11.
Karem sprang von der Liege auf, als Pinius seine Unterkunft betrat. Schweiß lief trotz der Abendkühle seinen Nacken hinunter und sein linkes Augenlid zuckte nervös.
Zwei Wochen waren seit ihrem großen Sieg in der Arena vergangen. Zwei Wochen lang hatte er seinen Ausbilder angefleht, zu Tiveritus, Pinius ehemaligem Kampfgefährten und jetzigem Freudenhausbesitzer, zu gehen und nach dem Kaufpreis für Lelina zu fragen. Pinius hatte ihm gut zugeredet, gebeten, die Sache zu vergessen, schließlich hatte er seinen Schüler sogar angebrüllt, aber Karem hatte nicht lockergelassen. Mochte ihn Pinius auch noch so oft wegschicken, er kam immer wieder und stellte die gleiche Frage.
Als Karem nun in die grauen Augen seines Ausbilders sah, wusste er schon, dass dieser keine guten Nachrichten mitbrachte.
»Wie viel?«, fragte er leise.
Pinius seufzte. »Tiveritus verlangt einhundert Goldsesterzen!«
Karem, der als Sohn eines Händlers, den Wert der römischen Goldmünzen kannte, fluchte gotteslästerlich. Einhundert Goldsesterzen waren ein unverschämt hoher Preis.
»Mein Freund sagt, sie sei ihr Gewicht in Gold wert. Alle Männer Roms, die es sich leisten können, verlangen nach Lelina«, erklärte Pinius.
»Wie komme ich an so viel Geld?«, grübelte Karem.
Pinius holte entsetzt Luft. »Du denkst immer noch nicht daran, aufzugeben?«
»Niemals!«, antwortete der junge Mann bestimmt.
»Hör mir zu, Karem!« Pinius setzte sich auf Karems Liege und zog ihn zu sich herunter. »Du bist für mich wie ein Sohn geworden und ich möchte dir einen Vorschlag machen. Halt! Bitte, lass mich ausreden!«, wehrte er Karems Versuch ab, seinen Redefluss zu unterbrechen. »Bleib bei mir! Werde Hilfsausbilder! In ein paar Jahren, wenn ich genug Geld gespart habe, gehe ich zurück in meine Heimat, dann kannst du die Leitung der Gladiatorenschule übernehmen.«
»Was ist mit Hamib?«
»Hamib ist ein guter Mann, aber er wäre nie fähig, diese Aufgabe zu erfüllen.«
»Und du glaubst, der Imperator wäre mit deiner Wahl einverstanden?«
»Der Kaiser wird annehmen, was ich vorschlage. Bitte, du musst mir nicht sofort antworten, aber überleg dir meinen Vorschlag! Du hättest ein Heim und ein bescheidenes Auskommen.«
Karem lachte bitter auf. Als er sah, dass diese Reaktion Pinius kränkte, legte er ihm die Hand auf die Schulter. »Danke, Pinius! Danke für alles! Dein Vorschlag ehrt mich, aber ich habe für den Rest meines Lebens genug Tod und Blut gesehen. Ich könnte es nicht ertragen, junge Männer wie Masak, Kulan, Hersan, Rao oder Threm in den Tod zu schicken.«
»Denkst du, mir wäre es leicht gefallen?«
»Nein, Pinius! So gut kenne ich dich inzwischen.«
»Du willst also Lelina?«
Karem nickte stumm.
»Dann gibt es nur eine Möglichkeit für dich.«
»Was muss ich tun?«
In Pinius grauen Augen lag eine tiefe Traurigkeit, als er antwortete. »Du musst zurück in die Arena!«
Fünf Stunden lang war Karem wie ein unruhiges Tier über den Hof gewandert. Tief in seinem Inneren wusste er, dass er sich der Tatsache stellen musste, dass es nur in der Arena für ihn die Möglichkeit gab, so viel Geld zu verdienen.
Karem hatte immer gedacht, nur Sklaven und Gefangene würden zu Gladiatoren ausgebildet, dass es auch freie Bürger gab, die diesen Weg wählten, war ihm neu. Pinius hatte ihm versichert, dass das gar nicht so ungewöhnlich sei. In Rom gab es genügend Sklaven und Gefangene für die Arena, aber in den größeren und mittleren Städten des Reiches herrschte ständig starke Nachfrage nach guten Kämpfern. Dort war man dazu übergegangen, von den Bürgern Eintritt zu verlangen, mit denen man die Kämpfe finanzierte. In Rom war der Kaiser der Geldgeber, der mit den Spielen das Volk bei Laune halten wollte.
Pinius hatte ihm versprochen, eine Liste von Städten anzulegen, in denen regelmäßig Kämpfe ausgetragen wurden. Weiterhin wollte der Ausbilder ihm ein Empfehlungsschreiben mitgeben, das ihm Unterkunft und Verpflegung in den Gladiatorenschulen des Reiches zusicherte. Trotzdem, es war hoffnungslos.
Karem hob sein Gesicht zum wolkenverhangenen Himmel und ließ den feinen Nieselregen darüber strömen. Es gab ein Problem, hatte ihm Pinius erklärt. Karem war als Kämpfer ein Niemand, ohne den Ork als Kampfpartner würde wohl kaum jemand dafür bezahlen, ihn in der Arena zu sehen. Hinzu kam, dass Karem keine eigene Ausrüstung besaß. Der Lederschutz, der Schild, das Schwert, ja selbst die Sandalen waren Besitz des Kaisers, und gute Waffen kosteten viel Geld. Geld, das Karem nicht besaß.
Er überlegte, ob er Crom überhaupt danach fragen konnte, mit ihm wieder in die Arena zu ziehen, zu kämpfen und das Risiko einzugehen, verletzt oder gar getötet zu werden. War es moralisch vertretbar, dass er einen Freund um etwas bat, dass für diesen keinerlei Vorteile, sondern nur Nachteile hatte?
Aber ohne Croms Hilfe würde Lelina Sklavin bleiben und sich bis ans Ende ihres Lebens fremden Männern hingeben müssen.
Karem schlug energisch mit der linken Faust in seine geöffnete rechte Handfläche. Er musste mit Crom darüber sprechen! Einen anderen Weg gab es nicht.
Crom lag im hinteren Teil des alten Pferdestalles und döste, wie so oft, vor sich hin. Fliegen summten um seinen mächtigen Schädel, ohne dass er es bemerkte.
Der Gestank im Stall war einigermaßen erträglich. Trotzdem sog Karem zweimal hintereinander die Luft scharf ein. Crom war einfach nicht dazu zu bewegen, sich zu waschen. Er hatte eine natürliche Abneigung gegen Wasser und rieb seine lederartige Haut stets nur mit Sand ab.
Der Ork erwachte sofort, als sich Karem ihm näherte. Seine Augen öffneten sich schläfrig und er entblößte seine Oberlippe zu einem Lächeln.
Karem setzte sich zu ihm. Lange betrachtete er seinen fremdartigen Freund. Schließlich raffte er seinen ganzen Mut zusammen und sagte: »Crom, ich muss dich etwas fragen. Es ist sehr wichtig für mich, aber um mich zu verstehen, muss ich dir erst die ganze Geschichte erzählen.«
Crom richtete sich erwartungsvoll auf. Er liebte es, wenn man ihm Geschichten erzählte, mochten sie traurig oder lustig, wahr oder erfunden sein, die Hauptsache war, die Erzählung war interessant und wurde spannend vorgetragen. Dann stützte das riesige Wesen seinen schweren Kopf auf die mächtigen Pranken und lauschte verzückt wie ein kleines Kind mit verträumten Augen.
Karem schluckte schwer. Zuerst stockend, dann aber flüssig, erzählte er von seiner ersten Begegnung mit Lelina an Bord des Sklavenschiffes, wie sie sich gefunden und während der einsamen Stunden aneinander geklammert und getröstet hatten. Als Karem von ihrer zweiten Begegnung berichtete, lächelte der Ork auf seine eigenartige Weise. Schließlich war alles gesagt, die entscheidende Frage, ob Crom mit ihm nochmals in der Arena kämpfen würde, gestellt.
Croms schwere Hand legte sich auf Karems Schulter.
»Ich gehe dahin, wohin du gehst, Freund! Karem kämpft in der Arena, dann auch Crom kämpft!«
»Aber ... aber du könntest sterben!«
Croms Blick bohrte sich in Karems Augen. »Vor vielen Jahren, ein kleiner Junge hilft Crom. Crom schon lange tot, wenn dieser Junge nicht hilft. Jetzt dieser Junge ist ein Mann. Ich bezahle eine alte Schuld.«
»Du schuldest mir nichts«, widersprach Karem.
»Ich schulde dir alles. Wir werden kämpfen. Wir werden siegen!«
Der Tag ihrer Abreise war gekommen. Es war noch früh am Morgen, und in der Gladiatorenschule hatte das tägliche Training noch nicht begonnen. Der Hof lag einsam und verlassen unter einem dunklen Himmel.
Karem ließ seinen Blick schweifen. Über ein Jahr hatte er hier verbracht. Geschwitzt, geflucht, gelacht und wahre Freundschaft kennen gelernt. Er sah den hölzernen Krieger, an dem Threm mit dem Fangnetz geübt hatte, die Hindernisbahn, die sie täglich mehrfach überquert hatten, um ihre Muskeln zu stählen und die Gelenke geschmeidig zu machen.
Hier hatte er so etwas wie eine Heimat gefunden. Er hatte unter Männern gelebt, die so waren wie er, die ihn auch ohne Worte verstanden hatten.
Masaks fröhliches Lachen klang noch heute in seinen Ohren. Er sah Threms ruhiges Wesen vor sich und seine Art, jemanden anzublicken. Kulan, groß und stark, übte vor seinem geistigen Auge mit dem Schwert. Er erinnerte sich an Hersan, den Schafhirten, der ebenso wie Rao ein unwürdiges Ende in der Arena gefunden hatte.
Sie alle waren tot und würden nie wiederkehren. Dieser Ort war nicht mehr der gleiche wie noch vor wenigen Wochen. Eine seltsame, nichtgreifbare Traurigkeit umgab ihn, die auch durch das Lachen der neuen Rekruten nicht verdrängt werden konnte.
Aus dem Haupthaus kam Pinius auf Karem und Crom zu. Er zog eine kleine, vierrädrige Holzkarre hinter sich her. Als Karem neugierig näher trat, erkannte er, dass seine Ausrüstung und die des Orks auf den Wagen geladen waren.
Pinius lächelte verlegen. Seine Hand deutete schüchtern auf den Karren.
»Ich kann euch doch nicht unbewaffnet losziehen lassen.«
»Aber ich dachte, die Ausrüstung gehört dem Kaiser?«
Der Ausbilder grinste verschmitzt. »Es kann schon mal vorkommen, dass Waffen stumpf und unbrauchbar werden. Und auch eine Lederrüstung kann durch falsche Behandlung brüchig werden.« Er nahm Karems Schwert aus dem Wagen. Die Klinge glänzte makellos. »Dieses Schwert zum Beispiel hat gestern ein Rekrut dummerweise mit voller Wucht gegen ein Eisenschild geschlagen. Jetzt ist es schartig und für den Kampf unbrauchbar.«
Crom brummte irgendetwas Unverständliches. Pinius hob mit einiger Mühe die riesige Axt des Orks heraus. »Von dieser Axt ganz zu schweigen!«, ächzte er. »Das dumme Tier, dem es gehörte, hat versäumt, es zu pflegen. Nun ist es vollkommen rostig.«
Crom nahm ihm die Axt aus der Hand. Sein breites Gesicht spiegelte sich im Axtblatt. »Diese Waffe zerstört. Crom nimmt sie mit. Vielleicht ein Händler gibt ein paar Kupferstücke dafür.«
»Ja, nimm sie mit!«, lachte Pinius. »Ich kann sie leider nicht mehr gebrauchen. Ihr wisst ja, dieses dumme Tier ...«
Karem wusste nicht, was er zur Großzügigkeit seines Ausbilders sagen sollte. Schweigend legten er und der Ork ihre Ausrüstung an und befestigten die Waffen.
Schließlich trat Karem vor Pinius. In seinen Augen schwammen Tränen, als er den fast kahlköpfigen Mann an sich drückte.
»Danke!«, flüsterte er.
Pinius machte sich sichtlich verlegen frei. »Hier ist der Geleitbrief an die anderen Leiter der Gladiatorenschulen. Den Wegplan hast du ja. Vergiss nicht, den Ring des Kaisers über den Finger zu streifen und trag immer die Urkunde bei dir, die versichert, dass du und Crom freie Menschen sind. Und nun geh!«
Crom kam auf ihn zu und drückte ihn gegen seine breite Brust.
»Bei den Göttern, ich dachte, du willst mich umbringen!«, schnaufte Pinius, als ihn der Ork wieder freigab.
Karem und Crom wandten sich um. Es gab nichts mehr zu sagen. Mit großen Schritten gingen sie auf das Tor zu, das sie in eine unbekannte Zukunft führte.
Pinius stand noch lange auf dem Hof und starrte ins Leere. Als es zu regnen begann, ging er mit hängendem Kopf zurück ins Haus.