4.
Karem war sichtlich beeindruckt von der Größe des Schlosses. Meterhohe, aus Felsblöcken geschlagene Mauersteine türmten sich weit in den Himmel hinauf. Die kleine Stadt, die sich an den Hügel vor dem Schloss schmiegte, wirkte dagegen winzig.
Wachen patrouillierten auf den Wehrgängen, ihre glänzenden Rüstungen funkelten im Sonnenlicht. Über allem wehte das königliche Banner von einem sanften Westwind bewegt.
Das große Tor des Schlosses war offen, die Zugbrücke, die einen tiefen, aber trockenen Graben überspannte, war herabgelassen. Trotzdem konnte sich Karem nicht des Eindrucks erwehren, dass er eine Festung betrat, die sich im Kriegszustand befand.
Zwischen all den Menschen, die aus der Burg hinaus- oder in sie hineindrängten, waren immer wieder Wachen zu sehen, die die Menschenmenge im Auge behielten.
Die Hufe der Pferde klapperten dumpf auf dem Holz, als sie die Zugbrücke überquerten.
Vor dem Tor kam ein Leutnant der Schlosswache auf sie zu. Offensichtlich kannte er Sara, denn seine Verbeugung deutete tiefen Respekt an.
»Ich grüße Euch, Prinzessin. Euer Oheim, der König war besorgt über Euer Ausbleiben und hat sich Sorgen gemacht. Ich wurde angewiesen, Euch direkt zu ihm zu führen.«
»Ich würde gern noch meine Gemächer aufsuchen, mich erfrischen und umkleiden«, erwiderte Sara kühl.
»Es tut mir leid, Prinzessin«, meinte der Leutnant unbeeindruckt. »Aber ich habe meine Befehle. Folgt mir bitte.«
Ohne auf weitere Einwände zu warten, wandte er sich um und durchschritt das Tor. Sara seufzte resigniert.
Sie und Karem folgten dem Soldaten auf ihren Pferden.
Hohe, mit Kriegsszenen bemalte, runde Decken überspannten den prunkvollen Raum. An den Wänden hingen Waffen aller Art. Rüstungen waren aufgestellt und wirkten bedrohlich. Der Boden war mit einem kunstvollen Mosaik belegt, welches das Wappen der königlichen Familie zeigte. Obwohl durch die großen, bleigefassten Fenster genug Tageslicht einfiel, brannten Fackeln in metallenen Halterungen.
Am Ende des Raumes stand der Thron des Herrschers, der aus dem Stamm einer alten Schwarzeiche geschnitzt war. König Canai saß darauf und blickte seiner Nichte und dem fremden, jungen Mann neugierig entgegen. Er trug den roten, bestickten Mantel, den die Könige Denans schon seit Generationen umlegten, über einer funkelnden, goldenen Rüstung. Langes, an den Schläfen ergrautes Haar fiel auf seine Schultern herab und unterstrich die markanten Gesichtszüge. Obwohl der König schon weit über fünfzig Jahre alt war, wirkte er aufgrund seiner schlanken Gestalt noch immer jugendlich.
Neben ihm stand sein Berater Heidar, ein mittelgroßer Mann mit einem leichten Hang zur Fettleibigkeit, dem man aber die muskulöse Statur des Kriegers noch immer ansah. Auch seine Haare waren lang, aber im Nacken zu einem Pferdeschwanz gerafft.
Außer den beiden Männern befand sich nur die persönliche Leibgarde des Königs im Raum, die schwer bewaffnet, mit ausdruckslosen Mienen, hinter dem Thron Aufstellung genommen hatte.
Sara trat vor, beugte das Knie zu einem höfischen Knicks. Karem, der nicht wusste, wie er sich verhalten sollte, verneigte sich. Canais kalte Augen musterten ihn ohne jede Regung.
»Ich grüße dich, Onkel«, sagte Sara.
»Wo bist du gewesen? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Du hättest schon gestern hier eintreffen müssen. Wo ist Lurd, dein Diener?«
»Er wurde von Räubern getötet. Wir wurden überfallen.« Ihre Hand deutete auf Karem. »Dieser Mann rettete mich, bevor man mir Gewalt antun konnte. Sein Name ist Karem.«
Der König wandte sich an ihn. »Dann ist dir das Reich zu großem Dank verpflichtet. Du wirst eine angemessene Belohnung für diese edle Tat erhalten.«
»Es bedarf keiner Belohnung, Herr. Das Leben und die Unversehrtheit Eurer Nichte ist Belohnung genug.«
»Weise gesprochen.«
Sara erhob sich. Ihr Gesicht glühte vor Aufregung.
»Onkel, bitte sieh dir seine rechte Hand an. Karem zeig ihm deine Hand.«
Karem ging einen Schritt auf den König vor. Augenblicklich reagierten die Gardesoldaten und zogen ihre Waffen blank. Eine Handbewegung Canais beruhigte sie.
Karem streckte den rechten Arm aus, so dass der König seine Hand betrachten konnte, die er anschließend zu einer Faust ballte. Der Zeigefinger blieb unbeweglich.
»Und?«, fragte der König.
Sara trat neben Karem. »Siehst du es denn nicht, Onkel? Er hat den gleichen Geburtsfehler, wie du und mein Vater ihn haben. Sein Zeigefinger besteht nur aus einem Knochenstück. Es ist der körperliche Makel unserer Familie.«
»Was willst du damit sagen, Sara?«
Sie holte tief Luft, bevor sie antwortete. »Er könnte Larin, mein Bruder sein, der vor über zwanzig Jahren entführt wurde.«
Karems und des Königs Kopf ruckten herum. Beide starrten sie verblüfft an.
Schließlich war es der König, der das Wort ergriff. »Sara, ein steifer, rechter Zeigefinger bedeutet noch lange nicht, dass es sich bei diesem jungen Mann um deinen vor langer Zeit entführten und getöteten Bruder handelt.«
»Aber Onkel ...«, versuchte Sara einzuwenden.
»Hör mir gut zu, Kind. Dein Bruder, meine Neffe, ist tot! So traurig diese Wahrheit für uns ist, müssen wir sie doch akzeptieren.«
»Sein Zeigefinger ...«
»Ich gebe zu, das ist ein merkwürdiger Zufall, und dein Retter hat sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit deinem Vater, aber in diesem Reich gibt es viele Männer seines Alters mit braunen Haaren, und dass sich jemand darunter befindet, der über einen nicht beweglichen Finger verfügt, ist nicht so ungewöhnlich. Wer weiß, vielleicht ist dieser Makel ja auch auf eine ferne Verwandtschaft zurückzuführen. Wer waren deine Eltern?«, wandte sich Canai an Karem.
»Händler ohne feste Heimat.«
»Du siehst also, selbst dieser junge Mann, glaubt deine Phantastereien nicht. Ich habe seine Reaktion beobachtet. Er wirkte sehr überrascht!«
»Das war ich, Herr«, pflichtete Karem bei. »Ich wusste nichts von ihren Vermutungen.«
»Dich trifft keine Schuld! Im Gegenteil, du hast dich sehr verdient gemacht.«
»Aber es könnte doch sein!«, ließ Sara nicht locker.
Zum ersten Mal wirkte der König zornig. »Nein, es kann nicht sein. Neben mir steht Heidar. Er selbst tötete den Mörder deines Vaters und deines Bruders. Bevor er starb, gestand der Verräter Korek seine Schandtat.«
»Das ist richtig, Sire. Es waren seine letzten Worte«, stimmte der Berater zu.
»Du siehst also ...« Canai machte eine unbestimmte Handbewegung, die den ganzen Raum einschloss. »Außer dir glaubt niemand daran.«
Saras Gesicht hatte eine beschämte Röte angenommen. Sie fühlte sich gedemütigt und lächerlich gemacht. Sie war, als ihr Vater damals gestorben war, zwar erst vier Jahre alt gewesen, aber sein gütiges Gesicht stand noch heute vor ihrem geistigen Auge. Karem sah ihm mehr als nur ein bisschen ähnlich. Die Ähnlichkeit beruhte auch weniger auf dem äußeren Erscheinungsbild, sondern lag vielmehr im gleichen Mienenspiel und in der Art, sich zu bewegen. So eine Übereinstimmung, wenn man dabei auch noch den körperlichen Makel bedachte, konnte kein Zufall sein oder mit einer entfernten Verwandtschaft abgetan werden.
Aus irgendeinem Grund wollte ihr Onkel die Wahrheit nicht erkennen.
»Aus Anlass deiner sicheren Rückkehr werde ich heute Abend ein feierliches Mahl bereiten lassen«, riss sie der König aus ihren Gedanken. »Der ganze Hof wird zugegen sein. Also bitte sei pünktlich! Du darfst dich jetzt zurückziehen. Sorge bitte dafür, dass dein Retter angemessen untergebracht wird. Auch ihn erwarte ich, heute Abend zu sehen.«
Mit diesen Worten wurden Karem und Sara entlassen.
Als sie gegangen waren, wandte sich Heidar an seinen König.
»Er könnte tatsächlich der vermisste Thronerbe sein!«
»Ja!« Canai lächelte freudlos. »Und genau deswegen muss er sterben!«
Das Festessen war vorüber, und die Hofmusiker begannen, zum Tanz aufzuspielen. Karem schob seinen fast noch gefüllten Teller, auf dem sich knusprig gebratenes Geflügel, gebackener Fisch und gespicktes Wild befanden, von sich. Er hatte kaum einen Bissen zu sich genommen.
Hier unter den vornehm gekleideten Menschen des Hofadels wurde ihm seine Unzulänglichkeit nur allzu bewusst. In der Sklaverei hatte er zum Essen nur einen Löffel benutzt. Da seine Mahlzeiten meist aus Hirsebrei bestanden hatten, war ihm die Tatsache, dass man neben einem Messer auch noch eine Gabel zum Aufspießen der Fleischstücke verwenden konnte, vollkommen fremd.
Er hatte versucht, durch Beobachtung von den anderen Teilnehmern des Abendmahles zu lernen, sich aber dabei so ungeschickt angestellt, dass das Fleisch vom Teller rutschte, was gut gemeintes, aber trotzdem verletzendes Gelächter der anderen Gäste am Tisch zur Folge hatte. Nach fünf Versuchen hatte er es aufgegeben und die neugierigen Fragen einer dicklichen, alten Frau mit Doppelkinn in einem viel zu engen Kleid beantwortet, die zwischen den Worten schnaufend ganze Berge von Essen verdrückte.
Sara saß auf der ihm gegenüberliegenden Seite. Ein vornehm gekleideter Kaufmann in mittleren Jahren saß neben ihr und hatte Probleme, seine Augen von ihrem großzügig ausgeschnittenen Kleid zu nehmen, das ihren vollendeten Busen mehr betonte als bedeckte.
Der König hatte am oberen Tischende Platz genommen. Karem bemerkte immer wieder, dass der Herrscher ihn heimlich beobachtete. Als er ihm bei einem erneuten Blickkontakt zulächelte, wandte Canai abrupt den Kopf ab und vertiefte sich in ein Gespräch mit seinem Berater.
Die Musik wurde fordernder. Die ersten Gäste erhoben sich von ihren Plätzen und begannen zu tanzen. Sara wurde von dem Kaufmann aufgefordert, schlug aber sein Angebot aus, stattdessen kam sie zu Karem herübergeschlendert.
Karem erhob sich höflich. Innerlich betete er verzweifelt, dass Sara nicht nach Tanzen zumute war, denn er fand, dass er sich für einen Tag genug blamiert hatte.
»Komm mit!«, flüsterte sie ihm unauffällig zu. Ohne seine Reaktion abzuwarten, wandte sie sich um und durchschritt den großen Saal, den sie durch eines der offen stehenden Tore verließ. Karem folgte ihr in den Gang hinaus.
Im Gegensatz zum hell erleuchteten Saal herrschte hier ein Halbdunkel, das nur von flackernden Fackeln unterbrochen wurde. Der tanzende Lichtschein schuf groteske Wesen aus ihren Schatten, als sie dem Gang folgten. Sara presste den Zeigefinger auf ihre Lippen, um ihm zu signalisieren, er möge sich leise verhalten.
Über eine breite Treppe aus Marmorstein gelangten sie auf ein höheres Stockwerk. Waffen in großer Vielfalt hingen an den Wänden, dazwischen waren Porträts früherer denanischer Herrscher aufgehängt. Ohne zu zögern, ging Sara zu einer brennenden Fackel und nahm sie aus der Halterung. Sie schritt vor ein besonders beeindruckendes Gemälde und hielt die Fackel so, dass der Lichtschein es ausleuchtete.
Ein großer, hagerer Mann mit tief eingeschnittenen Gesichtszügen war darauf abgebildet. Sein eisengraues Haar fiel bis weit auf seine Schultern und die durchdringenden braunen Augen schienen sich auf den Betrachter zu heften. Der Mann trug den blutroten Mantel des Herrschers. In seinen Händen lag das berühmte Schwert Drachenzahn, bei dem sich der Künstler besonders viel Mühe gegeben hatte, die augenfälligen Details noch mehr hervorzuheben.
»Das ist unser Vater!«, hauchte Sara.
Karem wandte seinen Blick ab. Seine Augen erforschten Saras Gesicht, aber er sah nur Aufrichtigkeit darin.
»Nein, Sara!«, widersprach er. »Das ist dein Vater. Mein Vater war ein einfacher Messerschleifer und Händler.«
»Du glaubst mir nicht?«, meinte sie verzweifelt.
»Sara, vor nicht langer Zeit war ich noch ein Sklave und jetzt soll ich der vermisste Sohn eines Königs sein? Nein!« Er schüttelte den Kopf. »Das ist eine Geschichte für die Legenden und Balladen, aber das wirkliche Leben sieht anders aus. Lass uns jetzt zurückgehen, bevor jemandem unser Fehlen auffällt.«
Sie hatte Tränen in den Augen. »Bitte glaub mir doch! Ich fühle es, du bist mein Bruder. Es kann kein Zufall sein, dass wir uns begegnet sind. Das Schicksal wollte, dass du es bist, der mich findet und errettet.«
Er legte seine Arme zärtlich um sie und zog ihren Kopf an seine Brust.
»Das Schicksal ist nichts weiter als eine Kette seltsamer Zufälle. In der Arena entscheiden manchmal Kleinigkeiten über Leben und Tod. Ein guter Mann stirbt, weil das Lederband, das seine Sandalen hält, zerreißt und er daraufhin ins Stolpern kommt. Wäre meine Familie damals eine Stunde später auf diese Hochebene gekommen, würden sie heute noch leben und ich wäre nie Sklave geworden. Nein, es gibt kein Schicksal, keine Götter, die über unser Leben bestimmen und an den Fäden ziehen. Wir selbst und nicht voraussehbare Zufälle sind es, die all die Fäden verknüpfen oder zerschneiden, die uns mit dieser Welt und seinen Menschen verbinden.«
Sara schwieg. Sie griff nach seiner Hand und drückte sie stumm.
Aus der unten liegenden Halle drang leise Musik nach oben. Es war eine unwirkliche Nacht, geschaffen, um Menschen Glück oder einen Fluch zu bringen.
Karem konnte die kommende Veränderung in seinem Leben spüren.
Vielleicht würden sich die Dinge endlich zum Guten wenden.
Als das Fest endlich vorüber war, hatte Karem todmüde das ihm zugewiesene Zimmer aufgesucht. Hastig hatte er sich entkleidet und sich dann völlig erschöpft auf das Bett geworfen. Seit seiner Kindheit hatte er nicht mehr in einem Federbett geschlafen. Die angenehme Weichheit der Matratze ließ ihn sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf sinken.