8. Tag
Jan träumte von Anna unter dem Wasserfall und Anna, wie sie mit ihm Hand in Hand über die Wiese rannte, und Anna, die sich auf dem Rückweg den Mund mit Himbeeren verschmierte. Ein Bett quietschte, er schlug die Augen auf. Michael wühlte sich aus der Decke und erklärte, dass er zum Klohäuschen gehe. Jan schloss sich ihm an, damit sie auch Gregor dorthin eskortieren könnten.
Über Nacht hatte es geregnet und graublaue Wolken zogen tief dahin. Von den Bergen war nichts zu sehen. Wassertropfen bedeckten den synthetischen Bezug der Liegestühle, aus der Regenrinne an der Hausecke plätscherte es auf die Steine darunter.
Sie gingen zum Schuppen, der durchweichte Boden schmatzte unter ihren Schuhen. Michael stellte sich schussbereit einige Meter entfernt auf. Der Schlüssel, den sie auf dem Fensterbrett der Küche aufbewahrten, damit ihn niemand versehentlich auf einen Ausflug mitnahm, war kalt. Jan öffnete das Vorhängeschloss und zog die Tür auf. Er starrte ins Dunkel: Gregor fehlte!
Jan trat ein, hob Decke und Matratze an, suchte am Boden und an der Wand nach einem Loch. Es gab keine Erklärung, wie ihr Gefangener entkommen war. Konnte Laura ihn freigelassen haben? Sogleich schämte er sich dieses Verdachts. Laura war stinksauer auf Gregor.
Michael rief von draußen und wies auf eine Latte, die unten ein wenig abstand. Jan ging in die Hocke und bog die Latte nach oben. Gregor musste mit unzähligen leichten Schlägen die Nägel aus dem Querbalken gelöst haben. Bei dem Regen hatte Anna, die über dem Schuppen mit halboffenem Fenster schlief, nichts mitbekommen. Doch die Latte zur Linken war fest, die zur Rechten nur ein wenig gelockert. Offensichtlich hatten die Nägel hier Gregors Bemühungen widerstanden. Er konnte sich unmöglich unter der einen Latte herausgewunden haben.
Jan suchte im Schuppen nach Indizien. Der Eimer, den Gregor nachts als Klo benutzen konnte, war leer, seine zerwühlte Decke kalt. Auf dem Stuhl lagen ein Buch, eine Packung Taschentücher, ein Deo-Roller. Sämtliche Kleidung und den Kulturbeutel hatte Gregor mitgenommen.
Ihnen blieb nur, sich gefasst auf die neue Lage einzurichten. Sie gingen in die Küche und klappten die Fensterläden auf. Die nasskalte Luft schlug ihnen entgegen. Jan blickte hinaus und lauschte den Tropfen, die vom Dach klatschten. Michael machte Kaffee und rief nach den Mädchen.
Anna kam herunter und grüßte heiter. Ihr Lächeln erstarb. „Ist was passiert?“
„Gregor ist weg.“ Michael hielt ihr eine dampfende Tasse entgegen. „Kein Grund zur Panik.“
„Hast du mich schon mal in Panik gesehen?“, erwiderte Anna kühl.
Laura platzte herein und griff sich die Tasse, die Anna ignoriert hatte. „Die Letzten werden die Ersten sein.“ Sie hielt sich die Tasse an die Nase und inhalierte den Duft. „Hm. Wie hat der Herrgott das bloß gemacht: die Welt schöpfen ohne Kaffee. Ehrlich, dass irgendjemand die Energie hatte, den Kaffee zu erschaffen, bevor es -“ Sie blickte auf. „Bei euch alles in Ordnung?“
„Gregor ist weg“, sagte Michael im gleichen ruhigen Tonfall wie eben.
„Das hat er jetzt davon.“ Laura blies in die Dampfsäule vor ihrem Gesicht. „Er kriegt keinen Kaffee mehr.“
„Ich verfalle sicherlich nicht in Panik, aber ganz so locker würde ich das nicht nehmen“, sagte Anna. „Er hat keine Verpflegung, und er ist nicht gerade der Typ, der drei Wochen vor sich hin meditiert. Er wird uns bald genug besuchen.“
„Habt ihr eigentlich Jenny gesehen? Ich dachte, sie wäre –“ Laura machte eine ruckartige Bewegung, der Kaffee schwappte über. „Autsch – Scheiße!“
„Nein. Ist sie nicht oben?“
„Sie ist heute Nacht aufgestanden und hat sich wasserdicht angezogen. Ich bin nur halb aufgewacht, ich dachte, sie will aufs Klo, und bin gleich wieder weggeknackt. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.“
„Kann sie ihn rausgelassen haben?“ Michaels Stimme klang plötzlich heiser.
„Jenny Gregor? Hackt’s bei dir?“ Laura redete in ihrer Aufregung viel zu laut dafür, dass sie dicht beieinander in der Küche standen.
„Jedenfalls ist sie auch weg.“
„Er hat sie entführt!“
„Aber damit er sie entführen kann, muss ihn erst jemand rausgelassen haben. Der Schuppen ist intakt, bis auf eine lockere Latte – er hat sich nicht selbst befreit.“
„Jemand hat die Tür offen gelassen. Oder falsch abgeschlossen.“
„Ich glaube, ich war der Letzte, der den Schuppen abgeschlossen hat.“ Jan vergegenwärtigte sich den Vorgang. „Und ich habe wie immer dreimal hingeschaut, dass ich keinen Fehler gemacht habe.“
„Und ich war gestern relativ spät auf dem Klohäuschen“, sagte Anna, „da habe ich das Schloss kontrolliert, es war definitiv korrekt gesichert.“
„Vielleicht ist Jenny -“, Michael räusperte sich, „aus einem anderen Grund zu ihm gegangen?“
Anna schüttelte den Kopf. „Und wenn er ihr die gesamte Hotelkette versprochen hätte, für die sein Vater arbeitet – Jenny hat ihn gehasst für das, was er ihr angetan hat.“
„Wie sehr hat sie ihn gehasst?“
„Er hat sie vergewaltigt!“
„Ich weiß, aber -“
„Was, aber?“
„Aber sie kann ihn doch trotzdem mehr oder weniger hassen.“
„Du meinst, vielleicht ist sie ihm heimlich dankbar, dass –“
„Was soll das? Warum legst du mir so etwas in den Mund?“
„Schon gut, sorry.“ Anna senkte den Kopf. „Als Gregor ihr den Arm verdreht hat und ich ihr nachgelaufen bin, hat sie nicht viel gesagt. Aber ich glaube, sie hätte ihn am liebsten abgeknallt.“
„Darauf will ich hinaus. Sie könnte zu ihm gegangen sein, um sich zu rächen.“
„Jenny?“ Laura machte ein ungläubiges Gesicht. „Die steht nicht plötzlich zwei Nächte später auf, um ihn umzulegen.“
„Nein, eher nicht“, sagte Michael. „Außerdem lehnte das Gewehr heute Morgen neben meinem Bett, wie ich es hingestellt hatte.“
„Schaut euch das an!“ Anna war in die Vorratskammer gegangen, die anderen drängten ihr nach. Die Regale waren an einigen Stellen in Unordnung, eine aufgerissene Müsliriegel-Verpackung lag am Boden.
„Ich sage doch schon die ganze Zeit, dass er sie überfallen hat, als sie aus dem Haus gekommen ist“, rief Laura. „Er hat sich in der Küche bedient und danach ... vielleicht hat er sie außer Rufweite an einen Baum gefesselt.“
„Mit ihren Schnürsenkeln?“ Anna deutete auf die beiden Seile, die noch an der Wand hingen.
„Oder er hat sie verschleppt.“
„So doof ist er nicht. Er kommt mit ihr langsamer voran und wir verfolgen ihn, um sie zu befreien. Außerdem muss er den Vorrat mit ihr teilen, wenn es ihm gelingt, sich irgendwo fernab mit ihr zu verstecken. Ein bisschen doof muss er allerdings sein, sonst wäre er hiergeblieben. Mit dem Catering, das wir ihm geboten haben, hatte er es ziemlich gut, dreimal besser als in der Wildnis.“
„Er hat sich zu Tode gelangweilt. Am ersten Tag hat er Rabatz gemacht, aber die Aussicht auf drei Wochen ...“ Laura fuhr sich durchs Haar und ließ die Luft zischend aus ihren aufgeblasenen Wangen entweichen. „So wie ich ihn kenne, hätte ich mir denken können, dass er da ausflippt.“
Jan entwich dem Gedränge in der Vorratskammer. „Ich gehe noch mal raus und suche nach Spuren.“
Die anderen folgten ihm.
„Was ist das?“ Anna blieb auf den Stufen der Veranda stehen und wies auf den See.
Nicht weit von ihrer Badestelle dümpelte ein roter Fleck. Als sie sicher waren, dass er sich nicht bewegte, rannten sie den schlammigen Pfad hinunter zum Ufer.
Zwei Gestalten saßen im Kanu. Die vordere in der gelben Jacke musste Jenny, die hintere, größer und schwarz bekleidet, Gregor sein. Der schrie etwas, doch der Wind trug es fort. Hier unten blies es stärker als auf ihrer geschützten Lichtung. Das Schilf bog die Köpfe und kleine Wellen spülten über den Kies. „Nicht schießen“, diesmal legte Gregor die Hände an den Mund, „zu gefährlich!“
Michael senkte das Gewehr.
Gregor paddelte näher. „Ich tausche Jenny gegen einen großen Rucksack mit Essen, Kleidung und Decken. Und ich will das Gewehr!“
Sie sahen sich bestürzt an.
„Hat er sie also doch entführt.“ Laura schien eine gewisse Befriedigung daraus zu ziehen, dass sie recht gehabt hatte.
„Alles außer dem Gewehr“, sagte Anna. Die anderen nickten.
„Einverstanden“, schrie Michael, „aber das Gewehr behalten wir!“
„Ich habe keinen Bock, dass ihr mich umlegt! Ich brauche das Gewehr!“
„Warum sollten wir dich umlegen?“
„Anna hat mir gedroht, dass ich das Tal nicht lebend verlasse.“
Michael wandte sich zu Anna. „Stimmt das?“
„Falls er sich nochmal an einem von uns Mädchen vergreift, habe ich gesagt. Ich wollte ihm Angst machen.“
„Das war ein Missverständnis“, schrie Michael zu Gregor. „Niemand will dir etwas tun. Wenn du Jenny freilässt, verfolgen wir dich nicht!“
„Versprecht ihr das?“
„Ja!“
„Okay, Laura und Michael, ihr holt die Sachen. Nehmt das Gewehr mit und lasst es im Haus.“
Die beiden eilten davon.
„Wie bist du aus dem Schuppen raus?“, schrie Anna über den See.
Gregor dachte kurz nach. „Das geht euch nichts an!“
Jan holte tief Atem und rief: „Jenny, ist bei dir alles in Ordnung?“
Gregor stieß sie mit dem Paddel und antwortete an ihrer Stelle: „Haltet die Klappe, bis die Sachen da sind.“
Sie warteten. Gregor paddelte ab und an rückwärts, um nicht abgetrieben zu werden. Jan fragte sich, was Gregor seit der Entführung mit Jenny gemacht haben mochte. Zumindest saß sie aufrecht und wirkte unverletzt. Sobald Gregor in ihre Hände fiele, erklärte Anna, würde sie ihm persönlich die Fesseln anlegen und darüber wachen, dass niemand sie ihm abnähme, bis er in Polizeihaft sei.
Am Waldrand erschien Laura und einige Meter hintenan Michael mit einem großen, prallgefüllten Rucksack. Als er ihn am Ufer abgelegt hatte, befahl Gregor ihnen, hundert Schritte zurückzugehen.
Sie folgten der Anweisung. Daraufhin paddelte er, bis das Kanu im Flachen aufsaß, sprang barfuß und mit hochgekrempelten Hosen heraus und lief zum Rucksack. In der Hand hielt er das Filetiermesser, mit dem er einige Tage zuvor die Fische ausgenommen hatte. Ohne die Gruppe aus den Augen zu lassen, packte er den Rucksack, kehrte zum Kanu zurück, warf ihn hinein und stieg mit einem Bein hinterher.
Jan erwartete, dass nun Jenny aussteigen würde, doch sie blieb sitzen. Hielt Gregor die Abmachung nicht ein? Schon stieß er sich vom Grund ab, hielt sich an beiden Seiten fest, ließ sich auf der Rückbank nieder und glitt mit schnellen Schlägen auf den See hinaus.
Sie rannten zum Ufer. Gregor rief: „Jenny hat mir die Tür geöffnet. Wir -“
Jenny kreischte mit ihrer hellen, zarten Stimme etwas, das nach ‚Er lügt‘ klang. Gregor übertönte sie. Jenny versuchte es noch einige Male, doch Gregor setzte jeweils mit einem wilden Geschrei ein, das ihre Worte unverständlich machte.
„Lass sie frei“, brüllte Michael, „sonst kriegen wir dich!“
„Kanaille“, schrie Anna.
Gregor entfernte sich kraftvoll in Richtung Osten.
„Wir müssen ihnen nach, am Ufer!“ Anna machte einen Schritt.
Michael hielt sie zurück. „Er ist schneller als wir. Und bis zum Seeende ist es weit. Wir müssen Proviant holen, und das Gewehr.“
„Wir dürfen sie nicht aus dem Blick verlieren!“
„Das ist unvermeidlich. Lasst uns nachdenken. Warum hat er sie nicht freigelassen?“
„Aus Sadismus“, fauchte Laura. „Und für sein Machtgefühl.“
Das entsprach zwar Gregors Neigungen, dennoch schien es Jan unwahrscheinlich, dass der eine solche Entscheidung ohne praktische Gründe getroffen hatte. „Er muss einen Plan haben.“
„Ich habe den Rucksack vollgestopft, damit er reichlich versorgt ist und sich nicht wieder blicken lässt“, sagte Michael. „Mit den Vorräten, die er schon am Morgen eingesackt hat, ist er extrem beladen. Möglicherweise will er Jenny als Trägerin ein Stück mitnehmen.“
„Lohnt sich das für ihn?“
„Er könnte seine eigenen Kräfte schonen und heute einiges weiter kommen, wenn er sie am Anfang ordentlich belädt. Außerdem suchen wir dann mehr nach Jenny als nach ihm.“
„Eine Scheißsituation“, sagte Anna. „Wir wissen nicht, wo er sie freilässt und wie sie zurückläuft, und solange wir sie nicht gefunden haben, wissen wir nicht einmal, ob sie nicht noch bei ihm ist.“
„Wir sollten uns aufteilen und in zwei Gruppen suchen. Jeweils ein Junge geht mit einem Mädchen.“
Jan blickte dem Kanu nach, das zu einer dunklen Erhebung auf der gekräuselten Wasseroberfläche zusammengeschmolzen war. „Was, wenn sie ins Haus kommt und keiner ist da? Sie ist vielleicht mit den Nerven am Ende. Gregor hat sie seit Stunden in seiner Gewalt, und nach dem, was er schon mit ihr gemacht hat ...“
„Eine Gruppe kann am Ufer entlang, wo Jenny am wahrscheinlichsten lang kommt“, schlug Michael vor. „Wenn die Gruppe Jenny nicht findet, läuft sie weiter, übernachtet und dreht erst morgen Vormittag ab, so dass sie es morgen Abend gerade noch nach Hause schafft. Die andere Gruppe geht Jenny im Wald entgegen und kehrt noch heute Abend zurück, um sich um sie zu kümmern, falls sie im Haus sitzt.“
„Dann übernehmen Jan und ich das Ufer“, entschied Anna. „Ich bin ausdauernder als Laura.“
Die anderen stimmten zu. Sie liefen zum Haus und packten die Tagesrucksäcke. Jan und Anna nahmen Isomatten, Decken und ein zusammengerolltes Seil mit, das sie auf zehn Meter zugeschnitten hatten. Vom Balkon aus konnten sie das Kanu gerade noch erkennen. Sie marschierten gemeinsam los.
Bald begann es zu nieseln. Der Wind trieb sie von hinten an, kleine Schaumkronen rollten über das Wasser neben ihnen her. Am Biberbau erfasste Jan Niedergeschlagenheit. Gestern hatte er hier alle Sorgen vergessen – und nun? Im besten Fall würden sie drei Wochen in Angst vor Gregor absitzen, der sie jederzeit wieder heimsuchen könnte. Nicht einmal zum See würden sie sich mehr trauen, denn sie hatten nur ein Gewehr und durften das Haus nicht unbeaufsichtigt lassen. Wie würde er sich mit Anna verstehen, wenn sie tagein, tagaus am gleichen Fleck herumhingen und sich langweilten? Sogleich dachte er an Jenny und schämte sich seines Selbstmitleids.
Nach etwa der Hälfte der Strecke trennten sie sich. Michael gab Jan das Gewehr und bog mit Laura in den Wald ab. Jan und Anna hielten sich weiter ans Ufer, das immer unwegsamer wurde. Als sie einen Bach überquerten, verrutschte ein Stein unter Jans Fuß. Wasser schwappte kalt über den Rand seines Wanderschuhs. Er schimpfte auf den Stein und sich selbst und eilte Anna hinterher. Hauptsache, er hatte das Gewehr nicht fallen lassen.
Schließlich war das Ufer derart von Tümpeln und Schilf durchsetzt, dass sie in den Wald auswichen. Felswände verliefen ein wenig landeinwärts den See entlang. Sie mussten über deren Ausläufer klettern, so dass sie auch hier nur mühselig vorankamen. Also versuchten sie es wieder mit dem Ufer. Der Rückenwind hatte nachgelassen und es regnete stärker. Sie wechselten kaum ein Wort.
Jan fragte sich, was Gregor getrieben haben könnte. Er würde sich nach ihrer Rückkehr bereits für eine versuchte und eine vollendete Vergewaltigung verantworten müssen. Wieso verschlimmerte er seine Situation, indem er mit einem Messer eine Geisel nahm? Sie hatten ihn etwa 24 Stunden gefangengehalten. War es möglich, dass sich Gregor in der Zeit in einen Film hineingesteigert hatte, in dem er einer entwürdigenden, ungerechten Behandlung entfloh und sich glorreich als Einzelkämpfer in der Wildnis durchschlug? So sehr sich Jan dagegen wehrte, er musste sich eingestehen, dass dieser Film ungleich mehr Appeal für Gregor hatte, wenn Jenny darin seine Sklavin war. Aber das ging zu weit! Das würde Gregor nicht wagen.
Zum Ende des Sees hin mussten sie sich im Nadelwald durch dichtes Unterholz kämpfen, das direkt an die steile, schwer einsehbare Böschung reichte. Schließlich fanden sie einen Felsvorsprung, der ihnen freie Sicht aufs Ufer gewährte. Jennys gelbe Jacke war nirgends auszumachen. Dafür entdecken sie etwas weiter den Abfluss des Sees. Wieso hatten sie daran nicht gedacht? Gregor konnte mit dem Kanu weitergefahren sein!
Sie hasteten los, als würde auf einmal jede Sekunde zählen. Der Abfluss verteilte sich unauffällig auf drei schmale Arme. Erst ein wenig weiter vereinten sich diese zu einem Fluss, der die Hälfte des etwa zwanzig Meter breiten Kiesbetts bedeckte. Sie kamen rasch voran, doch ein Ast tanzte neben ihnen mit fast gleicher Geschwindigkeit auf dem Wasser. Paddelnd konnte Gregor seinen Vorsprung vergrößern.
Der Fluss schnitt sich tiefer ins Gelände ein. Bald darauf hörten sie ein Rauschen, der Fluss brodelte über hundert Meter durch eine felsige Einfassung. Die Stelle schien unbefahrbar. Und tatsächlich lag das Kanu hinter einem Busch am Ufer.
Sie rannten hin und suchten nach Spuren. Abdrücke unterschiedlicher Größe führten die Böschung hinauf in den Wald. Doch im Ebenen verliefen sich die Tritte. Etwas weiter hing ein Moosgeflecht lose an einem Stein, danach fanden sie keine weiteren Fährten und gestanden sich ein, dass sie keine Spurenleser waren. Entmutigt setzten sie die Rucksäcke ab, aßen Brot und Wurst und besprachen die Lage. Anna teilte Jans Befürchtung, dass Gregor Jenny bei sich behalten würde.
Ohne Sonne war die Uhrzeit schwer zu schätzen. Es musste früher Nachmittag sein. Seit der Übergabe waren etwa vier Stunden verstrichen, Gregor verfügte über mindestens zwei Stunden Vorsprung. Er würde vermutlich bis zum Abend gehen, ehe er sein Lager aufschlug. Auf eine solche Distanz konnten sie unmöglich irgendwelchen Spuren folgen. Ihnen blieb nichts übrig, als auf gut Glück ebenfalls gen Osten zu laufen.
Sie stapften durch den eintönigen, nassen Wald. Wenn ein Windstoß über sie hinwegzog oder ein Schauer niederging, rauschte es. Gelegentlich scheuchten sie Vögel auf, einmal huschte ein Fuchs vor ihnen durchs Gebüsch. Nachdem sie lange gewandert waren, fühlte sich Jan so ausgelaugt, dass er auf einer Pause bestand. Seine Schuhe waren mittlerweile beide durchweicht. Er versuchte, Anna in ein Gespräch zu verwickeln, und schnitt verschiedene Themen an, an denen sie sonst interessiert war. Doch sie ließ sich nicht darauf ein, sondern trieb Jan bald zum Aufbruch.
Mit den Stunden ließ seine Anspannung nach, obwohl sie jeden Augenblick auf Gregor stoßen konnten. Das Adrenalin war aufgebraucht. Seine ganze Konzentration galt den Wurzeln, Stümpfen und Büschen am Boden, über die er zu stolpern drohte, und den tiefen Ästen, an denen er sich bereits mehrfach den Kopf gestoßen hatte. Wenigstens musste er sich nicht darum kümmern, eine Route um Dickichte und Steilstellen herum zu finden – das übernahm Anna, die stets einige Meter vor ihm lief. Auch setzten die Schauer endlich aus.
Gegen Abend stießen sie auf einen Elch, der behäbig auf einer Wiese graste. Sein Geweih weitete sich zu mächtigen Hornplatten, die zu Spitzen unterschiedlicher Länge ausliefen. Unter seiner Schnauze wuchs eine Art Bart, der über den Boden schlabberte, wenn er den Kopf senkte. Sie schlichen sich zurück und schlugen einen Bogen.
Bald darauf kamen sie an eine Fläche, auf der ein Waldbrand gewütet hatte. So weit sie sehen konnten, erstreckte sich das Heer der rußigen Baumskelette und versengten Stümpfe. Der Boden war übersät mit hellgrünen Büschen und Sprösslingen.
Sie überlegten, dass Gregor in der Gegend sein Lager aufgeschlagen und ein Feuer entzündet haben könnte, um sich zu wärmen, zu kochen und wilde Tiere fernzuhalten. Das bot eine Chance, ihn ausfindig zu machen, ehe das diffuse Licht zu weit abgenommen haben würde, um Rauch zu sehen.
Anna kletterte auf einen unversehrten Baum. Wieder am Boden angelangt berichtete sie, dass sich die Schneise quer durchs halbe Tal zöge und an die zwei Kilometer breit sei. Sie beschlossen, diese noch zu überqueren und auch auf der anderen Seite Ausschau zu halten.
Da das Tageslicht schwand, eilten sie durch den jungen Bewuchs, der ihnen kaum bis zur Brust reichte. Jan ging vorne, Anna folgte, das Gewehr vor der Brust, mit einigen Metern Abstand. Oft raschelte es, ohne dass sie ein Tier gesehen hätten. Falls Gregor hier am Boden lag, konnten sie im wahrsten Sinne des Wortes über ihn stolpern. Ihre Nerven waren aufs Neue so angespannt, dass jedes Pochen der Spechte sie herumfahren ließ. Etwas brüllte, tief und laut. Sie beruhigten sich: Es kam von weit und war eher das Röhren eines Elchs als Bärengebrüll.
Das Ende der Brandschneise rückte näher. Jan wollte aus dieser gespenstischen Umgebung herauskommen und wieder sehen, wohin er seine Füße setzte. Doch Anna reichte ihm das Gewehr und kletterte auf einen besonders hohen Baum, dessen Wipfel neu ausgeschlagen hatten. Sie schaute lange, dann ließ sie sich so rasch am feuchten Stamm hinuntergleiten, dass Jan es mit der Angst zu tun bekam.
Kaum stand sie wieder, flüsterte er: „Übertreib’s nicht! Du brichst dir noch -“
„Ich habe Rauch gesehen!“
„Wo?“
„Im Wald, ein paar Hundert Meter weiter im Norden.“ Sie deutete mit einer rußverschmierten Hand die Richtung.
„Bist du dir sicher?“
„Nein, das Licht ist schon zu schwach, das kommt durch die dicken Wolken nicht mehr ordentlich durch.“
„Was machen wir?“
„Wir nehmen ihn in die Zange.“ In ihren Augen brannte das Jagdfieber.
„Auf keinen Fall! Wir bleiben zusammen. Wir wollen bloß sichergehen, dass er Jenny nicht mehr bei sich hat. Und falls er sie tatsächlich noch gefangenhält und abhaut, muss er sie zurücklassen.“
„Wenn er sie missbraucht hat, darf er nicht entkommen!“
Jan packte Anna am Arm. „Hör zu! Wir wollen Gregor nicht bestrafen, darum muss sich später ein Gericht kümmern.“
Anna lachte abfällig. „Bis jetzt hat er wenig zu befürchten. Dass er mich vergewaltigen wollte, kann ich nicht nachweisen. Dass Jenny es sich in letzter Sekunde anders überlegt hat, wird ihr kein Richter glauben. Und dass er sie entführt hat, hat er damit gerechtfertigt, dass er um sein Leben fürchtet.“
„Wenn er so weit vorausdenkt, hat er Jenny nichts getan.“
„Bei Gregor weiß man nie, ob es nicht mit ihm durchgeht.“
„Wir sollten ihm jedenfalls keinen Vorwand liefern, etwas gegen uns zu unternehmen, was er nachträglich als Notwehr auslegen kann. Wir beobachten ihn eine Weile, und wenn wir sicher sind, dass er Jenny nicht hat, schleichen wir uns davon.“
Anna dachte nach und nickte. „Ich nehme das Gewehr.“
Jan gab es ihr, er wollte es sowieso nicht haben. Gregor bei der Verhaftung im Salon bedrohen zu müssen, hatte ihm gereicht. Er fürchtete, im entscheidenden Augenblick nicht abdrücken zu können – und diesmal hatte Gregor ein Messer.
Sie liefen geduckt nach Norden. Das Tal verengte sich an dieser Stelle auf wenige Kilometer, die wolkenverhüllten Berge schienen zum Greifen nah. Außer dem Klopfen eines Spechts und ihren knackenden, raschelnden Tritten war nichts zu hören. Anna schwenkte zum Wald hin um. Unter dem dichten Blätterdach wuchs wenig Unterholz, das ihnen hätte Deckung geben können. Dafür war es hier bereits dunkler als auf der Schneise. Sie ließen sich auf alle viere sinken und krabbelten weiter. Nasse, kalte Erde klebte an Jans Händen.
Er fragte sich, weshalb Kriegsspiele, bei denen sich Menschen in freier Natur mit Farbpatronen beschossen, so beliebt waren. Der Angstschweiß rann ihm an den Innenseiten der Arme herunter und er hielt kurz an, um sich die Achseln abzureiben. Das war die Welt von Typen wie Gregor, nicht seine. Er war dafür nicht gemacht! Aber er musste Anna hinterher, die einige Meter vor ihm krabbelte, obwohl sie mit dem Gewehr an zweiter Position bleiben sollte.
Er berührte etwas Glitschiges. Es war einer der schwammigen Pilze, die auf morschem Holz wucherten. Er wischte sich die Hand an der Regenhose ab. Als er wieder aufblickte, lag Anna regungslos auf dem Bauch. Für einen Sekundenbruchteil wollte er zu ihr stürzen, dann streckte auch er sich flach aus.
„Pst“, flüsterte Anna, kaum vernehmbar. „Ich habe Funken gesehen. Komm langsam her.“
Er robbte neben sie.
„Hinter dem Gebüsch.“ Sie wies nach halbrechts, wo ein Schimmern über die Blätter huschte.
„Wir beobachten nur.“
„Schau du nach hinten, damit er uns nicht überrascht.“
Jan drehte sich behutsam um und ließ den Blick durch den dunkelnden Wald schweifen. Die Kälte stieg durch die Kleidung in seine Glieder. Er bewegte seine eisigen Zehen. „Und?“
„Pst.“
Konnten sie nicht einfach zum Feuer hinübergehen und nachsehen? Sie hatten ein Gewehr! Aber wer konnte wissen, wie Gregor reagieren würde. Es war vernünftiger, ihn zunächst auszuspähen – das hatte Jan selbst vorgeschlagen.
Ein Windstoß drang bis zum Boden. Es roch nach Rauch. Jan meinte sogar, herausriechen zu können, dass es ein Feuer aus feuchtem Holz war, das mehr schwelte als brannte. Für einen Moment erging er sich in der Überlegung, dass Rauch eigentlich immer trocken und der Feuchtigkeitsgehalt des Holzes daher nicht herauszufinden sei. Allerdings konnte verbranntes Holz unterschiedlich riechen, zum Beispiel harziges –
In seiner Nase kitzelte es. Er kämpfte dagegen an und presste sein Gesicht in den Ellenbogen. Aus dem Niesen wurde ein Quietschen.
Alles war wieder still. Jan zählte die Sekunden, bis zehn, bis zwanzig – nichts geschah.
Ein Ratschen, Anna bewegte sich ruckartig. Jan drehte sich zu ihr, sie stand direkt neben ihm, das Gewehr im Anschlag, und schrie: „Bleib stehen oder ich schieße!“
„Nein!“ Gregors angsterfüllte Stimme kam aus der Richtung des Gebüschs. „Ich ergebe mich! Tu das Gewehr weg!“ Jan erhob sich und sah Gregor einige Meter hinter dem Gebüsch. Er musste das Niesen gehört und versucht haben, in die entgegengesetzte Richtung zu entkommen.
„Rühr dich nicht! Wenn du dich bewegst, leg ich dich um!“ In Annas Stimme schwang solche Wut, dass Jan eine Gänsehaut bekam. Würde sie wirklich schießen? Bilder flimmerten ihm durch den Kopf: Gregor mit einem blutigen Loch im Bauch, das Gesicht schmerzverzerrt, sie hilflos daneben, panisch, während seine Züge erstarrten und der röchelnde Atem erstarb.
„Ihr dürft mir nichts tun!“ Gregor streckte die Hände über den Kopf. „Das muss erst ein Gericht feststellen, dass ich schuldig bin. Ihr könnt nicht einfach -“
„Das wirst du gleich sehen!“ Anna näherte sich Gregor in kleinen Schritten, den Lauf des Gewehrs auf ihn gerichtet. „Jan, bleib aus der Schusslinie.“
Mit einigen Schritten Abstand folgte er ihr. Sie ging um Gregor herum und setzte ihm die Mündung an den Hinterkopf. „Durchsuch ihn!“
Jan fand in den Jackentaschen Brot, Wurst, Angelhaken und ein Feuerzeug. Als er die Hosentaschen durchwühlte, sah er die Spitze des Filetiermessers unter Gregors Schuh hervorragen. Er schob den Fuß zur Seite und nahm es an sich.
Anna führte Gregor zum Feuer und befahl ihm, sich auf den Bauch zu legen und die Arme nach hinten auszustrecken. Sie reichte Jan das Gewehr, holte das Seil aus dem Rucksack, kniete sich auf Gregors Rücken und fesselte ihn.
„Du schnürst mir das Blut ab!“, protestierte er.
„Wir schauen nachher, wie es deinen Händen geht.“
„Ich hab nichts getan!“
Sie stand auf und nahm Jan das Gewehr ab. Trotz der Dunkelheit glitzerte der Hass in ihren Augen. Sie versetzte Gregor einen Tritt in die Seite. „Du weißt genau, dass du es getan hast!“ Jan zuckte zusammen. Was war in Anna gefahren?
Gregor rollte auf die Seite und starrte zu ihr herauf. „Nein, nein!“
„Gib es zu, du Drecksack!“
„Ich schwöre!“
Anna presste ihm die Mündung gegen die Stirn und brüllte: „Ich knall dich ab!“
„Bitte, glaub mir -“
„Sag es!“
Alles drehte sich um Jan. Er hatte Angst vor Annas Raserei. Zugleich fürchtete er, dass sie mit ihrem Geschrei eine Gefahr anlocken könnte – dabei würde sie wilde Tiere eher verschrecken. Und es verunsicherte ihn, dass etwas Dramatisches vor sich ging, das er nicht begriff. „Anna! Nimm das Gewehr weg!“
„Lass mich!“
„Er ist gefesselt, er kann uns nichts tun.“
„Ruhe!“
„Ich verstehe das alles nicht. Warum fragst du ihn nicht nach Jenny?“
„Sie ist nicht -“ Gregors Kinn klappte nach unten.
Anna zog das Gewehr zurück und schnauzte Jan an: „Jetzt weiß er es.“
„Was?“
„Dass wir sie nicht gefunden haben.“
„Na und?“
„Also wird er den Teufel tun und verraten, was er mit ihr gemacht hat.“
„Er hat sie nicht freigelassen?“
„Doch!“, rief Gregor. „Ich habe sie freigelassen, nach zwei Stunden, zwei Stunden, nachdem wir angelegt hatten. Ich habe sie Gepäck tragen lassen, aber dann wurde sie zu langsam und ich habe sie mit etwas Essen zu euch geschickt.“
„Du hast sie vergewaltigt!“, fauchte Anna.
„Nein. Sie ist freiwillig mit mir ins Bett.“
„Heute hast du sie nochmal -“
„Das ist nicht wahr! Wie kommt ihr darauf?“
„Wir wissen es.“
„Aber ihr habt sie doch gar nicht gefunden!“
Anna warf Jan aus den Augenwinkeln einen Blick zu, der sagte: Da hast du es, du hast ihm aus der Klemme geholfen, wir können einpacken.
„Wie bist du überhaupt entkommen?“, fragte Jan.
„Jenny hat mich im Schuppen besucht. Sie wollte Sex, aber ich hatte darauf keinen Bock.“
„Das glaubst du doch selbst nicht.“ Jan versuchte, selbstsicher zu klingen.
„Ich schwöre! Glaubst du, ich bin durch die Wand gegangen?“
„Warum hätte Jenny das tun sollen?“
Gregors Mundwinkel zuckte, doch es reichte nicht für ein Lächeln. „Weil ich verdammt gut bin.“
„Red keinen Schwach-“
„Du Wichser!“, fuhr Anna dazwischen. „Dir schneid ich die Eier ab.“ Sie entriss Jan das Messer und kniete sich vor Gregor hin.
„Hilfe!“, schrie Gregor voller Angst. „Jan! Hilf mir!“
„Anna!“ Jan zog an ihrer Schulter. „Bist du wahnsinnig?“
„Er hat sie vergewaltigt und macht sich jetzt darüber lustig! Dass es ihr so gut gefallen hat, dass sie zu ihm in den Schuppen kommt, um es sich gleich nochmal besorgen zu lassen.“
„Er ist so, das kannst du nicht ändern.“
Gregor verfolgte mit weit aufgerissenen Augen den Wortwechsel, sein Brustkorb hob und senkte sich hektisch.
Anna rammte das Messer vor Gregors Gesicht in den Boden und erhob sich. „Der Wichser hat Glück, dass du dabei bist.“
„Jetzt sei vernünftig“, sagte Jan zu Gregor. „Du siehst, wie sie darauf ist – sag lieber die Wahrheit.“
„Ich weiß nicht, wer mir die Tür aufgemacht hat“, winselte Gregor. „Ich habe geschlafen und ein Klopfen an der Wand hat mich geweckt. Ich habe ‚Hallo‘ gesagt und da hat es wieder geklopft. Danach kam nichts mehr. Ich bin aufgestanden, die Tür stand einen Spalt offen. Da habe ich einen Schreck bekommen, und dann dachte ich mir, dass mich Laura rausgelassen hat. War ja vernünftig, dass sie sich nicht zu erkennen gibt, so als Vorsichtsmaßnahme. Ich bin also aus dem Schuppen und habe überlegt, ob ich abhauen soll. Darüber hatte ich schon ein paar Mal nachgedacht und war mir nicht sicher. Ich hatte in der Nacht sogar versucht, ob ich ein paar Latten raustreten kann, so leise, dass bei dem Regen keiner aufwacht. Aber das hat nicht richtig funktioniert und eigentlich war ich erleichtert darüber.“
Gregor schaute gedankenverloren vor sich hin.
„Und dann?“, hakte Jan nach.
„Auf einmal stand ich frei auf der Wiese. Wenn Laura mir hilft, habe ich mir gesagt, muss ich die Gelegenheit nutzen. Dummerweise war die Haustür abgeschlossen. So wie’s aussah, hatte Laura nicht mitgedacht und hinter sich abgeschlossen. Also bin ich einmal ums Haus und habe mir einen Fensterladen ausgesucht, der etwas wackelte. Und gerade als ich überlegt habe, womit ich ihn möglichst geräuschlos aufstemmen kann, ist Jenny um die Ecke gekommen. Sie hat nur einmal gequiekt, dann hatte ich sie schon im Griff.“ Gregor rutschte mehr auf den Rücken, so dass er leichter zu Jan aufblicken konnte. „Ich habe ihr die Jacke ausgezogen und einen Teil davon in den Mund gestopft und ihr mit den Ärmeln die Augen verbunden und dann bin ich mit ihr ins Haus. Sie konnte kaum laufen vor Angst, dass ich ihr wirklich das Genick breche. Ich habe mich in der Vorratskammer bedient, aber nach oben zu gehen und mir einen großen Rucksack und das Gewehr zu holen, war zu riskant.“ Er schaute Jan an und schien die Geschichte für beendet zu halten.
„Stattdessen hast du dich entschieden, uns zu erpressen.“
„Ja. Ich brauchte mehr Vorräte und einen großen Rucksack. Ich wollte weit weg, dorthin, wo Anna nicht hinkommt.“
„Eben hast du noch gesagt, dass du eigentlich gar nicht fliehen wolltest. So viel Angst kannst du vor Anna nicht gehabt haben.“
„Du hast doch gesehen, wie sie eben ausgerastet ist.“
„Das konntest du heute Morgen noch nicht wissen. Deine Angst vor Anna hast du als Ausrede erfunden.“
„Vielleicht habe ich ein bisschen übertrieben, vor euch – irgendeinen Grund brauchte ich ja. Aber ich hatte schon Angst vor ihr. Sie ist nicht ganz normal.“
„Was ist danach passiert, als du den Rucksack bekommen hattest?“
„Wir sind bei dem Mistwetter über den See. Jenny hat mitgerudert. Sie hat geschnallt, dass sie das Ganze am schnellsten hinter sich hat, wenn sie kooperiert. Aber an Land hat sie auf Schneckentempo umgeschaltet. Ich habe versucht, sie anzutreiben, und sie bedroht, aber sie hat behauptet, sie gibt ihr Äußerstes, dabei habe ich genau gewusst, dass sie mich reinlegt.“ Gregor schien ihr das nachzutragen. „Was sollte ich tun? Ich habe sie ziehen lassen, auch wenn ich ziemlich wütend war. Danach kam ich besser voran. Wenn ich die zwei Stunden nicht mit ihr vertrödelt hätte ...“, er legte die Stirn in Falten und dachte nach, „Habt ihr den Rauch gesehen?“
„Ja.“
„Wenn ich auch nur eine halbe Stunde gespart hätte, ohne Jenny, hättet ihr mich nicht entdeckt.“
„Das ist ziemlich sicher richtig.“
Anna schürte das Feuer, das Gregor in einem Erdloch entfacht hatte. „Frag ihn mal, warum er abgehauen ist, als er dich niesen gehört hat!“
„Ist doch logisch“, sagte Gregor.
„Findest du?“, fragte Jan. „Mit den paar Sachen in deinen Taschen hättest du es verdammt schwer gehabt, dich in der Wildnis durchzuschlagen.“
„Ich habe nicht groß nachgedacht. Mann, ich fliehe den ganzen Tag vor euch und plötzlich seid ihr da in der Dunkelheit, das war eine Instinktreaktion wegzurennen.“
Das klang einleuchtend. Jan überlegte, womit sich Gregor noch verdächtig gemacht hatte. „Als Anna dich bedroht hat, hast du gestammelt, dass wir dich nicht bestrafen dürfen. Bestrafen wofür? Was hast du Jenny getan?“
„Ich habe sie mit einem Messer bedroht und entführt. Ist das kein Grund, mich bestrafen zu wollen?“
Jan suchte nach einer weiteren Fangfrage.
„Vergiss es, Jan.“ Das Feuer brannte heller und Anna stand auf. „Er ist zu gerissen, du kriegst ihn so nicht. Nur vorhin, als er sich vor Angst fast in die Hose gepisst hat, ist er mit der Wahrheit rausgerückt.“
Das unheimliche Fru-fru einer Eule hallte durch den Wald. Jan schaute auf. Die Dunkelheit hatte die Stelle geschluckt, von der aus sie Gregors Feuer beobachtet hatten.
„Du bist für mich verantwortlich“, sagte Gregor. „Ich bin dein Gefangener.“
„Du bist unser Gefangener“, erwiderte Jan, „und wir werden gemeinsam auf dich aufpassen.“
Er dachte daran, wie Anna mit ihm unter dem Wasserfall gebadet hatte – da hatte sie sicher nicht auf Rache gesonnen. Auch nicht danach, als sie so ausgelassen von ihren Reise-, Studien- und Ballett-Wünschen erzählt hatte. Ihre exzessive Wut rührte nicht daher, dass Gregor ihr das Leben im Tal schwergemacht und zuletzt über sie, die Ausgestoßene, hergefallen war. Was sie trieb, war die Sorge um Jenny.
Die redlichen Motive, die er ihr zubilligte, änderten nichts daran, dass sie Gregor misshandeln konnte. Jan musste über sein Wohlergehen wachen, so widerwärtig ihm Gregor war. Er bestand darauf, dass Anna die Fesseln ein wenig lockerte und Gregor auf seine Isomatte rutschen ließ. Dann nahm er den kleinen Topf mit angebranntem Reis vom Feuer, kratzte mit einem Löffel die Kruste weg und setzte neuen Reis auf.
Anna lächelte ihm zu, als wolle sie ihm versichern, dass sie sich beruhigt hatte. Er lächelte zurück, blieb jedoch verunsichert von der Aggressivität, die sie gezeigt hatte. Gestern hatte er sich ihr so nah gefühlt, dabei wusste er nicht, wer sie alles war, wer sie unter dem Druck, dem sie in diesem Tal ausgesetzt war, sein konnte.
Sie aßen, wobei Jan Gregor fütterte. Anna bot an, als Erste zu wachen. Jan ließ sich gerne darauf ein. Die Aufregung hatte seine Erschöpfung vertrieben, nun nistete sie sich wieder in seinen Gliedern ein. Er sammelte einige Armvoll Brennholz, zog sich auch die Reservekleidung an und wickelte sich in die Decke. Die Temperatur war erträglich, nur die Füße froren. Über die unangenehme Vorstellung, dass er morgen wieder seine durchnässten Wanderschuhe anlegen müsste, schlief er ein.
Geheul riss ihn aus einem Alptraum. Er brauchte einen Moment, um sich zu erklären, wieso er auf einer Isomatte draußen in der Dunkelheit lag. Es musste ein Wolf gewesen sein.
Aber es hatte anders geklungen.
Sein Herz schlug schneller. Als schliefe er noch, rollte er mit geschlossenen Augen zum Feuer, blinzelte – und fuhr hoch: Wo waren Anna und Gregor?
Im Erdloch glomm nur noch Glut. Die Isomatten und Decken und Rucksäcke lagen im Kreis darum herum. Das Gewehr fehlte.
Er richtete sich auf und horchte. Ihm war, als vernähme er erstickte Schmerzensschreie – als würde jemand in einen Knebel brüllen. Er suchte nach dem Messer, fand es nicht und kroch unbewaffnet los. Eine dichte Wolkenschicht verhüllte die Sterne, das Blätterdach über ihm war in der Schwärze kaum zu erkennen.
Die Schreie blieben aus, er hörte nur das Hämmern seines Herzens. Er hielt inne und nahm einige tiefe Atemzüge. Danach atmete er wieder flach und geräuschlos durch den Mund. Im Geäst über ihm tippelte es, sonst nichts. Mit schwindender Zuversicht, dass er sich den verstummten Schreien tatsächlich näherte, kroch er weiter über den feuchten Boden.
Plötzlich sah er ein winziges Licht, das sich bewegte: War das eine Kerze? Ja, jemand hielt sie in der Hand, eine kniende Gestalt, und da war noch jemand, schwerer zu erkennen, weil er an einen Baum gelehnt saß.
Eine fürchterliche Ahnung beschlich Jan. Er sprang auf und rannte die letzten Meter. „Anna, um Gottes willen -“ Der Anblick verschlug ihm die Sprache.
Gregor saß mit dem Rücken zu einem Stamm, an den er mit dem freien Ende des Seils gefesselt war. Das Seil führte einmal um seine Brust und einmal um seinen Hals. Die Hose war bis zu den Knöcheln hinabgezogen. Anna kniete auf seinen Beinen, in der einen Hand eine Kerze, in der anderen das Filetiermesser. Von der Spitze rann Blut die Klinge herunter. Doch das Schlimmste waren die Augen in Gregors verschwitztem, verzerrtem Gesicht: widernatürlich aufgerissen, als wollten sie herausspringen, als würde durch diese Höhlen der Schmerz hervorbrechen, den der Knebel im Mund zurückhielt.
Die Kerze entglitt Annas Hand und erlosch. Unsäglich langsam, wie eine Schlafwandlerin, ging sie auf Jan zu, das Messer in der schlaffen Hand. Die andere Hand streckte sie nach ihm aus, berührte ihn und warf sich ihm schluchzend um den Hals.
Er wusste nicht, ob er sie von sich stoßen oder umarmen sollte, und starrte auf Gregors zuckende Beine. Sie musste ihn gefoltert haben, um ihm ein Geständnis abzupressen. Wie hatte sie das tun können? Es war so unvorstellbar! Folter – das geschah in Afrika, im Mittelalter, in Mafia-Filmen. Aber seine Anna, die er liebte – sie hatte Gregor von Angesicht zu Angesicht die Haut aufgeschnitten bis ins Fleisch. Der Gedanke an die Verletzungen, die er noch nicht gesehen, nur aus dem blutigen Messer und Gregors Toben abgeleitet hatte, befreiten ihn aus seiner Lähmung. Er schob Anna von sich. Über ihr Gesicht strömten Tränen, ihr Unterkiefer bebte.
„Setz dich.“ Er reichte ihr eine Hand und half ihr dabei.
„Ich ... ich ... ich ...“
„Du kannst jetzt nichts tun.“ Er ging zum Baum und löste die beiden Knoten. Gregor sackte in sich zusammen und zur Seite, er hatte sich eingeschissen. Erst jetzt nahm Jan den Gestank wahr – als wäre sein Geruchssinn zuvor ausgefallen. So wenig Gregor für seinen Zustand konnte, empfand Jan Ekel. Gleich darauf packte ihn Mitleid – und erneutes Entsetzen über Annas Grausamkeit.
Konnte er es wagen, auch die Fesseln an den Händen zu lösen? Er nahm Messer und Gewehr vom Boden auf und brachte es Anna. „Ich binde Gregor los. Du greifst nur im äußersten Notfall ein.“
Sie nahm die Waffen wie betäubt in Empfang.
„Kann ich mich auf dich verlassen?“
„Ja“, hauchte sie.
Er ging zu Gregor, der wimmernd auf der Seite lag, und öffnete mühsam den Knoten. Sofort kauerte sich Gregor wie ein Fötus zusammen und barg den Kopf in seinen Händen. Das Zucken breitete sich auf den ganzen Körper aus – vermutlich hatte er zuvor den Oberkörper stillgehalten, weil er nicht begriffen hatte, dass Jan das Seil um seinen Hals bereits entfernt hatte.
Jan widerstand dem Reflex davonzulaufen und ging in die Hocke. Jetzt musste er funktionieren, seine Pflicht erfüllen. Er durfte sich vom Sturm der schwarzen Gedanken und Gefühle nicht mitreißen lassen. „Gregor, hörst du mich? Du bist in Sicherheit, dir wird nichts mehr geschehen. Ich passe auf dich auf.“
Er hastete zu ihrer Lagerstätte am Feuer und kehrte beladen zurück. Zunächst goss er Wasser auf eines von Gregors T-Shirts und wischte ihn notdürftig an Hintern und Beinen sauber. Gregor jaulte und wand sich. Dann legte Jan die Isomatte aus und zog Gregor in mehreren Anläufen darauf. Schließlich deckte er ihn zu und wusch seine Hände.
Anna schaute unverändert vor sich hin, das Gewehr auf ihrem Schoß, die Arme um die Knie geschlungen. Jan war dankbar, dass sie litt. Hätte sie ihm ihr versteinertes Gesicht gezeigt, er hätte es nicht ausgehalten.
Er ließ sich neben ihr nieder, schob das Gewehr zur Seite und legte einen Arm um ihre Schulter. Sie schluchzte, schnappte nach Luft und brachte schließlich heraus: „Ich musste das tun. Wegen Jenny.“
„Du hast nicht geglaubt, dass er sie gehen lassen hat?“
Sie machte eine winzige Kopfbewegung, die nicht zu deuten war.
„Hat er gestanden?“ Jan hielt den Atem an. Konnte Gregor Jenny ermordet haben?
„Er hat sie geschlagen, weil sie nicht schnell genug ging, und das hat ihn in Fahrt gebracht“, antworte Anna tonlos. „Dann hat er sie vergewaltigt. Als er mit ihr fertig war, hat er sie gehen lassen, behauptet er. Und dass sie unverletzt gewesen ist.“
Jan wusste nicht, wie er die Nachricht aufnehmen sollte. Er verspürte ein unangemessenes Gefühl: Erleichterung, dass dieser leidende Haufen Mensch, der zusammengekrümmt vor ihm lag, schuldig war. Gregors Tat entlastete Anna.
„Er hat schon einmal ein Mädchen missbraucht, eine Fünfzehnjährige“, fuhr Anna fort. „Sie waren beide betrunken, sie ist mit ihm nach Hause, hat mit ihm rumgemacht und wollte dann keinen Sex. Danach ist sie mit ihren Eltern zur Polizei. Aber Gregors Vater hat ihr Geld gegeben und sie hat die Aussage zurückgezogen. Allerdings musste Gregor die Schule wechseln.“
„Hat er gesagt, wer ihn befreit hat?“
„Er hat die Latten rausgetreten, ist ins Freie gekrochen und hat sie wieder befestigt. Nur zwei Nägel hat er in der Dunkelheit nicht gleich gefunden, deshalb ist eine Latte lose geblieben.“
„Hat er noch mehr gestanden?“
„Er ist sonst bei dem geblieben, was er davor gesagt hat.“
„Was ... hast du mit ihm gemacht?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Du musst es mir sagen.“
„Ich kann es dir nicht sagen. Ich weiß es selbst nicht mehr.“
Er schaute ungläubig in ihre flehenden Augen.
„Wirklich, es ist wie ausgelöscht.“
„Aber du erinnerst dich an das, was er gesagt hat.“
Sie blickte irritiert. „Ja, das schon. Aber nicht, wie er es gesagt hat, nur den Inhalt. Seltsam.“
„Wie hast du mit der Folter begonnen?“
„Ich weiß es nicht. Ich habe ihn in den Wald geführt, weil er pinkeln wollte. Und dann ... keine Ahnung.“
„Das kann doch nicht sein! Wie willst du dich an das, was er gesagt hat, erinnern, aber sonst an nichts?“
„Ich weiß es nicht“, schluchzte sie.
Er gab auf und ging zu Gregor, der die Augen geschlossen hielt und leise Klagelaute von sich gab. Wie hatte er es unterlassen können, Gregors Verletzungen zu untersuchen? Er war zu feige gewesen! Natürlich hatte er auch Blut von Gregor abgewaschen – aber er hatte die Verwüstung, die Anna am Unterleib angerichtet hatte, nicht sehen, nicht wahrhaben wollen.
Widerstrebend hob er die untere Hälfte der Decke an. Blut färbte die Oberschenkel dunkel. Er beugte den Kopf tief herab, um etwas zu erkennen. Das Glied war aufgequollen, das Blut kam aus mehreren schmalen Einstichen rundherum. Er unterdrückte einen Würgereiz und legte die Decke über Beine und Füße.
Dann zog er Gregor die Decke bis zur Gürtellinie herunter. Abgesehen von den Striemen am Hals, die das Seil verursacht haben musste, wirkte Gregor unverletzt. Jan bedeckte ihn wieder, nahm Gewehr und Messer an sich und machte sich daran, sämtliche Sachen aus dem Gebüsch zu ihrem neuen Standort zu verfrachten. Anna half ihm stumm. Am Grund des Erdlochs hatte sich Glut gehalten. Es gelang ihnen, einen Ast zum Brennen zu bringen und an ihrer neuen Lagerstätte ein Feuer zu entzünden. Jan agierte wie in Trance, er brauchte seine Emotionen nicht länger fernzuhalten. In ihm war es still wie in einem Sarg.
Im Licht des Feuers inspizierte er Gregor nochmals. Das Glied war von Brandblasen entstellt. Er erklärte Gregor, dass er ihn waschen müsse und das wehtun werde. Probehalber ließ er einige Wassertropfen auf das Glied fallen. Gregor schlug um sich. Sie mussten ihn fesseln und gemeinsam festhalten, um seine Wunden notdürftig zu reinigen. Es war eine scheußliche Prozedur, und als sie fertig waren, erbrach Jan.
Er spülte seinen Mund aus und setzte sich ans Feuer. Anna legte sich hin und jammerte schlaftrunken, dass sie die Folter nicht geplant habe, das sei einfach über sie gekommen, sie könne sich selbst nicht mehr an den Moment erinnern, als sie sich dazu entschlossen hatte. Er versuchte, seinem übermüdeten Gehirn eine Antwort abzuringen, doch Annas Augen hatten sich bereits geschlossen, die Stirn sich geglättet.
Er hatte sie geliebt, die schöne, geheimnisvolle Tänzerin, die stolze, selbstgenügsame Außenseiterin und die kindlich Hingerissene, die manchmal hervorlugte wie über eine innere Gefängnismauer. Was sollte er aus Anna der Jägerin machen, die selbst vor Folter nicht zurückschreckte? Er konnte nicht bestreiten, was Gregor gesagt hatte: dass sie nicht normal war.
Er blieb am Feuer sitzen, um Wache zu halten – für wen, gegen wen, das wusste er nicht mehr recht. Irgendwann erlöste auch ihn der Schlaf.