2.

 

Lelina hatte den Namen des Ortes, in dem sie aufgewachsen war, nie vergessen. Farwen lag in der Nähe einer größeren Stadt, und eine bekannte Handelsstraße führte mitten durch das Dorf hindurch, so dass ihnen viele der Menschen, denen sie unterwegs begegneten, den Weg weisen konnten.

Die dunklen Wälder lagen hinter ihnen. Seit Tagen war es stetig bergauf gegangen, und nun lag eine weite, grüne Hochebene vor ihnen.

Ein kleiner, silbern schimmernder Fluss schlängelte sich durch sanfte Hügel, auf denen Rinder und Schafe weideten. Die Sonne schien weich auf diese friedliche Landschaft herab und ließ Lelina all die Schrecken vergessen, die hinter ihr lagen.

Das Haus ihres Vaters lag außerhalb des Ortes inmitten eines kleinen Birkenhaines. Das mit Holzschindeln bedeckte Dach wirkte verwahrlost, und die Hecke, die den Garten umschloss, war größer geworden, aber ansonsten hatte sich nichts verändert; alles war noch so, wie sie es in Erinnerung hatte.

Als sie den schmalen Pfad hinauf zum Haus gingen, sah Lelina ihren Vater zum ersten Mal seit über zehn Jahren. Er stand neben der Scheune. In seiner rechten Hand baumelte eine Axt, während er mit der linken ein großes Eichenscheit auf dem Holzklotz zurechtrückte. Die Axt funkelte im Licht, als er das Scheit spaltete.

Er hatte sie noch nicht entdeckt und fuhr unbeirrt in seiner Tätigkeit fort. Lelina betrachtete ihn liebevoll. Er war noch der gleiche groß gewachsene Mann, auch wenn er sich jetzt etwas gebeugt hielt und in seinem langen, schwarzen Haar und dem dunklen Vollbart vereinzelt Silbersträhnen aufblitzten. Sein Gesicht hatte durch den Kummer scharfe Linien um die Mundwinkel bekommen und Lelina sah, dass die Last der Zeit auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen war.

Karem stand stumm neben ihr. Lelina blickte ihn fragend an. Seit langer Zeit zeigte sich zum ersten Mal wieder ein Lächeln auf seinem Gesicht. Karem nickte ihr zu.

Mit großen Schritten, die immer schneller wurden, rannte sie ihrem Vater entgegen. Der Mann blickte auf. In seinem Gesicht zeichnete sich Ratlosigkeit ab. Er erkannte sie nicht. Für ihn war das kleine Mädchen, das einmal seine Tochter gewesen war, vor über zehn Jahren gestorben.

Hilflos, mit hängenden Armen, blieb Lelina vor ihm stehen.

»Ich bin es, Vater«, sagte sie leise.

Die Furchen auf seiner Stirn wurden tiefer, aber dann glitt ein Hoffnungsschimmer über sein Gesicht.

»Lelina?«

»Ja, Vater.«

»Lelina!«, rief er freudig aus. Die Axt fiel zu Boden. Mit ausgebreiteten Armen ging er auf sie zu. Alles an ihm drückte vollkommenes Glück aus. Lelina warf sich an seine breite Brust.

Sie weinte vor Erleichterung, während ihr Vater ihr sanft über das Haar strich, so wie er es schon getan hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Seine Stimme flüsterte immer wieder ihren Namen.

Lange standen sie so da und genossen die verloren geglaubte Nähe des anderen. Schließlich löste sich Lelina aus seiner Umarmung.

»Vater, ich möchte, dass du jemanden ...«

Die Worte erstarben auf ihren Lippen, als sie sich umwandte.

Karem war gegangen.

 

Karem versank vollkommen in Verzweiflung. Der Anblick Lelinas und ihres Vaters hatte einen glühenden Dolch in sein Herz gerammt.

Crom hatte seine Familie gefunden. Lelina war heimgekehrt.

Für ihn gab es kein zu Hause mehr. Die Menschen, die er einmal seine Familie genannt hatte, waren seit langer Zeit tot. Es gab keinen Ort, an den er zurückkehren konnte. Die zehn Jahre Sklaverei hatten seine kindliche Erinnerung ausgelöscht.

Das Schwert in der Scheide schlug unangenehm gegen seine Seite, während er die Straße, die in den Wald zurückführte, hinunter rannte, aber er beachtete es nicht. Über sein Gesicht liefen die Tränen, die er so lange zurückgehalten hatte. Nun endlich konnte er weinen.

Djoran, Medak, Marga, Gram, Masak, Kulan, Threm, Rao und Hersan tot. Pinius, Crom und Lelina für immer aus seinem Leben getreten. Die Einsamkeit nahm ihm die Luft zum Atmen.

Wohin sollte er gehen? Was sollte er tun?

Er hatte kein Handwerk erlernt. Er hatte keinen Besitz außer den Kleidern und den Waffen, die er trug. Bald würde der spärliche Rest seines Geldes verbraucht sein, dann würde der Hunger kommen.

Im besten Fall konnte er sich als Söldner im Dienst eines gierigen Fürsten verdingen, bis er getötet oder zu alt zum Kämpfen wurde. Dann wäre seine Zukunft wieder in Blut geschrieben, und das verzweifelte Kreischen der Verwundeten und Sterbenden würde nachts in seinen Ohren gellen.

Karem rannte, bis ihn die Erschöpfung zwang, stehen zu bleiben, aber auch dann flossen die Tränen weiter.

 

 

Das Flüstern des Windes
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