3.
Korek näherte sich der Burg.
Nur noch ein Fußmarsch von knapp einer Stunde lag vor ihm und er hoffte, dass das Wirtshaus noch geöffnet war, so dass er einen kräftigen Schluck trinken konnte.
Sein Gesicht verzog sich zu einem verächtlichen Grinsen. Trula, der fette Besitzer des Eisernen Riesen würde Augen machen, wenn er endlich seine Schulden bezahlte. Vielleicht sollte der Mann ihn in Zukunft mit etwas mehr Respekt behandeln. Korek war sich sicher, dass sich Trula von nun an zweimal überlegte, bevor er ihn aus der Kneipe warf, wenn er wieder einmal kein Geld hatte. Gold konnte so Einiges bewirken. Es konnte einen schöner, jünger und in seinem Fall würdevoller machen.
Er trat gerade hinter einer großen Korkeiche hervor, als sich mit einem hässlichen Zischen ein gefiederter Bolzen in seine Brust bohrte. Vollkommen verblüfft starrte er auf seinen schmutzigen Mantel, wo rund um den Pfeil Blut aus der Wunde sickerte. Seltsamerweise verspürte er keinen Schmerz.
Einen Augenblick lang überlegte er, was dieser Pfeil in seinem Körper zu suchen hatte, als ein zweiter Armbrustbolzen seinen Hals durchschlug. Mit einem leisen Ächzen fiel er nach hinten.
Seine Glieder zitterten noch, als mehrere Soldaten aus den Büschen hervorkamen und auf ihn zugingen. Er versuchte, sich aufzurichten, aber alle Kraft hatte ihn verlassen. Nun kam auch der Schmerz. Mit heißen Wellen überspülte er seinen Geist. Korek hatte das Gefühl, innerlich zu verbrennen, während sein Mund vergeblich nach Sauerstoff keuchte.
Zwei groß gewachsene Männer ragten über ihm auf.
Korek erkannte, dass sie Uniformen trugen, die gleiche Ausrüstung, die auch er einmal voller Stolz getragen hatte. Ihre Gesichter leuchteten unheimlich im Schein einer entzündeten Fackel, die nun über ihn gehalten wurde.
»Das ist er! Das ist Korek!«, sagte eine tiefe Stimme.
Der Pferdewirt verstand jedes Wort mit absoluter Klarheit, so als käme die Stimme direkt aus seinem Kopf.
»Du hättest nicht gleich schießen sollen, Heidar«, meinte ein anderer Soldat vorwurfsvoll. »Jetzt können wir ihn nicht mehr befragen!«
»Er lebt noch, also können wir ihn auch verhören!«
Eine Hand schoss vor und packte Korek am Kragen.
»Wo ist das Kind, du Hundesohn?«
Korek spürte nun, dass er starb. Ein seltsamer Friede erfasste ihn und trug ihn aus dieser Welt. Mit einem Lächeln auf den Lippen glitt er in die ewige Finsternis.
Ein gnädiger Nebel war aufgezogen und umhüllte das Kind, das trotz der kühlen Feuchtigkeit eingeschlafen war. Hinter den kleinen Augenlidern zuckten die Pupillen. Der Prinz erlebte den ersten Traum seines noch jungen Lebens.
Nicht weit entfernt von dem Säugling war eine alte, einsame Wölfin auf der Suche nach Nahrung. Ihr Rudel hatte sie wegen ihrer Gebrechlichkeit und ihrer Nutzlosigkeit bei der Jagd verstoßen, und so trottete das große, graue Tier durch das hohe Gras, die Schnauze über den Boden haltend und versuchte, die Spur einer Maus oder eines Kaninchens zu finden.
Die Feuchtigkeit und der Umstand, dass Windstille herrschte, zwangen sie dazu, die Lichtung planmäßig abzusuchen. Ein tiefes Knurren entrang sich ihrer Kehle, als sie die Fährte eines Rehbocks aufnahm, der an dieser Stelle schon vor Stunden vorbeigekommen und längst weitergezogen war.
Hinter den hohen Tannen erschienen nun die ersten Strahlen des neuen Tages.
Die Wölfin wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb, etwas Essbares aufzuspüren, bevor sie sich zum Schutz tiefer in den Wald zurückziehen musste.
Plötzlich nahm sie Witterung auf. Der Geruch fuhr ihr beißend in die Nase. Mensch! Es roch nach Mensch! Sie wollte schon kehrtmachen und zurück zu den an der Lichtung stehenden Büschen hetzen, als sie bemerkte, dass kein Geräusch zu hören war.
Menschen, mochten sie auch noch so gefährlich sein, bewegten sich stets laut und unbeholfen durch den Wald, so dass man ihnen mit etwas Glück entkommen konnte, bevor sie einen selbst entdeckten. Die Stille verwirrte das Tier. Die Ohren zuckten.
Schließlich trieb sie der Hunger dazu, der entdeckten Spur nachzugehen. Sie kreuzte mehrfach die Fährte, um herauszufinden, in welche Richtung der Mensch sich bewegt hatte. Als sie sicher war, dass er weiter auf die Lichtung vorgedrungen war, presste sie ihre Schnauze dicht über das feuchte Gras und trabte weiter. In regelmäßigen Abständen leckte sie an einem Grashalm, um festzustellen, ob die Fährte ihre Frische behielt, dabei fiel ihr auf, dass der gleiche Geruch sich stellenweise überlagerte. Der Mensch war also wieder auf seiner eigenen Spur zurückgegangen. Zögernd blieb sie stehen.
In ihrem einfachen Bewusstsein wechselte die Gier nach Nahrung mit der Angst vor dem unberechenbaren Feind, der aus großer Entfernung töten und verletzen konnte.
Mehrere Minuten lang kreiste sie unentschlossen auf der Stelle. Sie wollte gerade die Suche fortsetzen, als ihr ein wilder Schmerz durch den Hinterlauf fuhr. Jaulend schoss sie herum.
Ein zweiter Stein prallte an ihren Schädel, und nun hetzte die Wölfin als ein flacher, grauer Schatten davon und verschwand im Dickicht des Waldes.
Zwischen den hohen Bäumen auf der anderen Seite der Lichtung tauchte ein zwölfjähriger Junge auf. In seiner rechten, herabhängenden Hand baumelte eine Lederschleuder. An seinem Gürtel hingen die mageren Körper zweier Kaninchen. Auf seinem Gesicht lag ein befriedigtes Grinsen.
Als er sich abwandte, hörte er ein ungewöhnliches Geräusch. Neugierig pirschte er näher. Schon nach wenigen Metern entdeckte er das Kind. In eine alte Decke gewickelt lag es im feuchten Gras. Als er sich zu ihm herabbeugte, begann es, fürchterlich zu schreien.
Gram schob dem Säugling einen Finger zwischen die Lippen, so wie er es immer bei seiner jüngeren Schwester Marga getan hatte, als diese sich nicht beruhigen wollte. Das Baby griff nach dem Finger und saugte heftig daran. Gram lächelte und hob das Bündel auf. Mit für sein Alter großen Schritten stapfte er zurück zum Nachtlager seiner Familie.
Djoran, Grams Vater, war gerade dabei, das Lager abzubauen, als sein Sohn mit dem Bündel aus dem Wald trat. Eigentlich war Gram sein Stiefsohn, ebenso wie Marga nicht seine richtige Tochter war. Djoran hatte vor sieben Jahren Medak, ihre Mutter, eine Kriegerwitwe, die die beiden Kinder mit in die Ehe gebracht hatte, geheiratet. Er hatte diesen Entschluss nie bedauern müssen.
Ein Lächeln glitt über sein markantes Gesicht und wischte den angespannten Ausdruck weg, den die große Narbe erzeugte, die von seiner Stirn über die gesamte rechte Gesichtshälfte bis zum Mundwinkel lief.
Der Mann, dem er diese Verwundung verdankte, lag nun schon seit über zwölf Jahren in einem feuchten Grab und seine Gebeine vermoderten ebenso wie die hundert anderer, die sich ihm in den Weg gestellt hatten.
Djoran war einmal ein großer Krieger gewesen, aber nach fünfzehn Jahren im Dienst des Fürsten von Haal, hatte er angewidert dem Kriegshandwerk den Rücken gekehrt, das nur aus Tod und Zerstörung bestand. Menschen, die er gekannt und geliebt hatte, waren auf den Schlachtfeldern gestorben, und das nur, weil die Mächtigen ihre Auseinandersetzungen nicht mit Worten und Verhandlungen, sondern mit dem Schwert führen wollten.
Sein Lehnsherr hatte sich verzweifelt bemüht, Djoran zum Bleiben zu bewegen, aber die Armee, die er jetzt führte, hatte nichts mehr mit dem Heer gemeinsam, in das er vor vielen Jahren stolz eingetreten war. Alle waren sie tot!
Lot, der ewige Spaßvogel, der so gut mit dem Messer umgehen konnte.
Hasrat, der Riese, dessen gewaltige Körperkraft jede Vorstellungskraft sprengte.
Und natürlich Beik, sein jüngerer Bruder, der auf der Ebene von Selak mit einem Speer im Rücken gestorben war.
Viele, an deren Namen er sich nur noch undeutlich erinnern konnte, waren in Schlachten gefallen, die so sinnlos waren, dass es ihn graute, überhaupt daran zu denken.
Nachdem niemand von der alten Truppe, außer ihm, übrig geblieben war, hatte er in die pausbäckigen Gesichter der neuen Rekruten, die er ausbilden sollte, geblickt und dort nur Unschuld entdeckt. Er lehnte das großzügige Angebot seines Fürsten ab und gab sich mit der kargen Abfindung zufrieden, die ihm für fünfzehn treue Jahre zustand. Sollte ein anderer die Lämmer zur Schlachtbank führen.
Von dem Geld hatte er sich den Wagen und das nicht mehr ganz junge Pferd gekauft, und nun zog er schon seit langer Zeit als fahrender Händler und Messerschleifer durch das Land.
Vor sieben Jahren hatte er in Medak eine gute Frau gefunden. Sie und die Kinder, die sie mitgebracht hatte, waren nun das Licht seines Lebens, und er hatte inneren Frieden gefunden und sich mit seinem Schicksal versöhnt.
Gram und Marga betrachteten ihn wie ihren leiblichen Vater. Ihre Erinnerung an den Mann, der sie gezeugt hatte, war längst verblasst, und selbst Djoran konnte sich nicht mehr vorstellen, dass sein Leben einmal einsam gewesen war.
Sein Blick hob sich von den Holzstangen, mit denen die große Plane aufgespannt war, als Gram das Lager betrat. Ohne ein Wort zu sprechen, trat der Zwölfjährige vor ihn und schlug die Decke des Bündels zurück. Das rosa glänzende Gesicht eines Säuglings kam zum Vorschein. Die großen Augen blickten stumm zu dem ehemaligen Krieger auf.
»Ich habe das Kind unweit von hier auf einer Lichtung gefunden«, beantwortete Gram die unausgesprochene Frage. Seine Hand deutete in die Richtung, aus der er gekommen war.
Djorans schwarze Augenbrauen zogen sich misstrauisch zusammen.
»War niemand in der Nähe?«
»Nein, Vater. Ich glaube, es wurde ausgesetzt!«
Ein ärgerliches Zischen entwich dem Mund des Messerschleifers. Die Zeiten waren hart für jedermann. Das Land erholte sich nur mühsam von den Wunden der letzten Kriege, und es kam immer häufiger vor, dass Neugeborene ausgesetzt wurden. Djoran hatte auf seinen Reisen oft davon gehört, den Erzählungen aber nur wenig Glauben geschenkt. Nun sah er mit eigenen Augen, dass es Menschen gab, die in ihrer Armut so verzweifelt waren, dass sie ihre Kinder dem Hungertod preisgaben.
Hinter den beiden kletterte Medak aus dem Wagen. Neben ihr stand Marga und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Die Frau hatte die Unterhaltung mitgehört. Wortlos trat sie näher. Als sie das Kind sah, glitt ein Schimmern über ihr Gesicht.
Sie nahm Gram den Säugling aus der Hand und schlug die Decke ganz zurück.
»Es ist ein Junge«, sagte sie. Ein seltsames Vibrieren lag in ihrer Stimme.
»Und?«, wollte Djoran wissen.
»Nichts und! Wir werden ihn aufziehen!« In den Worten lag eine Endgültigkeit, die Djoran mitteilte, dass Medak fest entschlossen war, ihren Willen durchzusetzen, aber er grollte ihr nicht. Medak war eine geduldige Frau, die jeden Schicksalsschlag stumm ertrug, aber wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie nicht mehr davon abzubringen.
Sein Blick wanderte erneut zu dem Findelkind. Er würde einen weiteren Sohn haben, und diesmal konnte er die Entwicklung eines neuen Menschenlebens von Anfang an verfolgen. Ohne sich dessen bewusst zu sein, begann er zu lächeln.
Medak bemerkte dieses Lächeln. Ein Gefühl der Wärme und Zuneigung für diesen harten Mann, der so ein weiches Herz hatte, überströmte sie.
»Wie soll dein Sohn heißen?«, fragte sie Djoran.
»Karem!« Ohne zu überlegen, hatte er den Namen seines Großvaters gewählt, der ihn aufgezogen hatte, nachdem sein Vater, ein Krieger, den er kaum gekannt hatte, in einer unbedeutenden Schlacht gefallen war.
Gram zerstörte die anschließende Stille, als er die beiden Kaninchen, die er erlegt hatte, vom Gürtel löste und hochhob.
»Heute werden wir nicht hungern müssen!«, erklärte er strahlend.
Djoran betrachtete das als gutes Omen. Ein langer Weg lag vor ihnen, denn heute wollten sie durch die finsteren Wälder ziehen, um dieses Reich zu verlassen. Gefahr lag in der Luft.
Er konnte es am Jucken seiner Narbe spüren.