafarbeiten oder Nachsitzen in der Schule, die über sie hätte verhängt werden können.

Jan bat Anna, kurz mit ihm nach draußen zu kommen. Abendlicht durchflutete die Veranda.

„Tu mir einen Gefallen und entschuldige dich.“

„Aber ich habe die Wahrheit gesagt.“

„Entschuldige dich für den Vorfall insgesamt. Sag, dass du niemanden kränken wolltest und hoffst, dass ihr euch wieder versteht. Und sei heute Abend gut gelaunt! Beteilige dich an den Gesprächen und was sonst noch läuft. Wenn wir etwas spielen, etwas trinken, mach einfach mit!“

Anna blickte ihm unergründlich in die Augen, dann ging sie abrupt ins Haus – und tat, worum Jan sie gebeten hatte. Gregor und Laura machten es ihr nicht leicht, nahmen die Entschuldigung jedoch so weit an, dass Jan die Sache für erledigt erklären konnte. Als daraufhin alle aufstanden, hätte er trotz der unangenehmen Begebenheit, die hinter ihnen lag, fast gelacht: Seit wann hörten alle auf ihn?

Nach einem schlichten Essen setzte sich Michael auf einen Sessel am Kamin und spielte melancholische Lieder auf seiner Gitarre. Laura wünschte sich etwas Peppigeres, er ließ sich umstimmen. Jan beobachtete verblüfft, wie mit der Musikrichtung auch Michaels Stimmung umschwang. Eben hatte er noch durchgehangen, als hätte Anna in ihren Notizen nachgewiesen, dass die Welt in wenigen Tagen untergehen müsse, und jetzt richtete er sein Gitarrenspiel schon wieder an sie, als wären die anderen nur Staffage.

Zuletzt sangen alle: „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“, bis zum letzten Refrain: „Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen und dann würde, was uns groß und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein.“

Anna hob ihr Glas und rief: „Auf den Gitarristen!“ Alle applaudierten. Jan lächelte ihr anerkennend zu. Er wusste, wie viel Überwindung sie die zur Schau gestellte Fröhlichkeit kostete. Zugleich beschwingte ihn die Nähe, die Anna zuließ, ihr Arm, auf dem Polster direkt neben seinem abgestützt, ihr Gesicht keinen halben Meter von seinem entfernt, und nun ihr Blick, in dem er seinerseits Dankbarkeit abzulesen glaubte.

Gregor holte eine neue Flasche Schnaps aus der Vorratskammer. „Kein schlechtes Tempo. Zum Glück gibt’s eine ganze Etage mit harten Sachen.“

Laura schaute ihn lasziv an. „Zeig mal her, die harten Sachen.“

Gregor baute sich vor ihr auf. „Ist er zu hart, bist du zu –“

„Könnten wir nicht -“ Jenny schaute schüchtern zu Gregor, den sie wohl versehentlich unterbrochen hatte. „Wie wäre es, wenn wir etwas spielen?“

„Jenny, was für eine coole Idee!“ Gregor legte die Flasche, die sie zuvor geleert hatten, vor dem Kamin auf den Boden. „Die Flasche entscheidet, wer, die Gruppe, was!“

„Du willst Flaschendrehen spielen?“, fragte Jan entgeistert.

„Müsste dir doch gefallen – wie auf deinen Kindergeburtstagen. Allerdings mein Style.“

Laura hielt Gregors Arm zurück. „Was passiert bei Feuer?“

„Schnaps! Zum Löschen.“

Er setzte die Flasche in Schwung. Eine Umdrehung, eine zweite Umdrehung. Jan hoffte, nicht das erste Opfer zu werden. Er wollte wissen, was Gregor-Style bedeutete. Jenny drückte sich gegen den Sessel, als der Flaschenhals vor ihr verlangsamte, und atmete hörbar aus, da er noch ein Stück weiterschlich.

Laura zwinkerte Jenny zu. „Feuer!“

Sie tranken eine Runde und Gregor ließ die Flasche erneut kreisen. Diesmal wies sie mitten auf den Kamin. Michael schenkte nach.

„Du machst uns bloß besoffen.“ Laura nahm Gregor die Flasche aus der Hand und versetzte sie in eine so wilde Drehung, dass sie gefährlich auf den Kamin zuwanderte. Jan überlegte schon, ob er sie mit dem Fuß stoppen sollte, als sie stehen blieb – auf Jenny weisend.

„Ausziehen, ausziehen“, grölte Gregor los.

Jenny schüttelte panisch den Kopf.

Gregor ließ sich nicht abbringen.

Jenny blickte hilfesuchend zu Laura. Die legte Gregor eine Hand auf den Mund und sagte zu Jenny: „Du hast mitgespielt, also musst du machen, was die Gruppe will. Aber Gregor ist nicht die Gruppe, auch wenn er sich dafür hält. Wir haben ein Wörtchen mitzureden.“

„Ich bin auch für Ausziehen“, sagte Michael. „Auf die elegante Manier.“

„Ganz ruhig, Jenny“, sagte Laura. „Du darfst etwas anbehalten.“

„Nichts gibt‘s!“, protestierte Gregor.

„Doch“, widersprach ihm Michael, „sie darf etwas anbehalten. Bloß kein Kleidungsstück. Sie hatte vorhin diesen weißen Seidenschal. Mit dem darf sie sich verhüllen.“

Gregor und Laura hielten das für einen fairen Kompromiss.

„Was denkst du, Jan?“, wollte Michael wissen.

„Ihr habt schon eine Mehrheit.“

„Enthaltung zählt nicht. Außerdem kann Jenny mitstimmen. Es könnte Gleichstand geben.“ Michael schien ihn lieber aus seiner Reserve zu zwingen, als den sicheren Sieg einzufahren.

Jenny sah Jan flehentlich an. Er spürte seine Lust, sie zu sehen. „Ich bin auch dafür“, kam ihm über die Lippen.

Laura ging ins Obergeschoss, um den Seidenschal zu holen. Anna folgte ihr wortlos. Im ersten Moment wollte Jan sie aufhalten, aber er war nicht ihr Babysitter. Und vielleicht wollte sie sich gar nicht abkapseln, sondern nur rasch ins Bad. In Wahrheit glaubte er nicht, dass sie so bald wieder auftauchen würde.

Laura kam zurück und schickte die Zuschauer zur Couch zwischen den Sesseln. Dann spannte sie den Schal vor dem Kamin zwischen ihren Armen auf und bat Jenny zu sich. Gregor und Michael begannen zu klatschen. Jenny näherte sich zögernd.

Michael sprang auf und reichte ihr ein Glas über den dünnen Vorhang. Sie stürzte den Schnaps herunter und gab ihm das leere Glas mit einem tapferen Lächeln zurück. Dann schloss sie die Augen, stellte sich seitlich zu den Zuschauern und entkleidete sich mit schnellen Bewegungen.

Jan spürte, wie sein Mund austrocknete und seine Erregung wuchs. Sie war schön. Ein dunkler Schatten vor dem warmen Feuer, der doch wie Glut auf seinen Augen brannte.

„Dreh dich zu uns!“ Gregor hatte sich vorgebeugt, nur ein Meter trennte ihn von ihrer Blöße.

Jenny schaute verzweifelt zu Laura. „Das reicht, Jungs“, sagte die. „Drei, zwei, eins ... und aus.“ Sie stellte sich vor Jenny, die sich hastig anzog.

Alle standen auf. Die Jungs gingen am Klo vorbei in den Wald. Als sie zurückkamen, fanden sie Laura und Jenny in der Küche. Jan warf einen scheuen Blick auf Jenny und schaute zu Boden. Er hatte sie nackt gesehen. Nur von der Seite, nur durch einen Seidenschal, und doch: nackt.

Sie unterhielten sich im Stehen, als müssten sie Abstand gewinnen von dem Ort ihrer voyeuristischen Lust und Scham, als müssten sie sich eng durchmischt versichern, dass sie alle dazugehörten, nicht Subjekt und Objekt, nur eine Einheit.

Nach einer Weile verließ Jan die Gruppe und stieg zu Annas Zimmer hinauf. Die Luft hier oben im Gang war kühler. Er klopfte.

Keine Antwort.

Er klopfte lauter.

Nichts.

Er drückte auf die Klinke. Die Tür war abgeschlossen. „Anna!“, rief er. „Was ist los?“

Ob sie böse auf ihn war? Hätte er sich gegen den Striptease aussprechen müssen? Hätte er nicht hinschauen dürfen? Aber was war schon dabei? Es war nur ein Spiel.

„Bitte, Anna!“ Er spürte, dass seine Bemühungen vergeblich sein würden. Gelächter drang aus dem Salon. „Ich gehe jetzt wieder runter. Ich würde mich freuen, wenn du dich wieder zeigst.“

Er stieg die Treppe hinab. Vielleicht hatte Michael ihn deswegen gezwungen, sich zu dem Strip zu bekennen: So war Anna auf die Jungs gleichermaßen sauer.

Die anderen hatten sich um den Kamin niedergelassen. „Sie hat sich eingeschlossen und antwortet nicht“, sagte er beiläufig und setzte sich auf die Couch neben Michael.

„So eine Spielverderberin“, empörte sich Laura. „Sie hat bestimmt Angst, dass sie nicht so mutig ist wie Jenny.“

Jan spürte den Wunsch, sich standhaft zu zeigen. „Lass sie in Ruhe! In der Gruppe zu sein, strengt sie an, und manchmal braucht sie eben eine Pause.“

Gregor sagte mit übertriebener Bewunderung: „Oho, der Autisten-Versteher!“

„Sei nicht immer so aggressiv, Gregor!“

„Wer ist hier aggressiv?“

„Du bist es, auch wenn du es vielleicht nicht merkst, weil es so sehr in deine Natur übergegangen ist.“

„Das nennt sich Testosteron, Kleiner. Wenn wir wieder zu Hause sind, bestell ich dir etwas davon als Nahrungsergänzungsmittel.“

„Brauchst du gar nicht.“ Laura lachte. „Bei der frischen Luft in Alaska wachsen nicht nur seine Bartstoppeln. Oder hast du Jan schon mal so kampfeslustig gesehen?“

„Ich habe ihn in der Vergangenheit fast gar nicht gesehen“, murrte Gregor. „Aber lassen wir das. Er wird sich schon noch entscheiden, ob er zu uns gehört oder zu ihr.“

Jan spürte den Stich seiner alten Angst, außen vor zu bleiben. Konnte Anna nicht einmal einen Abend mitmachen? Wieso sollte er sich von ihr mit in die Isolation treiben lassen?

„Anna ist jedenfalls eine Spielverderberin“, resümierte Laura. „Es gibt einfach Menschen, die Ja sagen und dabei sind, und Miesmacher, die alles ablehnen und schlecht finden ... Wie findet ihr zum Beispiel das: Wer mir als Erster einen Drink serviert, bekommt einen Kuss!“

Michael schaltete sofort, doch bevor er die Schnapsflasche greifen konnte, packte ihn Gregor von hinten. Michael machte zwei Schritte rückwärts und drückte Gregor auf die Couch, ohne ihn abschütteln zu können. Erst als Jan Gregor nach unten presste, konnte Michael sich befreien. Triumphierend nahm er die Flasche, schenkte schwungvoll ein und überreichte Laura das Glas. Sie zog ihn zu sich, knabberte an seiner Lippe und gab ihm einen Zungenkuss. Gregor blickte Michael an, als wolle er auf ihn losgehen.

Erst jetzt setzte Jans Verstand wieder ein. Alles war so überraschend und schnell passiert, und er hatte schon einige Schnaps intus, da war ihm nicht gleich klargeworden, dass eigentlich nicht sein konnte, was er da eben gesehen hatte: Michael küsste Laura? Wie konnte er Anna so schnell hinter sich lassen? Das machte das Gerede von seinem Verlangen nach ihr zur Farce.

Laura trank und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. „Das gefällt mir. Wollt ihr euch meinetwegen schlagen?“

„Du bist mir völlig egal“, schnauzte Gregor sie an. „Das ist eine Sache zwischen Männern.“

„Das glaube ich nicht.“ Sie artikulierte überdeutlich und ein wenig schleppend. Anscheinend setzte auch ihr der Alkohol zu. „Ihr schlagt euch nicht einfach nur so wegen der Männerehre.“

„Das war nur eine kleine Rauferei“, sagte Michael.

Laura grinste, sie schien einen Einfall zu haben. „Was haltet ihr davon, euch richtig zu schlagen?“

„Bist du Panne?“ Gregor streckte ihr den Kopf entgegen, als müsse er ihren Schaden aus der Nähe inspizieren.

„Wie gehst du mit einer Dame um, für die du gleich in den Kampf ziehen wirst?“

„Spinn weiter!“

„Sag das nicht, solange du den Preis nicht kennst.“

„Die meisten Frauen küssen besser.“

„Ich biete mehr als einen Kuss.“ Sie fuhr sich durch das Haar und türmte es in ihren Händen auf. „Ich biete mich.“

Jan hielt den Atem an. Das war nur eine Spielerei, beruhigte er sich. Ein Wortwechsel zwischen Betrunkenen, der sich aufgeschaukelt hatte.

Alles war still. Auch die anderen mussten gespürt haben, dass plötzlich etwas in den Raum getreten war, eine furchterregende, lusterregende Möglichkeit.

„Wie meinst du das?“ Gregor räusperte sich.

„Jeder, der um mich kämpfen will, muss sich melden. Danach bestimme ich die Regeln.“

„Ich bin dabei“, sagte Gregor forsch.

„Was, wenn sich sonst keiner stellt?“, erkundigte sich Michael.

Laura strich sich über den Körper und sah ihn an. „Dann ist Gregor der Sieger.“

Michael kehrte sich dem knisternden Feuer zu. Die Flammen wanderten an den Scheiten entlang und wallten hinauf, verbanden und verdrängten sich in ihrem ruhelosen Spiel und folgten doch einem Muster. Ein Scheit zerbrach, die Flammen loderten auf und suchten sich neue Wege. „Ich werde kämpfen“, sagte er, ohne den Blick zu heben.

„Und du, Jan?“, fragte Laura spöttisch. Laura als erste Frau? Von Gregor niedergeschlagen werden? Gegen Michael antreten? Er schüttelte den Kopf.

„Ein Zweikampf.“ Jenny erhob sich und drehte mit der Schnapsflasche eine schwankende Runde.

„Ich finde das keine gute Idee“, sagte Jan. „Ihr könntet euch verletzen.“

Michael blickte weiter ins Feuer.

„Und was bedeutet das für die Gruppe, wenn ihr euch prügelt?“, fügte Jan hinzu.

„Danach trinken wir einen Schnaps und sind wieder beste Freunde“, sagte Gregor pathetisch. Jan hätte ihn am liebsten herausgefordert, so ärgerte ihn, dass der sich als Michaels besten Freund bezeichnete.

Laura arbeitete sich aus ihrem Sessel hervor. „Seid ihr bereit?“

Sie traten aus dem Haus. Das Mondlicht schien so hell, dass das Dach der Veranda einen scharfen Schatten warf. Laura löste die Messingglocke neben der Tür von ihrer Schnur. Das Bimmeln drang in die Nacht, bis Laura den Klöppel festhielt. Sie führte die Gruppe auf das flache Terrain neben dem Haus. Jan meinte, Anna hinter ihrem Fenster auszumachen.

Laura wickelte den Kontrahenten Tücher um die Fäuste und zog sich zurück. „Nur schlagen, nicht treten. Wenn ich mit der Glocke ein Zeichen gebe, müsst ihr voneinander ablassen. Wer zu Boden geht, hat verloren.“

Jan verstand nicht, wie Michael darauf eingehen konnte. Gewiss, auch er spürte die Faszination dieses urtümlichen Kampfes, die Kraft dieser Szene, und selbst Gregors Worten vom Versöhnungsschnaps danach konnte er nicht jede Wahrheit abstreiten: Die ritualisierte Gewalt mochte die Gruppe nicht spalten, sondern zusammenschweißen. Und dennoch war es Wahnsinn! Er hielt Michael am Arm fest. „Lass dich -“

Michael schob ihn beiseite, ohne den Blick von Gregor zu wenden. Die beiden begannen zu tänzeln. Michael nutzte die Länge seiner Arme für einige Distanzschläge, doch Gregor blockte sie mühelos. Jans Herz hämmerte. Michael hatte keine Chance, Gregor würde ihn plattmachen. Er schloss die Augen und riss sie sogleich wieder auf, als ein Schrei ertönte. Michael stützte sich auf Händen und Knien ab. „Er hat verloren, der Kampf ist vorbei!“, schrie Jan hektisch.

„Er war noch nicht am Boden“, antwortete Laura.

„Gib auf, Michael!“, flehte Jan.

Michael spuckte und erhob sich. Gregor brachte die Arme wieder in Position und kam näher.

„Schlag ihm nicht wieder auf den Kopf“, rief Laura.

Michael boxte in Gregors Richtung, um ihn auf Abstand zu halten, doch seinen Schlägen fehlte sichtlich die Kraft. Gregor duckte sich unter einer gestreckten Linken hindurch und ließ seine Fäuste auf Michaels Seite und Bauch hageln. Laura, Jenny und Jan schrien durcheinander. Gregor sprang zurück.

Michael taumelte und glitt ins Gras. Jan stürzte zu ihm. Das Gesicht nach unten rang Michael um Atem. Jan drehte ihn vorsichtig auf die Seite. Eine Wange war geschwollen, der Mund blutverschmiert.

Laura kniete sich zu ihnen und ließ die Glocke los, die leise aufschlug und ohne Nachhall verstummte. „Ist alles okay?“

„Geht schon“, stieß Michael hervor. Er betastete seine Wange und fuhr mit der Zunge seine Zähne ab.

„Alle noch da?“

„Nur eine Wunde. Innen an der Wange.“ Er atmete flach und schnell. „Unterm Auge, was hab ich da?“

„Eine Prellung, glaube ich.“

„Die nächsten Tage werde ich wüst aussehen.“

„Ja“, sagte Laura unbestimmt und wickelte ihm die Tücher ab. Sie schien bestürzt über das, was sie angestiftet hatte.

Gregor war herangetreten und bot Michael seine Hand. Er schlug ein und ließ sich, zugleich von Jan gestützt, auf die Beine ziehen.

Eine Wolke legte sich vor den Mond. Als würde ein Licht abgedimmt, lösten sich ihre Schatten am dunklen Boden auf. Der Wald schien näher zu rücken.

Jenny reichte Gregor und Michael die gefüllten Gläser. Gregor hob den Arm. „Freunde?“

„Freunde!“ Sie stießen an.

„Ich stehe immer noch unter Spannung.“ Gregor ließ seinen Blick an Laura auf- und abwandern. „Du gehörst mir.“

„Und ich halte mein Wort.“ Der Schreck war ihr nicht mehr anzusehen, sie gab sich wieder cool.

„Widerstand wäre zwecklos.“

„Wenn ich mir anschaue, wie du Michael zugerichtet hast, will ich das nicht riskieren.“

Er nahm sie am Handgelenk und zog sie zum Haus.

„Kann ich noch etwas für dich tun?“, fragte Jenny.

„Danke“, antwortete Michael. „Ich berappele mich schon wieder. Du musst wohl bei uns im Zimmer schlafen. Ich bleibe noch ein bisschen an der frischen Luft. Jan, leistest du mir Gesellschaft?“

Jenny verabschiedete sich mit einem mitleidigen Blick.

„Wahrscheinlich hätte ich die Situation ausnutzen und mich von ihr pflegen lassen sollen“, murmelte Michael.

Jan hielt es für klüger, das Gespräch ruhig angehen zu lassen, als nach Michaels plötzlichem Sinneswandel in puncto Frauen zu fragen. „Es ist so viel passiert, worüber wir reden sollten. Mir schwirrt der Kopf.“

„Dabei hat dir Gregor nicht einmal draufgehauen.“ Michael lachte, ohne den Mund zu verziehen.

Jan konnte den Ärger nicht zurückhalten. „Warum hast du dich auf den Kampf eingelassen? Das war viel zu gefährlich!“

„Was weiß ich?“ Michael spuckte und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. „Vielleicht aus Frust.“

„Frust? Wieso?“

„Stell dich nicht dumm. Wegen Anna, was sonst? Sie hat mir das ja von Anfang an vor Augen geführt. Erst rennt sie mitten bei meiner Rede weg, um sich ein Glas Wasser zu holen. Und danach macht sie sich über mich lustig, weil ich kein Arzt bin und nicht weiß, wie man Spritzen setzt. Und dann stiehlt sie sich gleich am ersten Abend mit dir davon, aber als ich sie gestern für einen Spaziergang mitnehmen wollte, hat sie nein gesagt. Vom Lagerfeuer brauche ich dir ja nichts zu erzählen. Eigentlich hätte ich auf das vorbereitet sein müssen, was ich heute zu lesen bekommen habe.“

„Ja, ich glaube, mit Anna wird das nichts.“

„Hast du gesehen, wie sie bei Jennys Striptease abgezogen ist? Die wird sich auf nichts und niemanden einlassen!“

Dass Michael das endlich einsah, erleichterte Jan. Er versuchte, ihn aufzumuntern: „Wir können trotzdem eine tolle Zeit hier verbringen.“

Michael hob den Kopf und legte ihn leicht schräg. Jan dachte, dass er irgendeinem Schmerz nachfühlte, da hörte auch er es: ein fernes Heulen.

„Wölfe?“, flüsterte Michael.

„Möglich.“ Das Heulen war sehr leise, und Jan kannte es nur in voller Lautstärke vom Fernseher.

Michael schnaubte verärgert. „Gregor meint, wir sind wie ein Wolfsrudel und brauchen einen Führer. Aber ich will ihm das Feld nicht kampflos überlassen. Beim Ringen um Lauras Kuss habe ich ihn abgeschüttelt. Danach habe ich mir vorgestellt, wie ich ihn beim Boxen umhauen würde. Was soll‘s.“ Er streckte sich und stöhnte. „Wäre nicht schlecht, wenn Gregor und Laura nach dieser Nacht ein bisschen runterkommen. Zugegeben, ich habe mit dem Grenzenüberschreiten als Motto angefangen. Dass die beiden gleich so Gas geben würden ...“

„Ja, die waren heftig drauf.“

Michael machte einige vorsichtige Schritte an Jans Seite. „Danke, dass du mir vorhin zur Seite gesprungen bist, bei dem Gerangel am Kamin. Im Notfall kann ich mich auf dich verlassen.“

Jan hoffte, dass es dazu nicht kommen würde. Annas Tagebuch, das alle aufgebracht und Michaels Hoffnungen zerstört hatte, der Alkohol, die angeheizte Stimmung nach dem Striptease, Lauras erotisches Angebot, das sich zufällig aus dem Gespräch entwickelt hatte, der Machtkampf zwischen den beiden Alpha-Männchen – an diesem Abend war einiges zusammengekommen.

Zum Glück war das Boxen halbwegs glimpflich ausgegangen. Die Spannung würde sich nach dieser gefährlichen Entladung legen. Morgen würden alle erschrecken, wie unverantwortlich sie sich verhalten hatten, und von nun an friedlicher miteinander umgehen.

Die beiden Freunde wandten sich zurück zum Haus. Im Mädchenzimmer flackerte Kerzenlicht. Zwei Hände drückten sich dunkel und unbeweglich gegen die Fensterscheibe, auf der übergroße Schatten zitterten.